Von Jesus zur Weltkirche: Wie eine neue Religion entsteht
19.05.2024 19:36
Von Jesus zur Weltkirche: Wie eine neue Religion entsteht
19.05.2024 19:36
Von Jesus zur Weltkirche: Wie eine neue Religion entsteht
PFINGSTEN ALS GRÜNDUNGSTAG DER KIRCHE
BONN ‐ An Pfingsten feiert die Kirche Geburtstag. Doch wie entsteht aus einer kleinen lokalen Gruppe um Jesus eine Weltreligion? Dazu bedarf es vieler einzelner Schritte und politischer Rahmenbedingungen. Ein Streifzug durch die Geschichte.
Die heiligen Bücher der Religionen, auch das erste und zweite Testament der Bibel, wollen zu allererst Glauben vermitteln und weniger historische Tatsachen berichten. Um den Glauben geht es auch in der Exegese der heiligen Texte. Aus der rabbinischen Predigt ist eine literarische Gattung hervorgegangen, das Midrasch. Darin werden Glaubensinhalte durch Erzählungen zum Ausdruck gebracht. Um die Geburt des historischen Jesus von Nazareth nach Bethlehem zu verlegen, der Stadt Davids, wo der Messias aus dem Stamm Davids das Licht der Welt erblicken soll, benutzen die Evangelisten das Midrasch und beziehen sich auf die Voraussagen der Propheten.
Über die bei Lukas beschriebene Volkszählung, die den Bewohnern der römischen Provinz Judäa den Befehl aufgetragen hätte, sich in Steuerlisten einzutragen, ein jeder am Herkunftsort seines Stammes, gibt es keine historischen Angaben. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass ein bodenständiger Handwerker seiner hochschwangeren Frau die Strapazen einer solchen Reise zumuten könnte. Matthäus, der Autor des ersten der vier kanonisierten Evangelien, bezieht sich auf die göttliche Verkündung durch den Propheten Micha über die führende Rolle der kleinen Ortschaft Bethlehem-Efrata unter den Städten Judas, "denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirte meines Volkes Israel" (Matthäus 2,6).
Micha prophezeit auch, dass Gott durch diesen Gesandten "in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes" die Götzenbilder vernichten werden, damit niemand sich mehr vor ihnen niederwerfe (vgl. Micha 5,1-14). Matthäus bekräftigt die universal ausgerichtete Bedeutung der Geburt des Gesalbten durch das Midrasch von den drei Sterndeutern "aus dem Osten", die von einem Kometen geleitet – der im Volksglauben als Vorbote eines besonderen Ereignisses am Himmel erscheint – zu Jesus in Bethlehem gelangen und ihm mit den im Altertum teuersten Abzeichen der weltlichen sowie der sakralen Macht huldigen: Gold, Weihrauch und Myrrhe (vgl. Matthäus 2,1-11). Die erzählerische Verlegung der Geburt Jesu nach Bethlehem, bezeichnet Schalom Ben Chorin (1913-1999) als einen Beweis der Historizität eines charismatischen Tannaiten (Tora Auslegers) und Wanderpredigers namens Jeschua (Jesus) Ben Josef aus Nazareth.
Entfesselte Naturgewalten
Die Offenbarung am Sinai wird bildhaft in ein gewaltiges Walten der Naturkräfte gefasst: "Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte" (Exodus 20,18). In den beiden ersten Evangelien wiederholt sich bei der Kreuzigung Jesu das Bild der entfesselten Naturgewalten: "Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich" (Matthäus 27,51). Bei Markus bricht die "Finsternis über das ganze Land herein", Vorbote eines heftigen Wolkenbruchs (vgl. Markus 15,33). Dabei riss "der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei" (vgl. Matthäus 27,51 und Markus 15,38). Das Gotteshaus öffnet sich für die Welt gemäß der Prophezeiung: "denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden" (Jesaja 56,7). Die Beseitigung der schwerwiegenden Sünde des Götzendienstes verlangt auch den freiwilligen Märtyrertod, hebräisch als "Kiddusch Ha Schem", "Heiligung des göttlichen Namens", gedeutet.
