weiße TaubeChrist sucht Christ Logo ohne Taube

Mitten im Leben

Mitten im Leben
Mitten im Leben

„Ich steh‘ ja noch mitten im Leben: Mann, Kind, Beruf,“ seufzte meine Freundin,“ da bleibt nicht viel Zeit für mich.“
„Mitten im Leben,“ träume ich,“ da stünde ich auch gerne!“

Aber ich habe keinen Mann (mehr) und aus diätetischen Gründen bisher darauf verzichtet, mir einen zu backen.
Ich habe keinen Beruf (mehr) und aus medizinischen Gründen ein Gutachten, das meine Unfähigkeit attestiert, mir mein Brot selbst zu erwerben.
Meine Kinder sind aus dem Haus und aus pädagogischen Gründen verzichte ich darauf, ihnen täglich ein Care Paket mit Pausenbroten zu schicken.

Aus der Perspektive meiner Freundin stehe ich also offensichtlich nicht (mehr) mitten im Leben.
Was mir per se sowieso klar sein sollte, weil das mit dem Stehen bei mir schon lange nicht mehr richtig gut funktioniert.
Darum sitze oder liege ich immer häufiger.
Aber wo eigentlich im Leben?
Und warum nicht (mehr) mittendrin?
Und warum will ich überhaupt mitten im Leben stehen?
Da stand ich doch schon einmal (wenn ich mich denn der Definition meiner Freundin anschließen will) und hatte damals paradoxerweise eben so wenig Zeit, wie sie. Für mich. Zum Leben.
Und wer bestimmt überhaupt, wo das ist: “mitten im Leben“?

Mein 55. Geburtstag war ein guter Anlass für eine persönliche Standortbestimmung: Wo bin ich und wo will ich sein?

Sozial betrachtet gehöre ich zur Randgruppe der schwerbehinderten Menschen, beruflich gesehen bin ich bereits am Ende meiner Karriere angelangt und wenn ich ganz ehrlich bin und die Kerzen auf meiner Geburtstagstorte zähle, hat mein Leben (rein statistisch) seinen Zenit überschritten und ich sitze auf dem absteigenden Ast.

Da wäre ich, doch lieber jung, erfolgreich und gesund.

Fakt ist aber, dass es auf dem Riesenrad des Lebens mit mir unweigerlich bergab geht und das schon eine ganze Weile.
Ich werde immer mehr zur Randerscheinung, wie ich da so in meiner Gondel auf dem Weg nach unten sitze, Zeit habe dem Fahrtwind nachzuspüren, Flickversuche zu unternehmen, um die Risse, die die Stürme in meinem Leben hinterlassen haben, irgendwie zusammenzuhalten und ab und zu einen atemberaubenden Ausblick auf den Sonnenuntergang zu genießen.

Auf eine Sonne, die in den letzten 55 Jahren jeden Morgen zuverlässig wieder aufgegangen ist. Ganz gleich, wo ich gestanden, gesessen oder gelegen habe.

Oft sitze ich allein in meiner Gondel. Und bin dankbar, dass sie ein friedlicher Ort ist mit einem gut gefüllten Kühlschrank.
Dass sie so klein ist und ich nicht so viel zu putzen habe.
Und dass ich es mit mir selbst dort meistens ganz gut aushalten kann.
Ich bin froh, dass meine Gondel Türen hat, die ich öffnen kann für Gäste, so dass ich nicht einsam sein muss. Durch die ich auch (noch?) humpeln kann, so dass ich meine kleine Welt verlassen (und andere in ihren Gondeln besuchen) kann. Und ich bin froh, dass ich diese Türen (noch?) allein schließen kann.

Ich weiß um die Zerbrechlichkeit meines kleinen, langsamen Alltages. Und um die Kostbarkeit eines einfachen, „normalen“ Tages.

