Missverständnisse um die „Liebe“

Zeitzeuge

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses; so ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.

Und dieses [sollen wir tun] als solche, die die Zeit verstehen, dass nämlich die Stunde schon da ist, dass wir vom Schlaf aufwachen sollten; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir gläubig wurden.
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe. So lasst uns nun ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts!(Rö 13:9-12, Schlachter).

Missverständnisse um die „Liebe“

Die Fähigkeit zu lieben ist die Fähigkeit, von sich selbst weg auf eine andere Person oder Sache zu sehen. Dieser Vorgang geschieht beim Menschen bewußt und willentlich im Gegensatz zum Tier. Sicher gibt es beim Tier auch Anhänglichkeit, wir denken an die „Treue“ eines Hundes. Hier liegt aber keine bewußte Entscheidung vor, sondern eine triebhafte Beziehung die nicht willentlich entstanden ist.

Es gibt aber noch eine Reihe von anderen Beziehungen, die das Wort Liebe in Anspruch nehmen. Da ist zunächst die Sympathie. Sie beruht zumeist auf unbewußten seelischen Kontakten und Ähnlichkeiten und hat an sich noch keinen moralischen Wert. Ich möchte sie in die Reihe der „Scheinliebe“ stellen. Dazu gehört auch die Sentimentalität, die mit echter Liebe nichts zu tun hat. Auch das Verliebtsein hat oft wenig mit echter Liebe zu tun. Es ist vor allem in der Pubertätzeit ein vorübergehender Zustand, der seine Ursachen im Körperlichen hat. Sexualität muß auch nicht unbedingt etwas mit Liebe zu tun haben. Es gibt eine eiskalte Sexualität frei von jeder höheren Bindung und Verantwortung. Diese gerade in unserer Zeit so viel gerühmte Abart der Liebe bringt den Menschen nahe an den Rand des Tierischen. Ihr ausgeprägtes Merkmal ist die Verantwortungslosigkeit. Der andere wird zum Objekt der Befriedigung degradiert.

Woran kann man echte Liebe von der falschen unterscheiden? Es gibt einige untrügliche Merkmale. Die unechte Liebe, die Scheinliebe, ist echogebunden. Sie ist abhängig von Gegenliebe. Sie schlägt in Haß um, wenn sie nicht auf eine positive Antwort stößt. Ein weiteres Merkmal ist ihr Schwanken und Unbeständigsein. Unechte Liebe ist abhängig von Stimmungen und Gefühlen. Sie ist (weil sie im Körperlichen ihren Ursprung hat) z. B. abhängig von unserem Gesundheitszustand. Sie unterliegt unserer Laune und Lust. Unechte Liebe erkennt man daran, daß sie immer nur haben will. Sie lebt vom Nehmen, nicht vom Geben. Sie denkt nur an sich, will den anderen oder das andere besitzen und darüber bestimmen. Falsche Liebe zeigt sich manchmal sogar in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Sie wollen das Kind für sich behalten, sie wollen es regieren und beherrschen. Sie sind erbost, wenn sich das Kind von dieser Bevormundung freimacht. Sie verstehen nicht, daß es zur Persönlichkeitsbildung notwendig ist, sich von der Mutter und von den Eltern zu lösen. Diese Entbindung geschieht erstmalig bei der Geburt, muß sich aber, damit aus dem Kind ein reifer Mensch werden kann, immer wiederholen – jedesmal wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Unechte Liebe ist egozentrisch. Sie liebt, um geliebt zu werden. Das Ich steht im Mittelpunkt.

Echte Liebe hat immer etwas von der Art der Liebe Gottes an sich. Sie ist selbstlos und beständig. Sie will nicht haben, sondern geben. Sie will nicht glücklich werden, sondern glücklich machen. Sie sieht in der Entfaltung des andern, des geliebten Menschen, das größte Glück. Sie ist nicht abhängig von Gegenliebe, nicht echogebunden.
„Die Liebe höret niemals auf“ (1.Kor 13, 8). Echte Liebe ist ewig, weil sie vom Ewigen herkommt. Am reinsten kann sich diese Liebe in unserem Verhältnis zu Gott entfalten. Hier ist ihr Ursprung, und hier können wir sie am besten empfangen und in uns Gestalt gewinnen lassen.

(Wilhard Becker, „Angriff der Liebe“, 1963)