Rabbiner Leo Baeck (1873-1956), eine bedeutende Persönlichkeit des liberalen Judentums, schreibt in seinem Hauptwerk "Das Wesen des Judentums": "Der Mensch, der ein Märtyrer wird, richtet seine Liebe zu Gott über sein Dasein, er lässt den ewigen Wert seiner Seele sprechen". Ben-Chorin nennt die an Israel als Gottesknecht gerichteten Prophetenworte: "Ich mache dich zum Licht der Nationen; / damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht" (Jesaja 49,6), als Sinn und Aufgabe der Auserwählung des jüdischen Volkes. Der greise Simeon nannte im Tempel zu Jerusalem den neugeborenen Jesus: "Ein Licht, das die Heiden erleuchtet, / und Herrlichkeit für dein Volk Israel" (Lukas 2,32). Die Herrlichkeit des Gottesvolkes besteht darin, zum "Licht der Völker" ("Or Gojim" zu werden.
Bild: ©katholisch.de/cph
Jesus begeht auf Golgatha das jüdische Martyrium, das "Kiddusch Ha Schem".
Israel als Gottesknecht und Jesus als Gottesknecht fallen zusammen. Jesus begeht auf Golgatha das jüdische Martyrium, das "Kiddusch Ha Schem". Durch seinen freiwilligen Opfertod wird weltweit der Götzendienst beseitigt. In diesem Sinne verabschiedet sich der Auferstandene von seinen Jüngern mit den Worten: "geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern" (Matthäus 28,19). Die Wiederbelebung der Toten sei ein jüdisch-pharisäisches Glaubenserlebnis, erklärt Pinchas Lapide (1922-1997) in "Auferstehung – Ein jüdisches Glaubenserlebnis", und Ben Chorin bezeichnet die Auferstehungsberichte im Neuen Testament als "Superpharisäertum" ("Bruder Jesus – Der Nazarener aus jüdischer Sicht". Die Auferstehung aller Verstorbenen wird in der Endzeit mit der Ankunft des Messias erwartet. Der Glaube an Jesus als den Ersten, den Gott von den Toten erweckt hatte, bezeugt die messianische Prägung des Frühchristentums.
Das Universale wird im "Pfingstwunder" bestätigt, als die "Feuerzungen" sich auf die Jünger niederlassen, am Schawuot, einem Wallfahrt-Fest nach Jerusalem zur Erinnerung an die Sinai-Offenbarung (vgl. Apostelgeschichte 2,1-2); eine Parallele zu der göttlichen Berufung des Mose aus "einer Feuerflamme mitten im Dornbusch", der brannte ohne verzerrt zu werden" (vgl. Exodus 3,1-2). Die Jünger "wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab" (ebenda 2,4). Gottes ewiger Schöpfungsgeist, hebräisch "Ruach" (auch Wind, Windhauch und Wehen), der in der Schöpfungsgeschichte über die "Urflut" schwebte (vgl. Genesis 1,2), kommt mit einem Brausen über die Jünger Jesu, als Zeichen zum Neuaufbruch.
Auferstehung der Toten als "Zankapfel"
Der Historiker Michael Wolffsohn (Jg. 1947) berichtet in seinem Buch "Eine andere jüdische Geschichte", dass dem großen Aufstand gegen Rom (66-70 n. Chr.) ein interner jüdischer Bürgerkrieg zwischen der sadduzäischen Aristokratie und der pharisäischen "Bourgeoisie" vorausgegangen war. Das kann man auch aus den Machtkämpfen zwischen der "Partei der Sadduzäer" und der "Partei der Pharisäer" in der Apostelgeschichte entnehmen; es sind die sadduzäischen Hohepriester, die mit den Apostel und den anderen Anhängern Jesu in Konflikt geraten.
Die Pharisäer, die in der Nachfolge Jesu "gläubig geworden waren", rührten auch an einem heiklen "Zankapfel": Die Auferstehung der Toten, die die sadduzäischen Priester leugneten, verkündeten sie als ein bereits stattgefundenes Ereignis. Im Sanhedrin gab es auch eine pharisäische Opposition. Als die Hohepriester die Apostel vor den Hohen Rat stellten, erreichte der Pharisäer Gamaliel, "ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer", durch sein diplomatisches Argumentieren deren Freilassung (vgl. Apostelgeschichte 5, 34-40).
Steinigung des Stephanus, des ersten christlichen Märtyrers
Bild: ©picture-alliance/akg-images/Andre Held
Der heilige Stephanus gilt als erster Märtyrer des Christentums.
Leider hatte die christliche Exegese das Neue Testament mit vorgefassten antijüdischen Ressentiments in einer schwarz-weiß Malerei "Juden und Christen" ausgelegt, ohne den historischen Bestand zu berücksichtigen, dass die dargelegten Auseinandersetzungen von den internen jüdischen Konflikten herrührten, bedingt durch die damaligen politischen, gesellschaftlichen sowie geistigen Strukturen in der römischen Provinz Judäa.
