Schirin, du bist eine tapfere, lebensbejahende Frau, die ihre Einschränkung als Herausforderung sieht - das ist eine große Hilfe für andere Menschen. Zu dem hast du eine wunderbare Gabe, alles mit einer Portion Humor
rüber zu bringen. Viele Grüße und ein gesegnetes Wochenende euch allen. Sigrid
Endlich wieder Pumps
04.02.2017 19:31
Endlich wieder Pumps
04.02.2017 19:31
Endlich wieder Pumps
Annäherungsversuche an ein Fortbewegungsmittel, das dringend eine Imagepolitur braucht
Wir hatten lange nichts miteinander zu tun.
Und das war mir auch ganz recht so.
Natürlich warst du, zumindest so lange ich denken kann, schon immer da.
Aber nie nah.
Natürlich hatte ich keine Berührungsängste oder gar Vorurteile gegen dich, und wenn du doch mal irgendwo auftauchtest, stand ich immer voll hinter dir. Auf deiner Seite eben, der richtigen Seite und - selbstverständlich hilfsbereit - auf der sicheren Seite.
Aber normalerweise drehtest du deine Runden außerhalb meines Freundes- und Familienkreises.
Ich konnte dich ganz einfach übersehen, weil du sowieso automatisch unterhalb meines Blickfeldes rangiertest. Oder oberhalb meines gewöhnlichen Horizontes, wo du untergingst im Schilderdschungel öffentlicher Plätze.
Wir bewegten uns einfach in verschiedenen Welten und das war gut so.
Fand ich.
Bis zum 17.12.2000.
Als der Oberarzt mir tröstend meine Diagnose zu erklären versuchte: “MS bedeutet ja nicht unbedingt Rollstuhl und wenn, dann wird es bei ihnen noch viele Jahre dauern.“
Rollstuhl?
Ich war wegen einer Sehnervenentzündung ins Krankenhaus gekommen und wurde kurz vor Weihnachten mit dieser unfrohen Botschaft nach Hause geschickt. Und vielen offenen Fragen. Die Neurologenpraxen hatten alle Weihnachtsferien. Also versuchte ich mir alleine anzulesen: was kommt da auf mich zu mit einer Krankheit, die 1000 Gesichter hat? Dabei stieß ich auf die dramatischsten Verläufe. Wahre Schreckensszenarien erschütterten mich bis ins Mark.
Was würde aus mir werden? Und aus meinen Kindern? Wohin würde diese unheilbare Erkrankung mich bringen? Würde mein Leben an den Rollstuhl gefesselt enden? Bald?
Der Oberarzt hatte den Rollstuhl zwar auf die lange Bank geschoben, aber warum hatte er ihn dann überhaupt erwähnt?
DAS Symbol für alle erdenklichen, körperlichen Einschränkungen (nicht selten auch für geistige und psychische) baumelte plötzlich wie ein Damokles Schwert über meinem Haupt. Alle meine Ängste saßen in dir fest, du Stuhl mit Rädern! Krankenfahrstuhl! AOK Chopper!
Wer bist du, der du weltweit wahllos dein Piktogramm für alle vorstellbaren Behinderungen hergibst? Das allen Menschen mit Handicap im Schilderdschungel des öffentlichen Raums Hinweise gibt, wo sie einen Platz für sich finden. Zum Beispiel einen Parkplatz. Oder eine Toilette.
Ich hatte die Seiten gewechselt. Ich stand nicht mehr auf der sicheren Seite. Hinter dir.
Ich sah mich in dir.
Inzwischen, gut 16 Jahre später, ist es so weit und du bist mir ganz nahe gekommen.
Heute stehst DU voll hinter MIR.
Bzw. unter mir. Ich schiebe dich nicht mehr, sondern lasse mir von dir unter den Hintern greifen. Weil ich eben denselben nicht mehr lange genug hochbekomme, um kleinere Ausflüge, die mir früher ohne Nachzudenken vom Fuß gingen, zu unternehmen.
Ich verteidige dich inzwischen sogar gegen Bekannte, die behaupten, ich bräuchte dich nicht. Sie meinen es nur gut und wünschten sich, dass ich dich nicht brauche. Sie haben keine Ahnung.
Und Angst.
Ich bin vom Rollstuhlfürchter zum Rollstuhlfahrer geworden.
Und das ist gut so.
Weil du nicht das Problem bist. Sondern ein Teil der Lösung.
