„Verführte Entsagung“

„Verführte Entsagung“
„Verführte Entsagung“

Franziskus führte das Leben eines reichen jungen Mannes, bevor er sich mit Frau Armut verband; Augustin gab sich einem leichtfertigen Leben hin, ehe er darauf verzichtete. Beide können wirklich von Verzicht sprechen, weil sie die Genüsse des Lebens voll ausgekostet hatten, auf die sie später verzichteten. Meine Leser werden sicher verstehen, wie heikel dieses Thema ist. Sie könnten sich fragen, ob ich nicht schließlich jeden zur Sünde ermutige, nur damit er nachher auf seine Sünde verzichten könne. Auf diese Weise formuliert, wäre aber das Gesetz der beiden Verhaltensweisen absurd, weil ja jedermann sündigt.

„Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer“(Römer 3:10).

Das Unglück einer moralischen Erziehung besteht gerade darin, daß dem Kind einsuggeriert wird, es könne sich von der Sünde fernhalten, vorausgesetzt, daß es sich einer gewissen Anzahl von gebührend katalogisierten Dingen enthalte.

Heißt das nun, es sei vergeblich oder gar gefährlich, den Kindern religiöse Wahrheiten, sittliche Gesetze und fromme Übungen beizubringen? Das glaube ich keineswegs. Wenn man die Kinder in totaler Freiheit und in Unkenntnis der sittlichen und geistigen Forderungen des Lebens aufwachsen ließe, beraubte man sie sogar jener Auflehnungsmöglichkeit oder wenigstens jener Möglichkeit der Jugendkrise, durch welche sie hindurchmüssen, bevor sie einen persönlicheren Glauben finden. Wenn aber diese Krisis erfolgt, ist es wichtig, sie zu respektieren und anzunehmen, als einen primären Vorgang, der die Bedingung zu einer Rückkehr zum Glauben und zu einer bewußteren Anerkennung dieser unvermeidlichen Forderungen des Lebens ist. Das Kind wird seine Krisis gerade dann überwinden, wenn er seinen Zweifeln und seiner Auflehnung Ausdruck verleihen, wenn es verwerfen kann, was man ihm eingeimpft hatte. Dann aber wird man merken, daß die in sein Herz gelegten Samenkörner nicht vergeblich ausgestreut worden sind.

So stellte der Apostel Paulus die Gnade dem Gesetz gegenüber, aber er distanziert sich trotzdem nicht von den Grundsätzen des Gesetzes und verleumdet es nicht. „So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus“ (Galater 3:24), schreibt er. Das ist das richtige Wort. Der primäre Vorgang ist ein Zuchtmeister, ein Weg der Vorbereitung. Ob es sich nun um eine erlernte und auferlegt Moral handelt, in einem Alter, wo das Kind diese noch nötig hat; ob es sich um die Selbstbehauptung und Auflehnung handelt, im Alter der Verantwortungsübernahme; ob es sich um die Prüfung durch Krankheit und um die durch sie gestellten Fragen handelt; oder ob es um die in der psychotherapeutischen Behandlung gemachte Selbstenddeckung und Selbstbejahung geht: Immer sind es Erfahrungen, die als Vorbereitung für eine andere Erfahrung dienen: das Erlebnis der Hingabe, das viel größer und viel dauerhafter ist, aber ohne jene Vorbereitungen nicht möglich wäre.

Ein Klosterbruder hatte eine außerordentlich wohlbehütete Kindheit gehabt. Eine fromme, liebevolle und keineswegs moralistische, wunderbare Mutter hatte in ihm von frühester Jugend an eine sehr lebhafte Neigung zu einem geistlichen Leben erweckt. Unter diesen Umständen war es nicht nötig gewesen, ihm die weltlichen Vergnügungen zu untersagen. Er hatte gar kein Verlangen danach. Sein einziges Glück war die Gemeinschaft mit Gott. Daher waren ihm die Kämpfe erspart geblieben, durch die alle seine Altersgenossen hindurch mußten, namentlich um den Versuchungen sexueller Vorstellungen zu widerstehen. In gewissem Sinne ist das ein Vorrecht. Er konnte mehrere Jahre in der Welt draußen sein und sah kaum ihre Gefahren, wohlbehütet durch seine kindliche Unschuld. Aber es ist auch ein Unglück; denn das Erwachen war furchtbar. Viele Jahre später erwachten in ihm die sexuellen Begierden. Er war damals zum Prior ernannt worden, und die Geständnisse der Mönche weckten erst seine Neugierde und führten dann zu Versuchungen, denen er erlag.


(Dr. Paul Tournier, „Geborgenheit Sehnsucht des Menschen&ldquozwinkerndes Smiley

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