Die Feindseligkeiten eskalieren nach der großen Rechtsfertigungsrede des Stephanus mit Argumenten aus der gesamten biblischen Heilsgeschichte, um zum Schluss die Sadduzäer mit den Worten anzugreifen: "Ihr Halsstarrigen, unbeschnitten an Herzen und Ohren" (vgl. Apostelgeschichte 7,1-53). Stephanus wird gesteinigt in Anwesenheit "eines jungen Mannes, der Saulus hieß" (vgl. Apostelgeschichte 7,58) und mit "seiner Ermordung einverstanden war" (ebenda 8,1). Dieser Saulus galt als ein entschiedener Gegner der neuen Bewegung.
Steinigung des Stephanus als Beginn des Seelenumschwungs
Was vor den Toren von Damaskus wirklich geschehen war, "bleibt ein Geheimnis der Seele des Paulus", schreibt Ben Chorin in seinem Buch "Paulus – Der Völkerapostel aus jüdischer Sicht". Der seelische Umschwung sei ein psychologischer Prozess gewesen, begonnen mit der Steinigung des Stephanus, der mit den Worten starb, "Herr Jesus Christus, nimm meinen Geist auf (...). Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an" (Apostelgeschichte 7,59-60). Saulus-Paulus – nach Ben Chorin trug er als römischer Bürger einen Doppelnamen – war ein Mensch der Extreme, der eine Aufgabe, deren Richtigkeit ihn überzeugte, mit Leidenschaft ausführte. Die Briefe des Völkerapostels sind älter als die Evangelien. Erst Paulus öffnete der als Wirkungsgeschichte des Jesus von Nazareth entstandenen messianischen Bewegung den Weg zu einer eigenständigen Religion.
Das Judentum ist heute keine missionarische Religion. Doch im Sinne des biblischen Auftrags, das Heil Gottes "bis an das Ende der Erde" zu bringen (vgl. Jesaja 49,6-7), hatten die Juden im Altertum durchaus missioniert. Eine Gruppe von Heiden, "die Gottesfürchtigen", die keine oder noch keine Proselyten (Konvertiten) waren, doch sich für das Judentum interessierten, durften an den Synagogen-Gottesdiensten teilnehmen und sich auch im Vorhof des Tempels aufhalten unter der Voraussetzung, dabei jegliches heidnisches Handeln zu unterlassen. Paulus predigte meistens in den Synagogen der jüdischen Diaspora. Die "Gottesfürchtigen" waren die ersten Heiden, die der Völkerapostel mit seiner Botschaft erreichte, und bildeten die Keimzelle des Heidenchristentums.
Bild: ©picture-alliance/Rainer Hackenberg
Der heilige Paulus war einer der ersten christlichen Theologen.
Die christlich oft vertretene Meinung, Paulus hätte sich vom Judentum abgewandt, ist ein Irrtum. Denn der Völkerapostel stand noch fest auf jüdischem Boden, und zwar im Sinne des Messianismus. Er war von der Parusie noch zu seinen Lebzeiten überzeugt: "Denn wer ist unsere Hoffnung, unsere Freude, der Kranz unseres Ruhmes vor Jesus unserem Herrn bei seiner Ankunft? Nicht etwa auch ihr?" (1 Thessalonicher, 2,19). Mit der Wiederkunft Jesu werde gemäß der Prophezeiung, "das Ende der Tage" anbrechen", und eine erlöste Menschheit werde die "Schwerter zu Pflugscharen" sowie die "Lanzen zu Winzermessern" umschmieden, und "sie werden" nicht mehr "den Krieg erlernen" (vgl. Jesaja 2,2-4).
Auch die Worte des Paulus über das "Ende des Gesetzes" sind jüdisch messianisch, denn mit der Ankunft des Messias werde die Tora durch die endgültige Gottesherrschaft ersetzt. Paulus erwähnt den historischen Jesus, den er nicht persönlich kannte, nur knapp: "geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt" (Galater, 4,4). Er verkündete den eschatologischen Messias und dessen Neuankunft, um die Gottesschau "Angesicht zu Angesicht" (vgl. 1. Korinther 13,12) zu verwirklichen. Sein Streben war auf eine von Israel ausgehende nahe universale Eschatologie ausgerichtet. Doch durch seinen messianisch beflügelten Eifer hatte Paulus die Grundfeste einer neuen Religion gelegt.
Irrtum des Völkerapostels?
