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Unser Sonntag: Perspektivwechsel!

Unser Sonntag: Perspektivwechsel!
Wollen wir unsere spirituelle Blindheit überwinden, so müssen auch wir Jesus erst einmal glauben, dass da überhaupt etwas zu sehen ist – dass es diese Realität namens Reich Gottes gibt und dass sie unter uns gegenwärtig ist, auch wenn wir sie bisher nicht sehen, so Dr. Norbert Feinendegen. Ein Perspektivwechsel ist gefragt.


Dr. Norbert Feinendegen

30. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B

Evangelium: Mk 10,46b-52

Unser heutiges Evangelium gehört zu den sogenannten Wunderberichten des Neuen Testaments. Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit diesen Texten, und zwar nicht nur Atheisten oder Agnostiker: Welcher Theologe, welcher praktizierende Christ glaubt heute noch an die Jungfrauengeburt, wer glaubt daran, dass Jesus übers Wasser ging, dass das Grab leer war?


Solche Dinge scheinen nicht zu passen in unser modernes, aufgeklärtes Weltbild. Ich nehme an, die meisten Christen würden daher wohl unterschreiben, was Rudolf Bultmann vor gut 80 Jahren so formuliert hat: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Bultmann ging deshalb davon aus, dass es sich bei den Wunderberichten des Neuen Testaments um rein symbolische Geschichten handelt.


Die Betrachtung zum Sonntagsevangelium im Video:





Bultmann: Wunderberichte sind bildhaft
Sie sind nach seiner Ansicht keine Berichte über historische Ereignisse, sondern Texte, die auf bildhafte Weise verdeutlichen, wer Jesus für die Menschen war, die zum Glauben an ihn gekommen waren, und die zeigen wollen, auf welche Weise der Glaube an ihn auch heute noch unser Leben verändern kann. Und so sehen das ja auch gegenwärtig viele Bibelwissenschaftler (ich vermute, sogar die Mehrheit). Auch ich habe eine Zeitlang zu dieser Ansicht tendiert. Die folgenden beiden Fragen sind mir damals aber nicht gekommen:

„Aber was hat sie dann zum Glauben daran gebracht, dass Jesus der Sohn Gottes war?“


Erstens. Das Christentum geht doch davon aus, dass Gott sich uns in der Person Jesu geoffenbart hat: Gott wurde in Jesus von Nazareth Mensch, um uns zu zeigen, wer er ist. Wenn die ersten Christen aber immer wieder auf fiktive Geschichten zurückgreifen mussten, um das zu vermitteln: Heißt das, dass in Jesu realem Leben gar nichts passiert ist, was das gezeigt hätte? Dass das nur ein ganz normales menschliches Leben war? Aber was hat sie dann zum Glauben daran gebracht, dass Jesus der Sohn Gottes war? Und was soll das dann überhaupt heißen, Gott habe sich uns in Jesus – durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung – geoffenbart?

„Wenn es Gott möglich gewesen wäre, uns sein Wesen durch rein fiktive Geschichten über Wundertaten und ein leeres Grab zu vermitteln, warum sollte er es dann überhaupt auf sich genommen haben, Mensch zu werden und in Golgatha am Kreuz zu sterben?“


Zweitens. Wenn es Gott möglich gewesen wäre, uns sein Wesen durch rein fiktive Geschichten über Wundertaten und ein leeres Grab zu vermitteln, warum sollte er es dann überhaupt auf sich genommen haben, Mensch zu werden und in Golgatha am Kreuz zu sterben? Wäre das nicht einfacher gegangen: Hätte es dann nicht gereicht, einige gottesfürchtige Juden so zu inspirieren, dass sie die richtige Vorstellung von ihm bekommen und sie durch von ihnen ersonnene Geschichten an uns weitergeben?

Jesu Taten hatten Zeichencharakter
Was dann nur leider bis vor etwa 250 Jahren niemand begriffen hätte, weshalb die ganze Christenheit diese Geschichten bis dahin als Tatsachenberichte missverstand. Ich kann mir nicht helfen: Lese ich heute die Evangelien, so stellt sich mir ihr Charakter ganz anders dar.
Ja, der Evangelist Johannes nennt die Wunder Jesu „Zeichen“. Sie haben für ihn also eine symbolische Bedeutung.
Doch ich denke nicht, dass Johannes fiktive Geschichten schrieb, mit denen er seinen Lesern die Bedeutung Jesu verdeutlichen wollte: für ihn waren es die Handlungen Jesu selbst, die diesen Zeichencharakter hatten.

