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"Was uns zu dem macht, wer wir sind."

"Was uns zu dem macht, wer wir sind."


"Was uns zu dem macht, wer wir sind."

Episodenbeschreibung:
»Wie wir hören werden, ist es für ein psychoanalytisches Verständnis wichtig, dass jedes Identitätsgefühl auch einen unbewussten Begleiter, einen Schatten hat: das ungelebte Leben, die Möglichkeiten, die man nicht gewählt hat, die Anteile des eigenen Selbst, die man nicht lebt«

These:
„Veränderung bedeutet, sich wieder zu finden“

Eine gelungene Identitätsbildung bedeutet, daß ein junger Mensch eine innere Stabilität erwirbt, ein Gefühl dafür, wer man ist. Etwa, was sich nach Erickson vor allem an einem Umstand ablesen läßt, die Fähigkeit zur Treue. Treue bedeutet an einer Sache festzuhalten über ihren bloßen Nutzwert hinweg, sie nicht fortzuwerfen, weil sie gerade frustrierend ist oder anderes vielversprechender scheint. Also in gewisser Hinsicht ein Handeln Aufgrund von inneren Überzeugungen. Eine Person tut etwas, weil es mit ihrer inneren Welt stimmig ist, nicht nur, weil es im Augenblick vor oder nachteilhaft scheint. Eine Identität, die chronisch diffus bleibt, zeigt sich nach Erickson (1902-1994) vor allem in einer hedonistisch beliebigen Haltung. Man könnte auch sagen, die innere Welt organisiert sich nach dem Lust- Unlust Prinzip. Beziehungen aber auch eigene Interessen, Einstellungen, Bindungen aller Art annehmen und abstoßen, wenn sie zu viel Unlust bereiten. Eine Haltung zur Welt, die sich durchaus auf die Erfordernisse des Turbokapitalismus reimt, wie Richhard Sennett in seiner berühmten Studie „Der flexible Mensch“ ausbuchstabiert hat. Die Gegenbewegung wäre ein starres Festhalten und demonstratives Betonen der eigenen Identität, was nicht minder auf eine innere Unsicherheit verweisen kann. Letztlich gibt es so eine fest gefügte unveränderliche Identität nicht. Es gilt der psychoanalytische Grundsatz, daß in unserem seelischen Haus immer mehrere Personen wohnen. Für die Frage der Identität hat dies in besonderer Weise der Psychoanalytiker Gerhard Schneider in seinen Arbeiten formuliert. Nach Schneider hat die Identität eines Menschen immer zwei Aspekte, die sogenannte Positivität und die Negativität. Mit Positivität meint Schneider die Aspekte der eigenen Identität, die gewissermaßen festlegen und setzen, was man ist. Ich bin ein Mann, habe diesen Beruf auf diesen Titel, habe diese Geschichte, mich zeichnet aus, daß ich dieses oder jenes gut kann oder gerne mag.

Die Positivität der eigenen Identität sagt mir, wer ich bin, stellt auf diese Weise ihre Ordnung und Stabilität her. Nach Schneider gehört zu jeder Identität aber immer auch eine andere Seite, um zu wissen, wer wir sind, müssen wir immer auch etwas ausschließen, was wir nicht sind. Wir können nur ein bestimmtes Ich sein, indem wir andere Ichs, die wir auch sein können, von ihrer Verwirklichung abhalten. Dies bezeichnet Schneider als die Negativität der Identität, also das, was wir nicht sind, was wir aber dies ein entscheidender Gesichtspunkt sein könnten, oder zumindest hätten werden können. 