Ist das Christentum aus einem Irrtum des Völkerapostels entstanden? Diese Frage kann man mit den Worten des Völkerapostels beantworten: "Was wollen wir nun sagen? Handelt Gott ungerecht? Keineswegs! Denn zu Mose sagt er: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will. Also kommt es nicht auf das Wollen und Laufen des Menschen an, sondern auf den sich erbarmenden Gott" (Römer 9,14-16).
Die Römer waren grausame Kolonialherren, doch religiös tolerant. Die unterjochten Völker ihres Reiches durften weiter ihre angestammten Kulte ausüben. Man kann auch über eine antike Globalisierung sprechen, in der Personen aus den eroberten Ländern das römische Bürgerrecht erhalten durften und weiter Religionsfreiheit genossen. Doch mit der Herausbildung des Heidenchristentums verweigerten gebürtige Römer im Kernland sowohl den zur Staatsraison gehörenden heidnischen Opferkult wie auch die Huldigung des vergötterten Kaisers. Das führte zu Christenverfolgungen.
Kaiser Konstantin
Bild: ©Septimus/Fotolia.com
Kaiser Konstantin beendete die Christenverfolgung.
Die Juden genossen weiter die Privilegien einer "religio licita", das den Neid der verfolgten Christen erweckte, erklärt Hans Hermann Henrix (Jg. 1941), ein bekannter Name im christlich-jüdischen Dialog, in seinem Buch "Israel trägt die Kirche". – Nach dem jüdischen Aufstand gegen Rom (66-70 n. Chr.) verlor sich die Spur der Judenchristen, und allmählich bestand die Kirche nur noch aus Heidenchristen. – Wegen ihrer bewaffneten Rebellion verscherzten sich auch die Juden die religiöse Toleranz der römischen Obrigkeit. Nach der Niederwerfung des zweiten und letzten jüdischen Aufstandes unter Bar Kochba (132 n. Chr.) griffen die Römer hart durch: Das Studium der Tora sowie deren Gebrauch im Gottesdienst wurden unter Todesstrafe verboten. Diese politisch bedingte Missgunst überschlug sich bei den Heidenchristen im Laufe der Zeit ins Religiöse.
Das Konstantinische Toleranzedikt (313) gewährte auch den Christen die freie Ausübung ihres Glaubens. Kaiser Konstantin (285-337) erkannte, dass nur eine einheitliche Religion das durch interne Machtkämpfe erschütterte und von den Barbaren bedrohte spätrömische Reich stabilisieren könne, und unterstützte deshalb die junge Kirche. Er nahm 325 auch am Konzil von Nicäa teil, das dem Christentum seine erste dogmatische Prägung gab. Doch ob er sich – wie in der christlichen Tradition angenommen – vor seinem Tod taufen ließ, ist historisch umstritten. Eine Generation später erklärte Kaiser Theodosius I. (380) das Christentum zur Staatsreligion. Er verbot alle heidnischen Kulte und erließ Restriktionen auch gegen die Juden des Römischen Reiches.
Ungerechter Vorwurf
Zu Unrecht hat die Nachwelt dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430) Intoleranz vorgeworfen. Durch die antike Globalisierung im spätrömischen Reich vermischten sich christliche Inhalte mit heidnischen Elementen, und es kam zu Mischkulten, wie Arianismus, Donatismus usw. Augustin selber war lange Zeit ein Anhänger des Manichäismus, einem aus dem Altpersischen stammenden dualistischen und mit christlichen Elementen verkoppelten Glauben. Die junge Kirche war damals in der gleichen Lage wie die jüdischen Exilanten in Babylon: Man musste die Reinheit des Glaubens vor heidnischen Einflüssen bewahren, und Augustin nahm diesbezüglich auch den Schutz der staatlichen Gremien in Anspruch. Doch man darf seine Haltung nicht mit den späteren Machtansprüchen der Kirche vergleichen, als diese bereits mit den weltlichen Mächten eng verwoben war.
Augustin hatte schon zu Beginn des fünften Jahrhunderts nach Christi Geburt die Irrwege der Kirchengeschichte vorausgesehen. In seinem Spätwerk "De civitate Dei" ("Der Gottesstaat" betont der Kirchenvater, dass die christliche Kirche als "civitas terrena" eine irdische Institution sei und daher allen menschlichen Unzulänglichkeiten und Fehlern unterliege. Die "Heilige Katholische Kirche" sei gleichzeitig auch eine "sündige Kirche" mit Vertretern, die wie alle Menschen ebenfalls sündigen.
