„Die alte und die neue Liebe“

„Die alte und die neue Liebe“
„Die alte und die neue Liebe“

Erst durch Jesus haben wir erfahren, was wirkliche Liebe ist. Bei Ihm tritt sie ungetrübt und unmißverständlich in Erscheinung. Jesus hebt damit auch die alte Vorstellung von der Liebe auf.

Die Liebe zu Gott ist in der Welt des Alten Testamentes eine Forderung, eine Pflicht. Wie alle Gebote des Gesetzes beginnt auch das Gebot zu lieben mit „du sollst!“. Nirgends aber wurde dem Menschen gesagt, wie diese Liebe entstehen kann und wie er dazu fähig wird. Das Gebot mußte ihn in Angst versetzen. Keiner wußte damals schon deutlich, wie groß die Liebe Gottes zum Menschen ist.

Noch schwieriger aber war das Gebot - „und deinen Nächsten wie dich selbst“ - zu erfüllen. Ausgangspunkt der Nächstenliebe war also die Eigenliebe – der Egoismus. Gewiß, die Energie der Selbstliebe ist ungeheuer groß. Wie gelingt es aber, diese alles durchsetzende Eigenliebe so umzuwandeln, daß sie auf den andern, den Nächsten, gerichtet werden kann?

An diesen beiden Geboten, so sagt Jesus, hängt das Gesetz und die Propheten. Hier liegt also nicht das ewige Leben, die Erlösung, sondern das Gesetz. Dieses Gesetz ist wie ein Zaun, der die Menschen voneinander trennt und abgrenzt, damit sie nicht über sich herfallen wie Raubtiere. Die Liebe zu Gott macht uns überhaupt erst zu Menschen. Sie zeigt uns die Verantwortung, indem sie uns darauf aufmerksam macht, daß uns jemand beobachtet und zur Rechenschaft zieht. Ohne diese Liebe zu Gott ist der Mensch nur ein höher entwickeltes Säugetier. Wer kein Verhältnis mehr zu Gott hat, verliert auch das rechte Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Der gottlose und damit lieblose Mensch ist unberechenbar, da er ja keine verpflichtende höhere Instanz anerkennt.

Die Liebe zum Nächsten, wie sie das Gesetz befiehlt, hilft mir selbst nach der Ordnung: wie du mir, so ich dir. Sie ist also Selbstzweck. Wenn ich den anderen liebe, dann kann ich auf Gegenliebe rechnen. Wenn ich ihn hasse, dann kann ich sicher sein, auch gehaßt zu werden. Dieses Gebot, das höchste Gebot im Alten Testament, zeigt keine Hilfe, sondern ist nur eine Grenze, eine Bewahrung vor Schlimmerem. Es ist die Notverordnung Gottes, die den gefallenen Menschen bewahrt, sich gegenseitig umzubringen. Darin zeigt sich die Schwäche dieser alten Liebe: Die alte Liebe ist auf das Diesseits gerichtet. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Am krassesten aber offenbart sich die ganze Unzulänglichkeit dieses Gebotes, wenn ich, der ich Ausgangspunkt dieser Liebe sein soll, mich selbst nicht mehr lieben kann! Wie kann ich, wenn ich mich selbst verachte oder sogar hasse, einen anderen noch lieben - „lieben wie mich selbst?“

Jesus schenkt uns eine neue Liebe! Sie ist das neuen Gebot Jesu an seine Jünger. Interessanterweise offenbart er dieses Gebot nur seinem engsten Jüngerkreis – Joh. 13:34:

Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben sollt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt. (Joh 13:34, Schlachter)

Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, gleichwie ich euch geliebt habe.(Joh 15:12, Schlachter)

Hier hat die Liebe einen neuen Mittelpunkt – Jesus nämlich. So wie ich euch liebe, sollt ihr euch auch lieben. Damit gewinnt die Liebe nicht nur einen neuen Maßstab, sondern auch eine neue Quelle. Sie ist unabhängig von mir. Sie ist demnach nicht vergänglich, sie ist unabhängig von meiner Kraft oder meiner Schwäche – unabhängig von Stimmungen. Jesus ist derselbe – gestern, heute und in Ewigkeit. Damit ist auch seine Liebe gleichbleibend und deshalb vollkommene Liebe. Ich liebe nun nicht mehr, weil ich lieben muß, sondern weil ich geliebt werde. Ich liebe mit der Liebe, mit der ich geliebt bin. Die Energie meiner Liebe liegt nicht in mir, sondern in Jesus. Je mehr ich mich von ihm lieben lasse, desto mehr bekomme ich die Fähigkeit, weiterzulieben. Die einzige Verpflichtung für mich besteht darin, mich von Jesus lieben zu lassen. Nichts ist aber leichter als dies! Seine Liebe ist immer zuerst da. Je mehr ich mich dieser Liebe aussetze, desto mehr erfüllt sie mich und durchdringt mein eigenes Leben. Wer sich von Jesus lieben läßt, empfängt etwas vom Himmel, etwas von Gott selbst. Was geschieht, wenn die Liebe Jesu mich erreicht?

Viele Christen haben die Liebe Jesu Tag für Tag in Anspruch genommen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie haben gute Gaben, Bewahrung in Gefahren, Wegführungen und Gemeinschaft mit Gläubigen genossen, ohne darin Gottes Liebe zu sehen und in sich aufzunehmen. Sie sind wie ein Stein im Wasser innerlich trocken geblieben.

(Wilhard Becker, „Angriff der Liebe“, 1963)

Kommentare