Die Negativität überschneidet sich durchaus mit dem, was der Psychoanalytiker C. G. Jung den Schatten genannt hat. Das ungelebte Leben, die Möglichkeiten, die man nicht gewählt hat, die Anteile am eigenen Selbst, die man nicht lebt. Diese Selbstanteile verschwinden in psychoanalytischer Vorstellung nicht, sondern werden unbewußt, bilden so etwas wie ein Begleiter im Unbewußten, dem Schatten. Ein Mann, der in betonter Weise ein männliches Rollenbild lebt, nur vermeintlich männliche Eigenschaften an sich gelten läßt, erwirbt somit einen ausgeprägten weiblichen Schatten, wenn man so will, die verdrängten weiblichen Anteile, die eigentlich auch zu ihm gehören. Der Schatten kann ihn verfolgen, zeigt sich z.B. in einer ausgeprägten Angst, seine Männlichkeit zu verlieren, vermeintlich schwach zu werden, wenn er nicht dauerhaft demonstriert, daß er ein Mann ist. Der Schatten kann im Traumleben eines Menschen erscheinen, vor allem dann, wenn man keinen inneren Frieden mit ihm gefunden hat. Etwas, wenn das Ungeliebte nicht betrauert, sondern als ruheloser Dämon in der eigenen Seele rege bleibt oder ein Selbstanteil dauerhaft unterdrückt, nicht zum Leben kommen kann. Der Schatten, die Negativität der Identität ist da mit aber zugleich ein Raum der Möglichkeit, sich selbst noch einmal anders zu erfahren. Für den Mann etwa, eine weichere, sensiblere Seite an sich etwa zu entdecken, die es ihm ermöglichen würde, in eine tiefere Beziehung mit anderen und mit sich selbst zu kommen oder vielleicht offener und entspannter und ausgeglichener leben und sich selbst sein zu können. Gerade an den Lebensschwellen rühren sich die Schatten der eigenen Identität, wird das andere, unbewußte Ich fühlbar. [Zeitstop: 25:19]
...
Die Frau in dem Beispiel ist irritiert über ihre Träume, war sie doch eigentlich zufrieden mit ihrer Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, warum träumt sie denn nur so etwas. Vielleicht tut sie das ab, drängt jenes irritierende Moment bei Seite, vielleicht läßt sie sich auch auf das ein, was in ihr rege wird. Fühlt der Frage nach, die sich in ihrem Innern stellt. Es kann um das Betrauern einer Lebensmöglichkeit gehen, dem Wunsch, daß eine Seite in ihr, dem Alter nahe, vielleicht doch auch gerne Kinder gehabt hätte. Vielleicht geht es aber auch um die Frage der Generativität. Sie bemerkt an sich, daß es ihr wichtig ist, etwas an die spätere Generation weiter zu geben. Etwas von ihrem angesammelten Leben schenken, daß in anderen fortwirkt. Vielleicht ist dies ein Aspekt ihrer selbst, dem sie bislang wenig Raum gegeben hat. Es geht nicht nur um die leiblichen Kinder und an die Kinder im übertragenen Sinn, um die sich in der Sprache des Traums doch noch kümmern muß, die sie nicht vergessen darf. Wenn die Frau sich mit dieser Frage auseinandersetzt, findet sie möglicherweise Zugang zu einem anderen Teil ihrer selbst, erfährt sich jenseits der Lebensschwelle noch einmal neu. Dies könnte genauso gültig sein, wenn die Frau Mutter ist, dann könnte es dann um das ungelebte Leben und die verdrängten Anteile ihres Selbst gehen, die vor ihrer Identität als Mutter zurückgetreten sind. Vielleicht liegt hierin überhaupt das Geheimnis jenes viel zitierten Zaubers des Anfangs, ohne den es nicht möglich ist, die Stufen des Lebens zu gehen, daß man sich nicht bewahren kann, ohne sich zu verändern, aber Veränderung zuletzt bedeutet sich wiederzufinden.

[www.psy-cast.org]

Kommentare

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paloma 19.05.2024 20:02
Interessant.Das ganze Leben ist ja geprägt von Entscheidungen.Wähle ich etwas,wähle ich automatisch die Alternative ab....meist tangiert uns das nicht besonders,da wir ja in der Regel das Favorisierte wählen.
Allerdings bringen einige Entscheidungen auch Verzicht mit sich ,der zu einem späteren Zeitpunkt auch Bedauern hervorbringen kann.

D.h. man sollte sich versöhnen mit der eigenen Wahl u Ungelebtes,das sich nicht immer nachholen lässt,annehmen.

Würde das Annehmen die " Schatten" nicht verringern,da sie bewusst sind?
 
Zeitzeuge 19.05.2024 21:01
Danke @ paloma, für deine Gedanken zum Thema.

Thesen:
„Diese Selbstanteile verschwinden in psychoanalytischer Vorstellung nicht, sondern werden unbewußt, bilden so etwas wie ein Begleiter im Unbewußten, dem Schatten.“

„Der Schatten, die Negativität der Identität ist damit aber zugleich ein Raum der Möglichkeit, sich selbst noch einmal anders zu erfahren.“

Wichtig scheint mir, wenn man erkennt, dass das auch zu mir gehörende, nicht gelebte Talent der so bezeichnete „Schatten“ - was mir auch der Schöpfer mitgegeben hat - nicht als etwas Negatives in mein Unterbewußtsein ablege, es also unter anderem auch durch entsprechendes Betrauern oder Trauern wie bei einem lieben Verstorbenen überwinden kann, bevor es Bestandteil von unbewältigten Träumen wird.

Der ermutigende Gedanke für mich als Fazit dabei ist:

… „Veränderung besonders im Alter ist weiterhin möglich, sich wieder- und neu zu erfinden.“
 
Zeitzeuge 20.05.2024 05:21
Wahrnehmung:
Danke HERR für die neuen Impulse, die im Austausch von Gemeinschaft entstehen bzw. zu einem Geschenk deiner Freundlichkeit und Güte zu einem erweiterten Horizont anregen. Verpasste auch bisher nicht gelebte Talente müssen einen nicht traurig stimmen, du schenkst in deiner Gegenwart Vertrauen und Liebe für einen Neuanfang.
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