Von Monika Beck (KNA)
BONN ‐ An Pfingsten feiert die Kirche Geburtstag. Doch wie entsteht aus einer kleinen lokalen Gruppe um Jesus eine Weltreligion? Dazu bedarf es vieler einzelner Schritte und politischer Rahmenbedingungen. Ein Streifzug durch die Geschichte.
Die heiligen Bücher der Religionen, auch das erste und zweite Testament der Bibel, wollen zu allererst Glauben vermitteln und weniger historische Tatsachen berichten. Um den Glauben geht es auch in der Exegese der heiligen Texte. Aus der rabbinischen Predigt ist eine literarische Gattung hervorgegangen, das Midrasch. Darin werden Glaubensinhalte durch Erzählungen zum Ausdruck gebracht. Um die Geburt des historischen Jesus von Nazareth nach Bethlehem zu verlegen, der Stadt Davids, wo der Messias aus dem Stamm Davids das Licht der Welt erblicken soll, benutzen die Evangelisten das Midrasch und beziehen sich auf die Voraussagen der Propheten.
Über die bei Lukas beschriebene Volkszählung, die den Bewohnern der römischen Provinz Judäa den Befehl aufgetragen hätte, sich in Steuerlisten einzutragen, ein jeder am Herkunftsort seines Stammes, gibt es keine historischen Angaben. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass ein bodenständiger Handwerker seiner hochschwangeren Frau die Strapazen einer solchen Reise zumuten könnte. Matthäus, der Autor des ersten der vier kanonisierten Evangelien, bezieht sich auf die göttliche Verkündung durch den Propheten Micha über die führende Rolle der kleinen Ortschaft Bethlehem-Efrata unter den Städten Judas, "denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirte meines Volkes Israel" (Matthäus 2,6).
Micha prophezeit auch, dass Gott durch diesen Gesandten "in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes" die Götzenbilder vernichten werden, damit niemand sich mehr vor ihnen niederwerfe (vgl. Micha 5,1-14). Matthäus bekräftigt die universal ausgerichtete Bedeutung der Geburt des Gesalbten durch das Midrasch von den drei Sterndeutern "aus dem Osten", die von einem Kometen geleitet – der im Volksglauben als Vorbote eines besonderen Ereignisses am Himmel erscheint – zu Jesus in Bethlehem gelangen und ihm mit den im Altertum teuersten Abzeichen der weltlichen sowie der sakralen Macht huldigen: Gold, Weihrauch und Myrrhe (vgl. Matthäus 2,1-11). Die erzählerische Verlegung der Geburt Jesu nach Bethlehem, bezeichnet Schalom Ben Chorin (1913-1999) als einen Beweis der Historizität eines charismatischen Tannaiten (Tora Auslegers) und Wanderpredigers namens Jeschua (Jesus) Ben Josef aus Nazareth.
Entfesselte Naturgewalten
Die Offenbarung am Sinai wird bildhaft in ein gewaltiges Walten der Naturkräfte gefasst: "Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte" (Exodus 20,18). In den beiden ersten Evangelien wiederholt sich bei der Kreuzigung Jesu das Bild der entfesselten Naturgewalten: "Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich" (Matthäus 27,51). Bei Markus bricht die "Finsternis über das ganze Land herein", Vorbote eines heftigen Wolkenbruchs (vgl. Markus 15,33). Dabei riss "der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei" (vgl. Matthäus 27,51 und Markus 15,38). Das Gotteshaus öffnet sich für die Welt gemäß der Prophezeiung: "denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden" (Jesaja 56,7). Die Beseitigung der schwerwiegenden Sünde des Götzendienstes verlangt auch den freiwilligen Märtyrertod, hebräisch als "Kiddusch Ha Schem", "Heiligung des göttlichen Namens", gedeutet.
Rabbiner Leo Baeck (1873-1956), eine bedeutende Persönlichkeit des liberalen Judentums, schreibt in seinem Hauptwerk "Das Wesen des Judentums": "Der Mensch, der ein Märtyrer wird, richtet seine Liebe zu Gott über sein Dasein, er lässt den ewigen Wert seiner Seele sprechen". Ben-Chorin nennt die an Israel als Gottesknecht gerichteten Prophetenworte: "Ich mache dich zum Licht der Nationen; / damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht" (Jesaja 49,6), als Sinn und Aufgabe der Auserwählung des jüdischen Volkes. Der greise Simeon nannte im Tempel zu Jerusalem den neugeborenen Jesus: "Ein Licht, das die Heiden erleuchtet, / und Herrlichkeit für dein Volk Israel" (Lukas 2,32). Die Herrlichkeit des Gottesvolkes besteht darin, zum "Licht der Völker" ("Or Gojim" zu werden.