Zurzeit scheint mir mein Leben am Rand dieser hektischen Welt gar kein so schlechter Ort zu sein, um mitten in meinem eigenen Leben zu stehen. (Oder auch zu sitzen.) 😉

Die mangelnde Stehkraft (Trägheit 😉 ) meines Körpers und die Fliehkraft (lateinisch: Zentrifugalkraft) dieser sich rasant um sich selbst drehenden Welt hat mich an ihren Rand, in eine Außenseiterposition gedrückt. Vom Zentrum fliehen lassen.

(Gott sei Dank habe ich einen Zufluchtsort beim Zentraldesigner des Universums.)

Und hier habe ich im Überfluss, was ich selten hatte, als ich selbst noch „mitten im Leben“ stand, den Stoff, aus dem das Leben gewebt ist, etwas, das heute absolute Mangelware und Luxusgut ist:

Zeit.

Und Leben.




Kommentare

 
Engelslhaar 05.10.2020 09:35
Danke für dieses berührende Zeugnis
Wie oft jammere ich im Alltag über irgendwelche Nichtigkeiten
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 09:38
Sehr schön formuliert ... 
danke, daß du uns so eng teilhaben läßt an deinem Leben   😍
 
Schirin 05.10.2020 09:56
@ Engelshaar: ich versuche zunehmend mein Jammern durch Klagen zu ersetzen. Es tut gut, dass Gott mich hört. 
 
Engelslhaar 05.10.2020 10:08
Ja, wir dürfen vor Gott alles aussprechen!
Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft auf deinem Lebensweg!
Du kannst für viele hier Vorbild sein!
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 10:25
Danke Schirin für deinen Blog..
 
Schneeball 05.10.2020 10:36
Nicht nur "Sprach und Schreibkünstlerin" - wie neulich mal jemand meinte - nein :
Eindeutig : Lebenskünstlerin ! Und was für eine ! Sei gesegnet - Du Liebe !!!!!
 
Joanne 05.10.2020 10:36
@Schirin

Du hast es wunderbar formuliert, was wohl jeden von uns irgendwann einholt, wenn wir nicht "mitten aus dem Leben" in die Ewigkeit gerissen werden, sondern zu denen gehören, die älter und alt werden dürfen.
Vieles ist mit zunehmender Reife / Alter entspannter und ruhiger - wenn man es nehmen kann - und vieles wird beschwerlicher oder sogar unmöglich. Manches daran tut weh und Manches fühlt sich nach Freiheit an.
So hat wohl jede Jahreszeit im Leben ihre Reize und Freuden, aber auch ihre Beschwernisse und Plagen. 
Und nur, weil wir nicht mehr so sehr im Rampenlicht des irdischen Lebens stehen, bedeutet es nicht, dass wir nicht mehr im Leben stehen würden. Selbst dann, wenn wir mehr sitzen oder liegen müssen als früher 😉 
So, wie du es so treffend beschrieben hast, ist es eher eine Frage dessen, was man unter Leben versteht.

Heute bin ich dankbar dafür, dass mein Leben an Geschwindigkeit und - oftmals von außen aufgezwungener Fülle - verloren hat und aber an Ruhe und Tiefe gewonnen und auch an innerer Fülle zugenommen hat. Leben ist mehr, als ständig beschäftigt zu sein. Sein...  in der Gegenwart / im Augenblick....  dieses Ich-Bin-Gefühl....  großartig!

Ich wünsche allen einen gesegneten Wochenstart.... 🙂
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 10:39
Guten Morgen schirin!

Ihr Schreiben hat mich sehr berührt - wie auch die anderen Diskussionsfaden - Besucherinnen. Als meine Frau noch lebte, durfte ich erleben, dass auch mit schwerer Behinderung ein sinnvolles, mit Freuden versehenes Leben möglich ist. Trotz vieler Einschränkungen und Schmerzen.

Möge Gott uns sinnerfüllte  , wo möglich fröhliche Stunden und Tage gewähren.

Danke für Ihr wundervolles Zeugnis!