Ich habe alles mir mögliche getan, um dir eine Abfuhr zu erteilen:
ich habe gelernt, mich selber zu spritzen, um mir regelmäßig Medikamente mit den unangenehmsten Nebenwirkungen unter die Haut zu jagen. Als das nicht mehr half habe ich mir sogar eine Chemotherapie reingezogen. Regelmäßige Krankengymnastik sowieso, auch eine Psychotherapie ließ ich nicht unversucht. Obwohl ich ein eingefleischter Couch Potatoe bin, verließ ich mein Sofa, um jahrelang ins Fitness Studio zu gehen. Ich habe mich durch die verschiedensten Ernährungsrichtlinien verkostet, bis hin zu Grünkohl zum Frühstück.
Hat alles nichts genutzt.
Oder vielleicht doch?
Ich habe immerhin kapiert, dass man für Fortschritte nicht unbedingt die eigenen Beine braucht. (Warum wusste ich das als Autofahrer nicht sowieso? )
So gerne ich das auch tue. Aber: besser gut gefahren als dumm gelaufen.
Oder gar nicht vorangekommen. Gar nicht mehr mitgekommen.
“Schritte sind Schritte durch Schritte, die nicht mehr sind.“ bringt Manfred Hinrich es für mich auf den Punkt. Konkret in meiner Situation: wenn meine Beine mir den Dienst versagen, ist der Schritt in den Rollstuhl für mich der richtige. In Richtung Bewegung. In Richtung Leben.
Und das Leben Bewegung braucht, wussten und formulierten schon die alten Philosophen zu allen Zeiten von Konfuzius, Heraklit über Pascal bis Grönemeyer. Ich buchstabiere das mit zunehmenden Lähmungen durch und schätze den Wert von Bewegung inzwischen ganz anders ein.
Essentieller. Gerade auch den meiner eigenen, inzwischen sehr langsamen und unkoordinierten. Auch die Bewegungsfreiheit, die mir mein Rolli ermöglicht. (Nicht ganz unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die geistige Beweglichkeit, die aber auch hier mal wieder viel zu weit führt.)
Rollstühle transportieren keine Schrecken, sondern gehbehinderte Menschen. (Diese Erkenntnis haben manche Sanitätshausangestellte noch nicht verinnerlicht, die, obwohl sie die AOK-Chopper verkaufen, sich selbst für kein Geld der Welt hineinsetzen würden.)
Im Rolli zu sitzen bedeutet nicht Hilflosigkeit, sondern ein Hilfsmittel zu nutzen, um von A nach B zu kommen.
Meine Beine kämpfen immer noch um jeden Schritt. Inzwischen mit Unterstützung von orthopädischen Schuhen, Peronaeusstimulatormanschette ums Knie und Rollator.
Und das ist gut so.
Wenn auch, zugegeben, ein wenig martialisch und nicht besonders sexy.
Das ist der Rollstuhl genau so wenig.
Auch er öffnet mir längst nicht alle Türen und kann mir nicht alle Wünsche erfüllen.
Nur einige, kleine, langgehegte.
Zum Beispiel, endlich wieder Pumps zu tragen.
Wir hatten lange nichts miteinander zu tun.
Und das war mir auch ganz recht so.
Natürlich warst du, zumindest so lange ich denken kann, schon immer da.
Aber nie nah.
Natürlich hatte ich keine Berührungsängste oder gar Vorurteile gegen dich, und wenn du doch mal irgendwo auftauchtest, stand ich immer voll hinter dir. Auf deiner Seite eben, der richtigen Seite und - selbstverständlich hilfsbereit - auf der sicheren Seite.
Aber normalerweise drehtest du deine Runden außerhalb meines Freundes- und Familienkreises.
Ich konnte dich ganz einfach übersehen, weil du sowieso automatisch unterhalb meines Blickfeldes rangiertest. Oder oberhalb meines gewöhnlichen Horizontes, wo du untergingst im Schilderdschungel öffentlicher Plätze.
Wir bewegten uns einfach in verschiedenen Welten und das war gut so.
Fand ich.
Bis zum 17.12.2000.
Als der Oberarzt mir tröstend meine Diagnose zu erklären versuchte: “MS bedeutet ja nicht unbedingt Rollstuhl und wenn, dann wird es bei ihnen noch viele Jahre dauern.“
Rollstuhl?
Ich war wegen einer Sehnervenentzündung ins Krankenhaus gekommen und wurde kurz vor Weihnachten mit dieser unfrohen Botschaft nach Hause geschickt. Und vielen offenen Fragen. Die Neurologenpraxen hatten alle Weihnachtsferien. Also versuchte ich mir alleine anzulesen: was kommt da auf mich zu mit einer Krankheit, die 1000 Gesichter hat? Dabei stieß ich auf die dramatischsten Verläufe. Wahre Schreckensszenarien erschütterten mich bis ins Mark.