Bild: ©katholisch.de/cph
Jesus begeht auf Golgatha das jüdische Martyrium, das "Kiddusch Ha Schem".
Israel als Gottesknecht und Jesus als Gottesknecht fallen zusammen. Jesus begeht auf Golgatha das jüdische Martyrium, das "Kiddusch Ha Schem". Durch seinen freiwilligen Opfertod wird weltweit der Götzendienst beseitigt. In diesem Sinne verabschiedet sich der Auferstandene von seinen Jüngern mit den Worten: "geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern" (Matthäus 28,19). Die Wiederbelebung der Toten sei ein jüdisch-pharisäisches Glaubenserlebnis, erklärt Pinchas Lapide (1922-1997) in "Auferstehung – Ein jüdisches Glaubenserlebnis", und Ben Chorin bezeichnet die Auferstehungsberichte im Neuen Testament als "Superpharisäertum" ("Bruder Jesus – Der Nazarener aus jüdischer Sicht". Die Auferstehung aller Verstorbenen wird in der Endzeit mit der Ankunft des Messias erwartet. Der Glaube an Jesus als den Ersten, den Gott von den Toten erweckt hatte, bezeugt die messianische Prägung des Frühchristentums.
Das Universale wird im "Pfingstwunder" bestätigt, als die "Feuerzungen" sich auf die Jünger niederlassen, am Schawuot, einem Wallfahrt-Fest nach Jerusalem zur Erinnerung an die Sinai-Offenbarung (vgl. Apostelgeschichte 2,1-2); eine Parallele zu der göttlichen Berufung des Mose aus "einer Feuerflamme mitten im Dornbusch", der brannte ohne verzerrt zu werden" (vgl. Exodus 3,1-2). Die Jünger "wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab" (ebenda 2,4). Gottes ewiger Schöpfungsgeist, hebräisch "Ruach" (auch Wind, Windhauch und Wehen), der in der Schöpfungsgeschichte über die "Urflut" schwebte (vgl. Genesis 1,2), kommt mit einem Brausen über die Jünger Jesu, als Zeichen zum Neuaufbruch.
Auferstehung der Toten als "Zankapfel"
Der Historiker Michael Wolffsohn (Jg. 1947) berichtet in seinem Buch "Eine andere jüdische Geschichte", dass dem großen Aufstand gegen Rom (66-70 n. Chr.) ein interner jüdischer Bürgerkrieg zwischen der sadduzäischen Aristokratie und der pharisäischen "Bourgeoisie" vorausgegangen war. Das kann man auch aus den Machtkämpfen zwischen der "Partei der Sadduzäer" und der "Partei der Pharisäer" in der Apostelgeschichte entnehmen; es sind die sadduzäischen Hohepriester, die mit den Apostel und den anderen Anhängern Jesu in Konflikt geraten.
Die Pharisäer, die in der Nachfolge Jesu "gläubig geworden waren", rührten auch an einem heiklen "Zankapfel": Die Auferstehung der Toten, die die sadduzäischen Priester leugneten, verkündeten sie als ein bereits stattgefundenes Ereignis. Im Sanhedrin gab es auch eine pharisäische Opposition. Als die Hohepriester die Apostel vor den Hohen Rat stellten, erreichte der Pharisäer Gamaliel, "ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer", durch sein diplomatisches Argumentieren deren Freilassung (vgl. Apostelgeschichte 5, 34-40).
Steinigung des Stephanus, des ersten christlichen Märtyrers
Bild: ©picture-alliance/akg-images/Andre Held
Der heilige Stephanus gilt als erster Märtyrer des Christentums.
Leider hatte die christliche Exegese das Neue Testament mit vorgefassten antijüdischen Ressentiments in einer schwarz-weiß Malerei "Juden und Christen" ausgelegt, ohne den historischen Bestand zu berücksichtigen, dass die dargelegten Auseinandersetzungen von den internen jüdischen Konflikten herrührten, bedingt durch die damaligen politischen, gesellschaftlichen sowie geistigen Strukturen in der römischen Provinz Judäa.
