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Gedichte

Gedichte
Ein Gedicht (1962)

Ein Gedicht, aus Worten gemacht.
Wo kommen die Worte her?
Aus den Fugen wie Asseln,
Aus dem Maistrauch wie Blüten,
Aus dem Feuer wie Pfiffe,
Was mir zufällt, nehm ich,

Es zu kämmen gegen den Strich,
Es zu paaren widernatürlich,
Es nackt zu scheren,
In Lauge zu waschen
Mein Wort

Meine Taube, mein Fremdling,
Von den Lippen zerrissen,
Vom Atem gestoßen,
In den Flugsand geschrieben

Mit seinesgleichen
Mit seinesungleichen

Zeile für Zeile,
Meine eigene Wüste
Zeile für Zeile
Mein Paradies.


Marie Luise Kaschnitz, 1901-1974

Kommentare

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einSMILEkommtwieder 18.08.2020 19:00
Schicksal einer Maultasche

Weil die Maultasche
zu viel aus der Tasche geplaudert hatte,
wurde ihr das Maul gestopft.
Ab hinter Schloss und Riegel!

Doch auch dort
hielt sie sich nicht
an das verordnete Redeverbot.

Und wenn sie inzwischen nicht
von den Justizvollzugsbeamten
als Henkersmahlzeit verzehrt worden ist,
mault sie noch bis heute.


Josef Butscher
 
einSMILEkommtwieder 18.08.2020 19:09
Wenn die Mirabellen bellen,
wenn der Löwe Lieder singt,
wenn die Schnecken Bier bestellen,
wenn Forellen in Kapellen
über Kirchenbänke schnellen,
und dann ein Choral erklingt.
Wenn die Handys Junge kriegen
und die eMails plötzlich fliegen.
Wenn die einen Kopfstand machen
und die andern drüber lachen.
Dann wächst auf dem Schreibtisch Gras
oder Kinder haben Spaß!

Thomas Knodel
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 19:13
Das Gebet

Die Rehlein beten zur Nacht,

hab acht!



Halb neun!



Halb zehn!



Halb elf!



Halb zwölf!



Zwölf!



Dle Rehlein beten zur Nacht,

hab acht!

Sie falten die kleinen Zehlein,

die Rehlein.



(aus "Galgenlieder"zwinkerndes Smiley


Christian Morgenstern
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 19:18
Oh Verzeihung, für diese viel zu groß geratenen Abstände...🙈
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 19:18
Die Ameisen

In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Denn auf den letzten Teil der Reise.

So will man oft und kann doch nicht
Und leistet dann recht gern Verzicht.

Joachim Ringelnatz
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 19:34
Abendlied

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen? –
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder,
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste,
Und suchen viele Künste,
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, lass uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Lass uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!


Matthias Claudius
(1740-1815) 
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 20:23
Wer es könnte

Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
daß der Wind
hindurchfährt.

Hilde Domin - 1962/63
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 20:25
das mag ich auch - und die Bilder von Chagall dazu 🙂

https://www.youtube.com/watch?v=GKAMmATuX2Y
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 20:37
ein wunderschönes Liebesgedicht von Ringelnatz:

Ich habe dich so lieb!

Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken

Ich habe dir nichts getan
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei - verjährt -
Doch nimmer vergessen.

Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.

Ich habe dich so lieb.
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 20:38
mein Lieblingsliebesgedicht von Erich Fried:


Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
 
Manohara 18.08.2020 20:45
Auf den Weg die Katze saß, 
da begegnet ihr der Has.

Da sie sich recht gut verstehn 
wolln sie nun gemeinsam gehn. 

Sie wanderten durch Stadt und Land 
kaum jemand bessre Freunde fand. 

Bis an ein Wirtshaus sie geraten 
wo dranstand "frischer Hasenbraten"

Kaum haben sie das Schild gesehn 
wars um des Hasen Mut geschehn 

Zehn Spannen sprang er mit einem Satze 
Schneller rannte nur die Katze....
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 21:01
dazu fällt mir sofort ein:

https://www.youtube.com/watch?v=NRGkh4AFrhs
 
(Nutzer gelöscht) 18.08.2020 21:04
Lütt Matten de Has’
De mak sik en Spaß,
He weer bi’t Studeern
Dat Danzen to lehrn,
Un danz ganz alleen
Op de achtersten Been.

Keem Reinke de Voß
Un dach: das en Kost!
Un seggt: Lüttje Matten,
So flink op de Padden?
Un danzst hier alleen
Oppe achtersten Been?

