Wie sollte es zu der Wundertat kommen, ...?

Wie sollte es zu der Wundertat kommen, ...?
„Lass sie, damit sie es für den Tag meines Begräbnisses tue“

„Als Jesus eintraf, fand er Lazarus bereits vier Tage im Grab liegen… Da weinte Jesus“ (Joh 11,17.35). Warum hat unser Herr vor dem Grab des Lazarus geweint?... Weil er tiefes Mitgefühl mit den Trauernden empfand… weil er das Elend der Welt mit ansehen musste…

Leider waren auch andere Überlegungen Ursache seiner Tränen. Wie sollte es zu der Wundertat kommen, durch die die trauernden Schwestern getröstet werden? Auf seine eigenen Kosten… Christus sollte durch seinen eigenen Tod den Toten das Leben bringen. Seine Jünger hatten versucht, ihn von seiner Rückkehr nach Judäa abzubringen. Sie hatten Angst, dass er dort umgebracht würde (Joh 11,8). Ihre Befürchtung ist eingetroffen. Er ging hin, um Lazarus aufzuerwecken, und die Kunde von diesem Wunder verbreitete sich rasch und war die unmittelbare Ursache seiner Festnahme und Kreuzigung (Joh 11,53). Er sah alles voraus…: die Auferweckung des Lazarus; das Essen bei Martha; Lazarus am Tisch sitzend; Freude allenthalben; Maria, die ihn während des Essens ehrte, indem sie teures Parfüm über seine Füße goss; die Juden, die in großer Zahl gekommen waren, um Lazarus zu sehen, aber auch um seinen triumphalen Einzug in Jerusalem zu erleben; die „Hosianna“ rufende Menschenmenge; die Leute, die die Auferweckung des Lazarus bezeugten; die Griechen, die gekommen waren, um an den Ostertagen Gott anzubeten, und die ihn unbedingt sehen wollten; die Kinder, die an der allgemeinen Freude teilhatten – und dann die Pharisäer, die sich gegen ihn verschworen hatten; Judas, der ihn verriet; seine Freunde, die ihn in Stich ließen, und das Kreuz, das ihn aufnahm…

Er ahnte voraus, dass um seines eigenen Opfers willen Lazarus wieder zum Leben erwachen würde; dass er in das Grab hinabsteigen würde, aus dem Lazarus hervorkam; dass Lazarus leben würde und er sterben. Die Dinge sollten sich ins Gegenteil verkehren: Das Fest würde bei Martha gefeiert werden, aber das letzte Passahfest, das bittere, würde einzig und allein sein eigenes sein. Und er wusste, dass er diese Verkehrung aus freien Stücken annehmen würde. Er war aus dem Schoß des Vaters herab gekommen, um in seinem Blut die Sünden aller Menschen zu sühnen und so alle Glaubenden zu neuem Leben zu erwecken.

John Henry Newman (1801-1890), Theologe und Kardinal, Gründer eines Oratorium in England
Predigt: „Die Tränen Christi am Grab des Lazarus“, PPS, Bd. 3, Nr. 10

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