Die Feindseligkeiten eskalieren nach der großen Rechtsfertigungsrede des Stephanus mit Argumenten aus der gesamten biblischen Heilsgeschichte, um zum Schluss die Sadduzäer mit den Worten anzugreifen: "Ihr Halsstarrigen, unbeschnitten an Herzen und Ohren" (vgl. Apostelgeschichte 7,1-53). Stephanus wird gesteinigt in Anwesenheit "eines jungen Mannes, der Saulus hieß" (vgl. Apostelgeschichte 7,58) und mit "seiner Ermordung einverstanden war" (ebenda 8,1). Dieser Saulus galt als ein entschiedener Gegner der neuen Bewegung.
Steinigung des Stephanus als Beginn des Seelenumschwungs
Was vor den Toren von Damaskus wirklich geschehen war, "bleibt ein Geheimnis der Seele des Paulus", schreibt Ben Chorin in seinem Buch "Paulus – Der Völkerapostel aus jüdischer Sicht". Der seelische Umschwung sei ein psychologischer Prozess gewesen, begonnen mit der Steinigung des Stephanus, der mit den Worten starb, "Herr Jesus Christus, nimm meinen Geist auf (...). Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an" (Apostelgeschichte 7,59-60). Saulus-Paulus – nach Ben Chorin trug er als römischer Bürger einen Doppelnamen – war ein Mensch der Extreme, der eine Aufgabe, deren Richtigkeit ihn überzeugte, mit Leidenschaft ausführte. Die Briefe des Völkerapostels sind älter als die Evangelien. Erst Paulus öffnete der als Wirkungsgeschichte des Jesus von Nazareth entstandenen messianischen Bewegung den Weg zu einer eigenständigen Religion.
Das Judentum ist heute keine missionarische Religion. Doch im Sinne des biblischen Auftrags, das Heil Gottes "bis an das Ende der Erde" zu bringen (vgl. Jesaja 49,6-7), hatten die Juden im Altertum durchaus missioniert. Eine Gruppe von Heiden, "die Gottesfürchtigen", die keine oder noch keine Proselyten (Konvertiten) waren, doch sich für das Judentum interessierten, durften an den Synagogen-Gottesdiensten teilnehmen und sich auch im Vorhof des Tempels aufhalten unter der Voraussetzung, dabei jegliches heidnisches Handeln zu unterlassen. Paulus predigte meistens in den Synagogen der jüdischen Diaspora. Die "Gottesfürchtigen" waren die ersten Heiden, die der Völkerapostel mit seiner Botschaft erreichte, und bildeten die Keimzelle des Heidenchristentums.
Bild: ©picture-alliance/Rainer Hackenberg
Der heilige Paulus war einer der ersten christlichen Theologen.
Die christlich oft vertretene Meinung, Paulus hätte sich vom Judentum abgewandt, ist ein Irrtum. Denn der Völkerapostel stand noch fest auf jüdischem Boden, und zwar im Sinne des Messianismus. Er war von der Parusie noch zu seinen Lebzeiten überzeugt: "Denn wer ist unsere Hoffnung, unsere Freude, der Kranz unseres Ruhmes vor Jesus unserem Herrn bei seiner Ankunft? Nicht etwa auch ihr?" (1 Thessalonicher, 2,19). Mit der Wiederkunft Jesu werde gemäß der Prophezeiung, "das Ende der Tage" anbrechen", und eine erlöste Menschheit werde die "Schwerter zu Pflugscharen" sowie die "Lanzen zu Winzermessern" umschmieden, und "sie werden" nicht mehr "den Krieg erlernen" (vgl. Jesaja 2,2-4).
Auch die Worte des Paulus über das "Ende des Gesetzes" sind jüdisch messianisch, denn mit der Ankunft des Messias werde die Tora durch die endgültige Gottesherrschaft ersetzt. Paulus erwähnt den historischen Jesus, den er nicht persönlich kannte, nur knapp: "geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt" (Galater, 4,4). Er verkündete den eschatologischen Messias und dessen Neuankunft, um die Gottesschau "Angesicht zu Angesicht" (vgl. 1. Korinther 13,12) zu verwirklichen. Sein Streben war auf eine von Israel ausgehende nahe universale Eschatologie ausgerichtet. Doch durch seinen messianisch beflügelten Eifer hatte Paulus die Grundfeste einer neuen Religion gelegt.
Irrtum des Völkerapostels?
Ist das Christentum aus einem Irrtum des Völkerapostels entstanden? Diese Frage kann man mit den Worten des Völkerapostels beantworten: "Was wollen wir nun sagen? Handelt Gott ungerecht? Keineswegs! Denn zu Mose sagt er: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will. Also kommt es nicht auf das Wollen und Laufen des Menschen an, sondern auf den sich erbarmenden Gott" (Römer 9,14-16).
