wunderschöne russische Sage

wunderschöne russische Sage
FASSADENKRATZER

Ilja und der Fremde
Die tiefe Verbindung zum auferstandenen Christus, die im vorigen Artikel 1 als eine besondere Veranlagung des russischen Volkes geschildert wird, kommt auch in seinen Sagen und Legenden zum Ausdruck. Eine davon ist eine alte russische Sage von „Ilja“. Als Krüppel geboren, fast gelähmt und dazu noch blind – doch sind wir das im Grunde nicht alle? – wird er von einem Fremden um Wärme, Brot und Wasser gebeten. Indem sich Ilja selbstlos zu bisher undenkbaren Anstrengungen überwindet, strömen ihm gewaltige gesundende Kräfte zu. War der Fremde derjenige, der verheißen hat: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan“? (hl)

ILJA
nacherzählt
von
Herbert Hahn2

In einer Bauernfamilie, in der sonst lauter starke und gesunde Kinder waren, wurde ein schwächlicher und gebrechlicher Knabe geboren. Es erwies sich bald, dass er seine Glieder kaum regen konnte und dazu auch blind war. In der Taufe erhielt er den Namen Ilja.

Ilja wuchs zum Jüngling heran, doch er blieb immer an das Bett gefesselt und konnte von den Spielen der Jugend kein einziges mitmachen. Aber er war guten Gemütes und lächelte, wenn er hörte, wie die anderen sich freuten. Eltern und Geschwister waren lieb zu ihm, doch oft, wenn die Arbeit drängte, mussten sie ihn ganz allein lassen. Dann sann er am liebsten über die schönen Heldengeschichten nach, die der Vater ihm an langen Winterabenden zu erzählen pflegte. „Ach ja“, seufzte er wohl ab und zu, „so reiten zu dürfen, die herrliche Welt zu sehen, Ungeheuer zu besiegen, Räuber zu strafen, was für eine Lust muss das wohl sein! Mir bleibt sie ein Leben lang versagt.“

Aber so ist Gottes Wille: den einen schafft er zum Helden, den andern lässt er zum Krüppel werden. Alles muss man hinnehmen aus seiner Hand und kann ihm nur danken dafür.

Eines Tages, als wieder die Erntezeit gekommen war, ging alles aufs Feld hinaus. Wie immer versorgte die Mutter den leidenden Sohn gut, gab ihm zu essen und zu trinken; dann eilte auch sie zur Arbeit.

Ilja lag ganz friedlich da. Nach einiger Zeit schien es ihm, als ob er vom Hof her Schritte hörte. Und wirklich kam es näher, schleppend und schwer, wie wohl jemand geht, der alt und müde ist. Die Tür wurde aufgemacht, und jemand trat ein, mühsam nach Atem ringend, und blieb einen Augenblick stehen. Dann schleppten sich die Schritte an Iljas Bett heran.

Ilja erschrak keinen Augenblick, sondern fragte nur: „Gott zum Gruß, wer bist du?“
„Gottes Dank“, erwiderte eine tiefe aber leise Stimme, „ich bin ein müder Wanderer.“
„Sei willkommen, Wanderer“ -, sagte Ilja, wie er oft von den Eltern gehört hatte. „Es ist mir leid, dass ich nichts für dich tun kann; aber ich kann ja nicht aufstehen. Raste immerhin ein wenig!“

Der Fremde schwieg eine Weile. Dann sprach er, und seine Stimme zitterte: „Ich kann jetzt nicht rasten. Der Morgen ist kühl, und ich bin schlecht bekleidet. Mich fröstelt. Wärme mich, Ilja!“
„Du kennst meinen Namen?“ rief Ilja erstaunt. „Bist du vom Dorf?“
„Ich bin nicht vom Dorf, ich komme weit her. Doch Gottes Engel haben die lieb, die reinen Herzens sind, und kennen alle ihre Namen. – So wärme mich doch, Ilja!“

Der Jüngling fühlte Erbarmen. „Nimm die Decke von meinem Bett“, sagte er freundlich, „und hülle dich ein!“
„Ich darf sie nicht nehmen, Ilja, du musst sie mir geben.“
„Aber ich kann ja die Arme kaum heben!“ sagte Ilja.
„Wenn du mir die Decke gibst, wirst du sie heben können. Tu´s nur immer!“

In dieser Stimme, so sanft sie klang, war etwas, das keinen Widerstand litt. Ungläubig zwar und wie um seinen guten Willen zu zeigen, machte Ilja eine schwache Bewegung. Doch siehe, er spürte ein wenig Kraft in Armen und Händen. Er konnte die Decke heraufziehen und dem Fremden zureichen, der nach ihr griff. Dann schienen die Arme Iljas ganz erschöpft zu sein und sanken herab.
„Gottes Dank!“ sagte der Fremde. Er schien sich einzuhüllen, und es entstand ein längeres Schweigen.