Mit fröhlichen Grüßen vom (derzeit) Neckar & Gott befohlen,
Karsten "Picus ".
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 10:50
Schirin, eine Frage noch :

Ist das sehr zugig, so in einer Gondel? 🚡

(ein interessantes Bild).
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 10:53
Aus Gottes Perspektive BIST DU mitten im Leben. 👍❤
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 11:02
Die Meßlatte tiefer legen … und weitersuchen.

www.handicap.de (kostenlos) vom gleichen Betreiber.

Zeitlos
lachendes Smiley
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 11:03
..............................
 
Rosenlied 05.10.2020 11:04
⛪Danke, liebe @Schirin, für Dein ehrliches Zeugnis.
An Dir können wir uns ein Beispiel nehmen. 
Den Vergleich mit dem Riesenrad finde ich auch 
sehr gut und wie Du alles mit meisterhaften 
Worten beschrieben hast. 
Ich wünsche Dir weiter alles alles Gute und 
immer den Trost von unserm lieben JESUS❤.

Viele Grüße von mir ans schöne Rheinland.
 
Schirin 05.10.2020 12:00
@ Karsten: Das ist gerade zu Coronazeiten oft sehr zugig, in meiner Gondel, wenn ich zum Beispiel im Gottesdienst sitze und alle Türen wegen des Hygieneschutzkonzeptes sperrangelweit offen stehen... zwinkerndes Smiley
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 12:24
Mitten im Leben

.......

Mut zum Leben

.......

Ein berührender Bericht.
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 12:35
@Shirin
Du hast Zeugnis von deinem Leben gegeben und stehst oder sitzt in voller Blüte darin.
Du hast Freunde und Kinder es ist ein reicher Segen trotz deiner Krankheit und das wichtigste was viele Menschen verloren haben ,ist dein Glauben und Gott vertrauen.
Gott hat immer ein offenes Ohr für dich


 
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 13:03
Wenn der äußere Mensch abnimmt, egal aus welchen Gründen, dann stärkt uns der Herr am innwendigen Menschen.
Jedes Leben ist mitten im Leben, denn ein anderes gibt es nicht. Und da ist jeder gleich.
Jeder lebt sein Leben. Die Fülle des Lebens kommt von Gott, und nicht per Definition der Gesellschaft.
Ich liebe sie auch, die Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, wie du sie beschreibst, trotz aller Einschränkungen, die ich hier nicht weiter beschreiben will. 

Das ist groovey....................😎

Immer froh sein über das was noch geht.............denn es gibt immer noch ein "Weniger". 👍
 
Schirin 05.10.2020 13:58
@ Sadie: eher so eine Herbstblüte zwinkerndes Smiley


@ ist: schlimmer geht immer! 
 
janinaj 05.10.2020 14:42
@shirin
Vielen Dank für deine Offenheit und Ehrlichkeit. Ich wünsche dir weiterhin den Blick zu unserem Herrn Jesus Christus. Ich wünsche dir, dass Er dir beisteht und dir die Kraft gibt die du brauchst, immer für jeden Tag neu. Und glaub mir, Er weiss wie es dir geht. Er weiss es auch, wenn du es nicht mehr sagen kannst oder beten kannst. 
Wenn du dich gerne mit mir austauschen willst, dann melde dich. Meine Karriere ist auch zu Ende und Schmerzen sind auch nichts Fremdes für mich. 
Liebe Grüße Janina
 
janinaj 05.10.2020 14:43
@zeitlos: Die Latte tiefer hängen ist Blödsinn, wenn man eh schon ziemlich am Boden ist. Und glaub ja nicht, dass zwei Menschen mit handicap das Leben einfacher händeln können. Auf solch kruse Ideen kann auch nur einer kommen, der keine Ahnung hat!
 
sigrid61 05.10.2020 14:56
Shirin Hinter Deinen Zeilen steckt sehr viel Humor und dennoch Ernsthaftigkeit.
Du betrachtest Dein Leben mit offenen Augen und ich wünsche Dir, das Du die Mitte Deines Lebens neu entdeckst.Gott möchte Dir in Deiner Situation neu begegnen, Dir neue Möglichkeiten eröffnen,die zu Deiner Situation passen.
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 15:26
@ ist: schlimmer geht immer! 