Kumm, lat uns tosam!
Ik kann as de Dam!
De Krei de spȩlt Fitel,
Denn geit dat canditel,
Denn geit dat mal schön
Op de achtersten Been!

Lütt Matten gev Pot.
De Voß beet em dot
Un sett sik in Schatten,
Verspis’ de lütt Matten:
De Krei de kreeg een
Vun de achtersten Been
 
Rosenlied 19.08.2020 09:34
😍Danke @Einsmilek... für die Seite mit den herrlichen Gedichten..

Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch
da saßen drei Spatzen...Bauch an Bauch:

der Erich rechts und links der Franz
und mittendrin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu ganz zu
und obendrüber das schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht
so warm wie der Hans hats niemand nicht.

Sie hören all drei ihrer Herzlein Gepoch
und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.

Christian Morgenstern
 
(Nutzer gelöscht) 19.08.2020 09:57
Warum die Zitronen sauer wurden

Ich muß das wirklich mal betonen:
Ganz früher waren die Zitronen
(ich weiß nur nicht genau mehr, wann dies
gewesen ist) so süß wie Kandis.

Bis sie einst sprachen: "Wir Zitronen,
wir wollen groß sein wie Melonen!
Auch finden wir das Gelb abscheulich,
wir wollen rot sein oder bläulich!"

Gott hörte oben die Beschwerden
und sagte: "Daraus kann nichts werden!
Ihr müßt so bleiben! Ich bedauer!"

- Heinz Erhardt -
 
(Nutzer gelöscht) 19.08.2020 10:48
Und noch eins



Was wär ein Apfel ohne -Sine,
Was wären Häute ohne Schleim?
Was wär'n die Vita ohne -Mine,
Was wär'n Gedichte ohne Reim?
Was wär das E ohne die -llipse,
Was wär veränder ohne -lich?
Was wär ein Kragen ohne Schlipse,
Und was wär ich bloß ohne Dich?
 
einSMILEkommtwieder 19.08.2020 12:54
DANKE für die vielen unterhaltsamen Gedichte ... nur weiter so! 🙂
 
(Nutzer gelöscht) 19.08.2020 20:23
Der Urlaub

Ein Mensch, vorm Urlaub, wahrt sein Haus,
Dreht überall die Lichter aus,
In Zimmern, Küche, Bad, Abort –
Dann sperrt er ab, fährt heiter fort.
Doch jäh, zu hinterst in Tirol,
Denkt er voll Schrecken: »Hab ich wohl?«
Und steigert wild sich in den Wahn,
Er habe dieses nicht getan.
Der Mensch sieht, schaudervoll, im Geiste,
Wie man gestohlen schon das meiste,
Sieht Türen offen, angelweit.
Das Licht entflammt die ganze Zeit!
Zu klären solchen Sinnen trug,
Fährt heim er mit dem nächsten Zug
Und ist schon dankbar, bloß zu sehn:
Das Haus blieb wenigstens noch stehn!
Wie er hinauf die Treppen keucht:
Kommt aus der Wohnung kein Geleucht?
Und plötzlich ist’s dem armen Manne,
Es plätschre aus der Badewanne!
Die Ängste werden unermessen:
Hat er nicht auch das Gas vergessen?
Doch nein! Er schnuppert, horcht und äugt
Und ist mit Freuden überzeugt,
Dass er – hat er’s nicht gleich gedacht? –
Zu Unrecht Sorgen sich gemacht.
Er fährt zurück und ist nicht bang. –
Jetzt brennt das Licht vier Wochen lang.

Eugen Roth
 
einSMILEkommtwieder 20.08.2020 08:03
Seufzer einer Begonie

Du steiler, fetter Löwenzahn,
Was nimmst Du mir die Säfte?
Was habe ich Dir denn getan,
Du Räuber meiner Kräfte?

Bist Du nicht auch von Gott gemacht
An einem schönen Tage?
Wer lässt Dich sprießen so an Kraft,
Du ägyptische Plage!?

Was dringen Deine Wurzeln ein,
Umzingeln mir die Knollen?
Herr Löwenzahn, das ist gemein!
Und auch nicht Gottes Wollen!

Da drüben steht Franzosenkraut,
Das schrecklichste aller Sorten.
Wenn´s Ihnen davor g´rad nicht graut,
Dann wuchern Sie doch dorten!


aus "Links am Paradies entlang" von Julie Schrader
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