Was würde aus mir werden? Und aus meinen Kindern? Wohin würde diese unheilbare Erkrankung mich bringen? Würde mein Leben an den Rollstuhl gefesselt enden? Bald?
Der Oberarzt hatte den Rollstuhl zwar auf die lange Bank geschoben, aber warum hatte er ihn dann überhaupt erwähnt?
DAS Symbol für alle erdenklichen, körperlichen Einschränkungen (nicht selten auch für geistige und psychische) baumelte plötzlich wie ein Damokles Schwert über meinem Haupt. Alle meine Ängste saßen in dir fest, du Stuhl mit Rädern! Krankenfahrstuhl! AOK Chopper!
Wer bist du, der du weltweit wahllos dein Piktogramm für alle vorstellbaren Behinderungen hergibst? Das allen Menschen mit Handicap im Schilderdschungel des öffentlichen Raums Hinweise gibt, wo sie einen Platz für sich finden. Zum Beispiel einen Parkplatz. Oder eine Toilette.
Ich hatte die Seiten gewechselt. Ich stand nicht mehr auf der sicheren Seite. Hinter dir.
Ich sah mich in dir.
Inzwischen, gut 16 Jahre später, ist es so weit und du bist mir ganz nahe gekommen.
Heute stehst DU voll hinter MIR.
Bzw. unter mir. Ich schiebe dich nicht mehr, sondern lasse mir von dir unter den Hintern greifen. Weil ich eben denselben nicht mehr lange genug hochbekomme, um kleinere Ausflüge, die mir früher ohne Nachzudenken vom Fuß gingen, zu unternehmen.
Ich verteidige dich inzwischen sogar gegen Bekannte, die behaupten, ich bräuchte dich nicht. Sie meinen es nur gut und wünschten sich, dass ich dich nicht brauche. Sie haben keine Ahnung.
Und Angst.
Ich bin vom Rollstuhlfürchter zum Rollstuhlfahrer geworden.
Und das ist gut so.
Weil du nicht das Problem bist. Sondern ein Teil der Lösung.
Ich habe alles mir mögliche getan, um dir eine Abfuhr zu erteilen:
ich habe gelernt, mich selber zu spritzen, um mir regelmäßig Medikamente mit den unangenehmsten Nebenwirkungen unter die Haut zu jagen. Als das nicht mehr half habe ich mir sogar eine Chemotherapie reingezogen. Regelmäßige Krankengymnastik sowieso, auch eine Psychotherapie ließ ich nicht unversucht. Obwohl ich ein eingefleischter Couch Potatoe bin, verließ ich mein Sofa, um jahrelang ins Fitness Studio zu gehen. Ich habe mich durch die verschiedensten Ernährungsrichtlinien verkostet, bis hin zu Grünkohl zum Frühstück.
Hat alles nichts genutzt.
Oder vielleicht doch?
Ich habe immerhin kapiert, dass man für Fortschritte nicht unbedingt die eigenen Beine braucht. (Warum wusste ich das als Autofahrer nicht sowieso? )
So gerne ich das auch tue. Aber: besser gut gefahren als dumm gelaufen.
Oder gar nicht vorangekommen. Gar nicht mehr mitgekommen.
“Schritte sind Schritte durch Schritte, die nicht mehr sind.“ bringt Manfred Hinrich es für mich auf den Punkt. Konkret in meiner Situation: wenn meine Beine mir den Dienst versagen, ist der Schritt in den Rollstuhl für mich der richtige. In Richtung Bewegung. In Richtung Leben.
Und das Leben Bewegung braucht, wussten und formulierten schon die alten Philosophen zu allen Zeiten von Konfuzius, Heraklit über Pascal bis Grönemeyer. Ich buchstabiere das mit zunehmenden Lähmungen durch und schätze den Wert von Bewegung inzwischen ganz anders ein.
Essentieller. Gerade auch den meiner eigenen, inzwischen sehr langsamen und unkoordinierten. Auch die Bewegungsfreiheit, die mir mein Rolli ermöglicht. (Nicht ganz unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die geistige Beweglichkeit, die aber auch hier mal wieder viel zu weit führt.)
Rollstühle transportieren keine Schrecken, sondern gehbehinderte Menschen. (Diese Erkenntnis haben manche Sanitätshausangestellte noch nicht verinnerlicht, die, obwohl sie die AOK-Chopper verkaufen, sich selbst für kein Geld der Welt hineinsetzen würden.)
Im Rolli zu sitzen bedeutet nicht Hilflosigkeit, sondern ein Hilfsmittel zu nutzen, um von A nach B zu kommen.
Meine Beine kämpfen immer noch um jeden Schritt. Inzwischen mit Unterstützung von orthopädischen Schuhen, Peronaeusstimulatormanschette ums Knie und Rollator.