Da ertönte wieder die Stimme: „Ich bin hungrig, Ilja. Willst du mir nicht etwas zu essen geben?“
„Ich kann ja nicht aus dem Bett heraus, guter Fremder. Aber in der Ecke steht ein Schrank, dort hat die Mutter immer etwas Brot bereit. Geh nur und nimm dir davon!“
„Ich darf mir nicht selber Brot nehmen, du musst es mir reichen, Ilja!“
„Ach, ich habe mein Bett doch noch niemals verlassen“, seufzte der Jüngling.
„Verlass es nur jetzt“, sagte der Fremde: „Deine Beine werden dich tragen, wenn du mir Brot holst.“

Wieder gehorchte Ilja, und unter unsäglicher Mühe tastete er sich zum Bett heraus und kroch zum Schrank, den er lange nicht öffnen konnte. Aber es wurde ihm doch so viel Kraft gegeben, dass er das Brot langen und es dem Fremden reichen konnte. Dann schienen ihm fast die Sinne zu schwinden, und er sank auf sein Bett zurück.
„Gottes Dank“, sagte der Fremde wieder. Er aß bedächtig, und abermals wurde es still.

Doch ein drittes Mal wandte sich der Unbekannte an den Jüngling. „Ich habe Durst, Ilja. Willst du mir nicht zu trinken geben?“
„Frisches Wasser ist nur draußen im Brunnen auf dem Hof, dort wohin ich niemals gelangen kann. Sei doch so gut, lieber Gast, geh selbst hin und schöpf` dir welches!“
„Ich darf mir nicht selber Wasser schöpfen, du musst es mir bringen, Ilja!“
Jetzt wurde der Jüngling ganz traurig. „O, ich kann ja nicht einmal sehen, wo der Brunnen ist!“ rief er traurig. „Meine Augen sind blind.“
„Gott wird dich leiten, wenn du das Wasser suchst. Du wirst es finden.“

Noch einmal verließ Ilja sein Bett. Fast schien es ihm noch mühsamer als zuvor. Mit zitternden Händen ertastete er sich ein Gefäß, machte mit aller Anstrengung die Tür auf – und stieß erst gegen etwas ganz Großes und Hartes. Das Gefäß drohte ihm aus der Hand zu fallen.
„Geh nur unbeirrt weiter!“, rief von drinnen die Stimme des Fremden.
Ilja atmete tief. Er war wie betäubt von der frischen Luft, und doch schien es ihm selig, sie zu atmen. Und wirklich, es gelang ihm den Brunnen zu finden und das Wasser zu schöpfen.

Als er in völliger Unbeholfenheit am Brunnen hantierte, machte er so viel Geräusch, dass ein alter abgetakelter Gaul seinen Kopf zur Stallluke herausstreckte. Das Pferd war zu nichts mehr nütze und sollte nächstens an einen Schinder verkauft werden. Gleich Ilja war es zu Hause gelassen worden. Der Gaul hatte diesen ärmsten Sohn des Bauern noch nie zu Gesicht bekommen. Und, wer weiß, wie es zuging, er wieherte plötzlich.

Ilja hatte Freude daran, tappte sich zu dem Gaul heran, fuhr ihm mit seiner nassen Hand über das Maul und sagte: „Ja, ja, mein gutes Pferd, wir verstehen uns schon.“ Dann schleppte er sich wieder langsam zu seinem Gast zurück. Seine Hand konnte das schwere Gefäß schier nicht mehr halten, und sein Hemd war feucht vor lauter Anstrengung.

„Gottes Dank!“ sagte der Gast, nahm das Gefäß entgegen und trank. Er hatte den Jüngling an der Hand gefasst. „Nun trink auch, Ilja“, sprach er, und seine Stimme klang plötzlich hell wie Erz.
Ilja trank. – Und siehe, da knackte und krachte es in allen seinen Gliedern, sie reckten und streckten sich, und eine gewaltige Kraft fuhr in sie hinein. Er hatte aber gar nicht Zeit, darüber nachzudenken, denn der Fremde spritzte ihm jetzt von dem Wasser über beide Augen. – Es war zugleich wie ein Blitz und wie ein Sonnenaufgang. Als aber Ilja seine sehend gewordenen Augen auftat, war der Fremde verschwunden.

Behend sprang Ilja zur Tür hinaus, ob er ihn wohl noch erreichen könne. Da stieß er wieder an den Stein. Jetzt sah er, dass es ein riesiger Felsbrocken war, mannshoch und wohl drei Klafter breit.
„Ach, du warst es, der mich vorhin nicht vorbeigehen ließ“, sagte er lächelnd und warf ihn beiseite, als ob es ein Kieselstein wäre.