@Schirin, ja genau, aber auch besser geht immer. Und ich habe festgestellt, dass ich eher ins besser hineinkomme, wenn ich das was ist schätze. Daran übe ich aber noch sehr.😅
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 15:55
Janinaj meint:
"@zeitlos: Die Latte tiefer hängen ist Blödsinn, wenn man eh schon ziemlich am Boden ist. Und glaub ja nicht, dass zwei Menschen mit handicap das Leben einfacher händeln können."
------------------------------------------------------------------------------------------------

Die Auswahlkriterien Schönheit und Jugendlichkeit kann man immer tiefer hängen.
Dann bleiben die Gesinnungsfreunde übrig. Reicht dies nicht? Siehe Seniorenheim.

Mit handicap-love bietet sich ein ganzes Anbandl-Forum an - ist dies krus?.
Über die Zeitungsanzeige im Heimatblatt kann man durchaus einen guten Nachbar finden.
Gerade der Gleich-Eingeschränkte kann das größte Verständnis haben …

Gleich und gleich gesellt sich gern im passenden Umfeld!
Du bist heute wieder kritisch eingestellt - obwohl es nur eine Diskussion ist.

Zeitlos
lachendes Smiley
 
Schirin 05.10.2020 17:02
@ Janinja: Ich möchte Dich um eine respektvolle Behandlung anderer Meinungen in meinem Blog bitten.

@Zeitlos: Ich habe vielleicht nicht mehr alle Latten im Zaun, dass veranlasst mich aber nicht, dieselben tiefer zu hängen. Sonst springt nachher ein Trampeltier in meine Gondel und aus ists mit meinem friedlichen Zuhause. Die noch stehenden Latten meines Zaunes dienen dem Schutz, die fehlenden haben Lücken hinterlassen, die aber Freiraum für neue Perspektiven bieten.
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 17:19
Bin ehrlich berührt von Deinem Bloq und wünsche Dir reichlich Gottes Segen und noch viele, viele neue Perspektiven.
Riesenrad, ich war mit einem ehemaligen Arbeitskollegen letztes Jahr im Wiener Prater. Schickte ihn dann auch ins Riesenrad. Aber er, der Technik-Freak, hatte nur Augen für die Konstruktion und nicht für den tollen Ausblick.
 
Engeli 05.10.2020 17:25
@Schirin

Irgendwie kam mir der Gedanke, dass Du nicht nur eine Runde auf dem Riesenrad fährst, sondern 2 oder 3.
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 19:00
Schirin meint:
"@Zeitlos: Ich habe vielleicht nicht mehr alle Latten im Zaun, dass veranlasst mich aber nicht, dieselben tiefer zu hängen. Sonst springt nachher ein Trampeltier in meine Gondel und aus ists mit meinem friedlichen Zuhause. Die noch stehenden Latten meines Zaunes dienen dem Schutz, die fehlenden haben Lücken hinterlassen, die aber Freiraum für neue Perspektiven bieten."
----------------------------------------------------------------------------------------------------

Schutz? Gegen was?

Wenn der Partner freundlich und hilfsbereit zu Dir ist … kann er dann nicht aussehen, wie er will?
Mehr wird auch in der Senioren-Residenz nicht verlangt, denn Einsamkeit tut weh ....

Zeitlos
lachendes Smiley
 
(Nutzer gelöscht) 05.10.2020 19:03
Das Trampeltier kommt nur,
wenn Du ihm Hoffnungen machst …
Hat nicht auch ein echtes 2-höckriges Kamel gute Eigenschaften?

Zeitlos
lachendes Smiley
 
Schirin 05.10.2020 19:58
@ Engeli: Schöner Gedanke lachendes Smiley

@ Zeitlos: "Allein sein müssen ist das Schwerste, allein sein können das Schönste."
                                                                                                Hans Krailsheimer
weiße TaubeJetzt kostenlos registrieren