„Die frühe Kirche las die Wunderberichte des Neuen Testaments als Berichte über reale Taten Jesu“


Und so verstand ihn auch die frühe Kirche: Sie las die Wunderberichte des Neuen Testaments als Berichte über reale Taten Jesu und zugleich als Geschichten voller Symbolik. Die exegetische Tradition der Kirche ist ihr hierin gefolgt (von Athanasius bis Thomas von Aquin), und Papst Benedikt tut das in seiner Jesus-Trilogie immer noch. Doch der Sinn dieser Symbolhandlungen Jesu besteht nicht darin, Gottes souveräne Macht über seine Schöpfung zu demonstrieren, wie man das leider oft von der Kanzel vernommen hat. Sondern durch sie lehrt Jesus seine Jünger in zeichenhafter Form, wer er ist, wer sein himmlischer Vater ist und was es mit dem Reich Gottes auf sich hat, das zu verkündigen er gekommen ist.

Die Wunder Jesu sind historisch und symbolisch
Die Alternative „Historisch oder symbolisch?“ trifft also meines Erachtens nicht zu: Die Wunder Jesu sind beides, historisch und symbolisch, und sie sind das eine nur, weil sie auch das andere sind.
Dabei will ich mich mit den Exegeten gar nicht über einzelne Wundergeschichten streiten: Ob sie alle so stattgefunden haben, wie sie in den Texten stehen, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube nicht, dass wir sie alle pauschal als unhistorisch einstufen können, nur weil sie unserem heutigen vermeintlich „wissenschaftlichen“ Weltbild widersprechen. Ich zumindest habe bisher keine stichhaltigen Gründe gefunden (weder naturwissenschaftlich noch philosophisch), die es ausschließen, dass Gott, der die Welt geschaffen hat, handelnd in ihre Abläufe eingreifen kann.
Auf eine solche doppelte Weise verstehe ich auch unser heutiges Evangelium. Ich sehe keinen Grund, zu bezweifeln, dass Jesus wirklich Blinde heilen konnte.

Es geht um physiologische und spirituelle Blindheit
Doch die Blindheit, um die es geht, ist keine rein physiologische Angelegenheit, sondern auch eine spirituelle.
Und sie betrifft nicht nur den Bartimäus, sondern uns alle. Wenn Bartimäus von seiner Blindheit geheilt wird, dann sollten wir also gut zuhören: dann ist sein Verhalten ein Vorbild auch für uns. Was also tut Bartimäus? Er sitzt bettelnd am Straßenrand, als plötzlich ein großer Aufruhr entsteht: Menschen über Menschen strömen an ihm vorbei.
Als er hört, dass Jesus der Grund für diesen Aufruhr ist, reagiert er sofort. Er hat schon von seinen Wundertaten gehört und wittert seine Chance.
Die Hoffnung, die er in Jesus setzt, ist dabei so groß, dass er sich auch vom Versuch der Jünger, ihn abzuwimmeln nicht abhalten lässt. Im Gegenteil: er ruft umso lauter nach Jesus. Und sein Vertrauen ist so groß, dass er, als Jesus ihn dann tatsächlich zu sich ruft, aufspringt, seinen schützenden Mantel von sich wirft und durch das Getümmel auf ihn zuläuft, obwohl er ja gar nicht sehen kann, wer ihm da möglicherweise im Weg steht. Zweifel, dass er bei Jesus ankommen wird und dass dieser seine Blindheit heilt, hat er offenbar keine.

Der Glaube rettet Bartimäus
Und so kommt es dann ja auch. Dabei betont Jesus ausdrücklich, es sei sein Glaube gewesen, der Bartimäus gerettet hat.
Bei uns, die wir mit unseren Augen sehen können, geht es offenbar um eine andere Art von Blindheit. Gibt es also vielleicht auch eine spirituelle Blindheit, die zu überwinden Glauben voraussetzt? Ja, ich denke, es gibt sie.
Es gibt Leute, die schauen auf Embryonen und sehen nur Zellklumpen; es gibt Leute, die schauen auf Akte der Nächstenliebe und sehen nur egoistische Gene am Werk, es gibt Leute, die schauen auf zwei Liebende und sehen nur animalische Instinkte, es gibt Leute, die schauen auf die Bibel und sehen nur Worte von Menschen. Und es gab schon vor 2000 Jahren Leute, die nichts vom Reich Gottes zu sehen vermochten, von dem Jesus doch sagte, es sei bereits da, mitten unter ihnen.