Die Römer waren grausame Kolonialherren, doch religiös tolerant. Die unterjochten Völker ihres Reiches durften weiter ihre angestammten Kulte ausüben. Man kann auch über eine antike Globalisierung sprechen, in der Personen aus den eroberten Ländern das römische Bürgerrecht erhalten durften und weiter Religionsfreiheit genossen. Doch mit der Herausbildung des Heidenchristentums verweigerten gebürtige Römer im Kernland sowohl den zur Staatsraison gehörenden heidnischen Opferkult wie auch die Huldigung des vergötterten Kaisers. Das führte zu Christenverfolgungen.
Kaiser Konstantin
Bild: ©Septimus/Fotolia.com
Kaiser Konstantin beendete die Christenverfolgung.
Die Juden genossen weiter die Privilegien einer "religio licita", das den Neid der verfolgten Christen erweckte, erklärt Hans Hermann Henrix (Jg. 1941), ein bekannter Name im christlich-jüdischen Dialog, in seinem Buch "Israel trägt die Kirche". – Nach dem jüdischen Aufstand gegen Rom (66-70 n. Chr.) verlor sich die Spur der Judenchristen, und allmählich bestand die Kirche nur noch aus Heidenchristen. – Wegen ihrer bewaffneten Rebellion verscherzten sich auch die Juden die religiöse Toleranz der römischen Obrigkeit. Nach der Niederwerfung des zweiten und letzten jüdischen Aufstandes unter Bar Kochba (132 n. Chr.) griffen die Römer hart durch: Das Studium der Tora sowie deren Gebrauch im Gottesdienst wurden unter Todesstrafe verboten. Diese politisch bedingte Missgunst überschlug sich bei den Heidenchristen im Laufe der Zeit ins Religiöse.
Das Konstantinische Toleranzedikt (313) gewährte auch den Christen die freie Ausübung ihres Glaubens. Kaiser Konstantin (285-337) erkannte, dass nur eine einheitliche Religion das durch interne Machtkämpfe erschütterte und von den Barbaren bedrohte spätrömische Reich stabilisieren könne, und unterstützte deshalb die junge Kirche. Er nahm 325 auch am Konzil von Nicäa teil, das dem Christentum seine erste dogmatische Prägung gab. Doch ob er sich – wie in der christlichen Tradition angenommen – vor seinem Tod taufen ließ, ist historisch umstritten. Eine Generation später erklärte Kaiser Theodosius I. (380) das Christentum zur Staatsreligion. Er verbot alle heidnischen Kulte und erließ Restriktionen auch gegen die Juden des Römischen Reiches.
Ungerechter Vorwurf
Zu Unrecht hat die Nachwelt dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430) Intoleranz vorgeworfen. Durch die antike Globalisierung im spätrömischen Reich vermischten sich christliche Inhalte mit heidnischen Elementen, und es kam zu Mischkulten, wie Arianismus, Donatismus usw. Augustin selber war lange Zeit ein Anhänger des Manichäismus, einem aus dem Altpersischen stammenden dualistischen und mit christlichen Elementen verkoppelten Glauben. Die junge Kirche war damals in der gleichen Lage wie die jüdischen Exilanten in Babylon: Man musste die Reinheit des Glaubens vor heidnischen Einflüssen bewahren, und Augustin nahm diesbezüglich auch den Schutz der staatlichen Gremien in Anspruch. Doch man darf seine Haltung nicht mit den späteren Machtansprüchen der Kirche vergleichen, als diese bereits mit den weltlichen Mächten eng verwoben war.
Augustin hatte schon zu Beginn des fünften Jahrhunderts nach Christi Geburt die Irrwege der Kirchengeschichte vorausgesehen. In seinem Spätwerk "De civitate Dei" ("Der Gottesstaat" betont der Kirchenvater, dass die christliche Kirche als "civitas terrena" eine irdische Institution sei und daher allen menschlichen Unzulänglichkeiten und Fehlern unterliege. Die "Heilige Katholische Kirche" sei gleichzeitig auch eine "sündige Kirche" mit Vertretern, die wie alle Menschen ebenfalls sündigen.
Von Monika Beck (KNA)
Notre-Dame de Chrétienté, der Organisator, schreibt, dass diese Übertragungen Hunderttausende von Franzosen erreicht haben. Der Bischof von Nanterre, Matthieu Rougé, begrüßte die Pilger und begleitete sie auf ihrem Weg durch seine Diözese.
Kardinal Müller wird morgen in der Kathedrale von Chartres die Abschlussmesse der Pilgerreise feiern.