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Weihnachten im Kessel

Weihnachten im Kessel


Vor einem Monat ist mein Papa gestorben.
Nach einem langen Leben, das in den letzten Jahren von einer unerbittlich fortschreitenden Erkrankung mitgeprägt wurde, nicht völlig unerwartet.
Aber für mich dann doch sehr plötzlich.

Dienstagnachmittag war ich noch bei ihm gewesen und hatte mich mit den Worten verabschiedet: “Bis nächste Woche, Papa. Dann scannen wir die Fotos ein.“ In der Nacht auf Donnerstag rief mich dann meine Schwester an: „Uta, Papa ist tot.“
Er war Dienstagabend eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Der von den Ärzten prognostizierte Erstickungstod ist ihm - Gott sei Dank - erspart geblieben.
Mein Vater hatte keine Angst vor dem Tod, wir haben uns gerade in den letzten Monaten offen darüber unterhalten, was wohl danach kommt. Vor 30 Jahren, als ich mich entschieden hatte, an Gott zu glauben, haben wir auch die ein oder andere hitzige Diskussion darüber geführt. Wir haben überhaupt gerne miteinander diskutiert. Meinem Glauben begegnete er mit großer Skepsis, er ging davon aus, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Und wenn doch, sei er neugierig darauf.

Ich wünsche ihm, dass er angekommen ist.
Er sah so aus, angekommen, sehr friedlich, nachdem er in seinem Lieblingssessel seinen letzten Atemzug getan hatte.

Genau gegenüber von diesem Sessel, der aufgrund der Schmerzen und des zunehmend eingeschränkten Bewegungsradius‘ meines Vaters schließlich sein Lieblingsplatz geworden war, hatte er sich letztes Jahr Weihnachten einen Zeitungsartikel mit einem Bild an die Schrankwand gepinnt. Was eigentlich gar nicht seine Art war. Normalerweise wurden ihm wichtige Zeitungsartikel gesammelt und thematisch sortiert ordentlich abgeheftet. Bilder, die aufgehängt werden sollten, gehörten in einen Glasrahmen. Auch das Motiv überraschte mich sehr, normalerweise waren es Erinnerungen von seinen vielen Reisen, kalligraphische Koransuren oder buddhistische Büffelleder-Nang-Fas, die seine Wände schmückten.



„Papa, warum hast du dir denn eine Maria mit Jesuskind aufgehängt?“
Es war die „Stalingradmadonna“, die „Madonna im Kessel“, die er in seinem letzten Lebensjahr in seine alltägliche Blickrichtung geheftet hatte.

Der evangelische Pastor und Lazarettarzt Kurt Reuber hatte sie 1942 im erbittert umkämpften Stalingrad für seine Kameraden angefertigt: auf der Rückseite einer russischen Landkarte als Holzkohlezeichnung. Die Lage für die deutschen Soldaten war aussichtslos, von der roten Armee eingekesselt, inmitten von Kälte (bis zu -40 Grad), Bomben, Hunger, Verzweiflung und Tod entstand dieses Bild: Maria, die von ihrem Mantel geschützt, einen Raum der Geborgenheit, des Friedens und der Liebe für sich und ihr Kind gefunden hat. Kurt Reuber enthüllte seine Zeichnung Heiligabend 1942 während einer kurzen Andacht in einem engen Bunker unter feindlichem Beschuss.

Mein Vater beantwortete mir meine Frage nur mit einem kurzen Satz:
„Es gibt Menschen, die in einer schier aussichtslosen, verzweifelten Lage noch Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen.“
Auch mein Papa hat das auf seine Art, in seinem zuletzt sehr eingeengten Aktionsradius, getan. Und uns allen damit den Abschied zugleich einfacher und auch schmerzlicher gemacht.

Jetzt ist er mir diesen einen, großen Schritt voraus.
Ich vermisse ihn sehr.
Und frage mich, wo er jetzt ist?
Wer von uns beiden wohl recht hat?
Ich würde mich sehr freuen, ihn dereinst einmal wieder zu sehen.
Und die Stalingrad Madonna hat jetzt auch einen Platz an meiner Wand gefunden.

Kommentare

 
Schirin 24.12.2023 13:50
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