3D Bilder 
Sie blickten auf dieselbe Welt wie er – sie sahen gewissermaßen dieselben Fakten, waren aber nicht in der Lage, ihre Bedeutung zu erfassen.
Dass die Bereitschaft, jemandem zu glauben eine Voraussetzung dafür sein kann, etwas zu sehen, das sich direkt vor unseren Augen befindet, dafür gibt es ein wie ich finde sehr eindrückliches Beispiel, das gar nichts mit der Bibel zu tun hat. Die Leute meiner Generation erinnern sich bestimmt noch an die 3D-Bilder, die uns in den 90er Jahren eine Zeitlang geradezu verrückt gemacht haben. Das waren computergenerierte Grafiken mit geometrischen Mustern:
Man musste die Augen entspannen und die richtige Stelle anvisieren – und plötzlich entstanden aus den scheinbar zufällig verteilten Mustern dreidimensionale Räume, aus denen einem dann alle möglichen Gegenstände entgegentraten. Bei diesen Formen handelt es sich dabei nicht um eine physische Realität: die Bücher, in denen die 3D-Bilder abgedruckt sind, bestehen aus ganz normalen zweidimensionalen Blättern Papier.


Der Punkt ist: Niemand sieht etwas in diesen Grafiken, solange er nicht demjenigen glaubt, der einem versichert, dass sich in ihnen dreidimensionale Formen verbergen. Und man muss das nicht nur glauben, sondern selbst ausprobieren.Einige Leute nehmen die Tiefendimension dieser Bilder dann recht schnell wahr, andere hingegen mühen sich endlos ab und sehen nie etwas.
Ob das klappt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Qualität der Augen, davon, wie genau man sich an die Anweisungen hält (oder meint, selber besser zu wissen, wie das funktioniert), und natürlich davon, wieviel Geduld man hat, wenn es nicht auf Anhieb klappt.
Manche Leute sind einfach nur enttäuscht, wenn sie nichts sehen, andere hingegen werden ärgerlich und brechen ab, wieder andere erklären das Ganze zum Betrug.

Mit dem richtigen Fokus
Aber eins ist klar: wer eines dieser dreidimensionalen Objekte einmal gesehen hat, für den ist es da, auch wenn ihm der Fokus später wieder verlorengeht und er die Augen vom Bild abwendet. Und würde die ganze Welt behaupten, dass da nichts zu sehen ist: er weiß, dass sich diese andere Realität hinter der Oberfläche der Grafiken verbirgt.
Auch er könnte seine Skeptiker aber nur bitten, ihm zu glauben und zu versuchen, diese Bilder noch einmal mit verändertem Blick zu betrachten. Für die, die übrigens im eben gezeigten Bild nichts sehen können: das ist es, was sich darin verbirgt [3D-Bild Auflösung].

3 D Bild Auflösung
3 D Bild Auflösung
Mir scheint, die Erfahrungen, die man beim Betrachten der 3D-Bilder machen kann, sind eine gute Analogie für das, worum es in unserem heutigen Evangelium geht. Wollen wir unsere spirituelle Blindheit überwinden, so müssen auch wir Jesus erst einmal glauben, dass da überhaupt etwas zu sehen ist – dass es diese Realität namens Reich Gottes gibt und dass sie unter uns gegenwärtig ist, auch wenn wir sie bisher nicht sehen.
Und wie Bartimäus müssen wir glauben, dass es Jesus ist, der uns die Augen öffnen kann für diese Realität. Wir müssen sozusagen der Leseanweisung Jesu folgen, wie man das bei den 3D-Bildern tun muss und unsere Augen in seinem Sinn neu justieren.

Perspektivwechsel ist gefragt
Tun wir das nicht, so wird uns das Reich Gottes genauso verborgen bleiben wie einem Skeptiker, der nicht an die 3D-Bilder glaubt und sie deshalb nie sehen wird. Ist uns der Perspektivwechsel aber gelungen – haben wir einmal gesehen, was sich an Gottes Wirken hinter den scheinbar zufälligen Mustern unseres Lebens verbirgt – dann können noch so viele Leute kommen und behaupten, da sei doch gar nichts zu sehen:
Wir wissen, dass das Reich Gottes gegenwärtig ist – hier, mitten unter uns. Und ist das der Fall, so bleibt uns gar nichts anderes übrig, als zu tun, was Bartimäus getan hat, nämlich aufzuspringen, unseren Mantel fortzuwerfen und Jesus nachzufolgen auf seinem Weg nach Jerusalem.


(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)

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Kommentare

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hansfeuerstein 27.10.2024 14:12
Paulus sagt so schön: Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist unsere Predigt leer und euer Glaube sinnlos" (1 Kor 15,13 f).
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