Und das ist gut so.
Wenn auch, zugegeben, ein wenig martialisch und nicht besonders sexy.
Das ist der Rollstuhl genau so wenig.
Auch er öffnet mir längst nicht alle Türen und kann mir nicht alle Wünsche erfüllen.
Nur einige, kleine, langgehegte.
Zum Beispiel, endlich wieder Pumps zu tragen.
Kommentare
Schreib auch du einen Kommentar
vertrauen2015 05.02.2017 10:47
Ja den Humor hat dir Gott gegeben.
Übrigens Lachen ist eine gute Medizin.
Übrigens Lachen ist eine gute Medizin.
Schirin 05.02.2017 17:31
@ Vertrauen:
ja, Lachen ist eine gute Medizin, so hieß mein erster Blogeintrag letztes Jahr in einem anderen Forum:
"Heute wollte ich bei meinem geliebten, kleinen Buchladen im Ort das bestellte Buch "Multiple Sklerose erfolgreich behandeln" abholen. Also setzte ich mich in meinen Rollstuhl, um die ungefähr 200 m zu bewältigen. Vorsichtig optimistisch, dass ich nach der Lektüre und darin empfohlenen Behandlung diese Strecke vielleicht doch wieder zu Fuß zurücklegen könnte. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Auch nach 15 Jahren chronisch fortschreitender MS....
Vor dem Laden wollte ich gerade meinen Rolli einparken, um mich die drei Eingangsstufen am Geländer hochzuziehen, da kommt der beste Buchhändler von allen heraus und entschuldigt sich wortreich, dass das Buch noch nicht da sei, er habe beim Bestellen einen Fehler gemacht, es komme morgen. Es tut ihm wirklich leid, er kennt mich, den Buchtitel und meine Hoffnung. Ich schaffe es gar nicht, ihn zu unterbrechen, um mich dafür zu bedanken, dass er mir durch sein Entgegenkommen die 3 Stufen "Aufstieg" in sein Geschäft erspart hat.
Als ich endlich zu Wort komme beschwichtige ich ihn:"Nicht so schlimm, dann werde ich eben einen Tag später gesund!"
Unser gemeinsames, herzliches Lachen lässt für einen Moment alle Probleme vergessen.
Immer wenn du lachst, stirbt irgendwo ein Problem. "
ja, Lachen ist eine gute Medizin, so hieß mein erster Blogeintrag letztes Jahr in einem anderen Forum:
"Heute wollte ich bei meinem geliebten, kleinen Buchladen im Ort das bestellte Buch "Multiple Sklerose erfolgreich behandeln" abholen. Also setzte ich mich in meinen Rollstuhl, um die ungefähr 200 m zu bewältigen. Vorsichtig optimistisch, dass ich nach der Lektüre und darin empfohlenen Behandlung diese Strecke vielleicht doch wieder zu Fuß zurücklegen könnte. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Auch nach 15 Jahren chronisch fortschreitender MS....
Vor dem Laden wollte ich gerade meinen Rolli einparken, um mich die drei Eingangsstufen am Geländer hochzuziehen, da kommt der beste Buchhändler von allen heraus und entschuldigt sich wortreich, dass das Buch noch nicht da sei, er habe beim Bestellen einen Fehler gemacht, es komme morgen. Es tut ihm wirklich leid, er kennt mich, den Buchtitel und meine Hoffnung. Ich schaffe es gar nicht, ihn zu unterbrechen, um mich dafür zu bedanken, dass er mir durch sein Entgegenkommen die 3 Stufen "Aufstieg" in sein Geschäft erspart hat.
Als ich endlich zu Wort komme beschwichtige ich ihn:"Nicht so schlimm, dann werde ich eben einen Tag später gesund!"
Unser gemeinsames, herzliches Lachen lässt für einen Moment alle Probleme vergessen.
Immer wenn du lachst, stirbt irgendwo ein Problem. "
Schirin 05.02.2017 22:13
@ Hans:
Danke, das freut mich! Ich habe einige Deiner Blogs auch schon mit Interesse gelesen.
Ich hoffe, ich bin jetzt nicht in der Schublade "Lebenslustige mit auswegloser Diagnose"? (Scherz!!!)
Danke, das freut mich! Ich habe einige Deiner Blogs auch schon mit Interesse gelesen.
Ich hoffe, ich bin jetzt nicht in der Schublade "Lebenslustige mit auswegloser Diagnose"? (Scherz!!!)
Ich finde, dass Du sehr tapfer Dein Leben meisterst.
Ich wünsche Dir weiter Gottes Segen auf allen Deinen Wegen.
LG Karin-Rosenlied