Der Fremde war nirgends zu erblicken, aber auf dem Hof stampfte ein feuriges Streitross, das wieherte, sobald es Ilja sah, und kam auf ihn zu, als wollte es ihn heißen aufzusitzen. Ilja wollte seinen Augen nicht trauen, schüttelte den Kopf und ging erst in den Stall, um nach dem Gaul zu gucken. Aber der war nirgends zu sehen. Und abermals wieherte das schmucke Ross, als er wieder herauskam. Da erkannte Ilja die Stimme, und er musste schließlich glauben, dass es das Pferd war, das er vorhin mit seiner nassen Hand gestreichelt hatte.

Vom Brunnen her glänzte ihm etwas entgegen. Er sah, dass da eine golden schimmernde Rüstung mit Schild und Schwert hingelegt war; auch neue Kleider lagen daneben. Ohne Zögern tat Ilja alles an, und siehe da, es saß wie angegossen.
Trotz der schweren Rüstung schwang er sich mit einem federnden Schwung aufs Pferd, und dieses trabte gleich los, als wisse es die Richtung schon von selber. Es trug seinen Reiter zu dem großen Weizenfeld, wo Iljas Eltern und Geschwister daran waren, die reife Frucht zu schneiden. Ein Viertel war geschnitten, und eben verschnauften sie sich ein wenig. Da sahen sie aus der Ferne den leuchtenden Ritter auf dem herrlichen Ross daherkommen. Der Glanz blendete ihnen schier die Augen.

„Gütiger Himmel!“, rief die Bäuerin, „das ist ja der Heilige Georg!“ Sie schickten sich schon an niederzuknien, das schrie plötzlich die jüngste Schwester in lautem Jubel auf. „Vater! Mutter! Das ist nicht der Heilige Georg, dort kommt ja unser Ilja!“
„Schwätz keinen Unsinn“, fuhr die Mutter sie an, „wie kann denn Ilja hierher kommen!“
Aber schon hielt der Reiter sein Ross an und sprang ab. „Vater, Mutter, ihr Lieben alle, erkennt mich doch, ich bin es ja, bin euer Ilja!“ – und er tat Helm und Rüstung ab, um sie nach Herzenslust zu umarmen. Sie aber waren vor Staunen noch immer wie erstarrt, ihren armen blinden Bettlägerigen so heil, so gesund, so herrlich angetan zu sehen.

Mit den Augen erblickten sie Ilja, aber in ihren Herzen dachten sie, es müsse doch wohl ein Engel sein. Da erzählte er ihnen rasch, wie der Fremde zu ihm gekommen und was geschehen sei.
Nun mussten sie es wohl glauben, und die Mutter schlug ein Kreuz und sagte: „Der Engel des Herrn hat dich selber aufgesucht, mein Sohn.“

Ilja aber klatschte freudig in die Hände und rief: „Ei, gibt es denn hier nichts zu tun? Meine Arme jucken mich, zeigt mir doch einmal, wie man auf dem Felde schafft!“
Sie mussten ihm alle recht geben; die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel. Rüstig gingen sie wieder ans Mähen. Nur eine kurze Weile schaute Ilja zu. Dann rief er: „Gebt mir doch auch einmal solch ein Ding in die Hand.“ Und er nahm eine Sense und begann auszuholen, wie sie noch nie einen hatten mähen sehen. Das ging wie der Blitz und so, dass niemand ihm folgen konnte. Nur von Zeit zu Zeit rief er: „Macht sie mir wieder scharf und gebt mir eine andere!“ Und im Nu hatte er den ganzen Weizen gemäht.

Immer wollte der Vater „Halt“ rufen, und als er endlich rief, war die Arbeit auch richtig zu Ende. „Halt“, sagte der Vater aber doch einmal. „So wird das nicht weitergehen. Ich sehe, dass du Zwölfmännerstärke hast, mein Sohn, und das ist für einen Landmann zuviel. Da wird nichts übrig bleiben, du musst ein Held werden!“
„Vater, darf ich das wirklich?“ rief Ilja jubelnd. Und er musste sich in acht nehmen, dass er den Vater nicht erdrückte, als er ihn in seine Arme schloss.

Sie begaben sich alle miteinander nach Hause. Ein kleines Fest wurde gefeiert, und auch die Nachbarn kamen, staunten und freuten sich mit. Nur die Mutter war traurig, denn sie ahnte wohl, dass sie Ilja werde hergeben müssen. Doch im Herzen dachte sie: „So ist es, so ist Gottes Wille – als Krüppel lässt er einen geboren werden und schafft ihn, wenn es sein soll, zum Helden. Einen Helden aber kannst du nicht halten, der muss hinaus in die Welt.“ Und damit tröstete sie sich auch wieder.

In dieser Nacht schliefen beide, Ilja und sein Streitross, zum letztenmal an der alten Stätte. Der eine in seinem vertrauten Bett, das ihm nur ein wenig zu kurz war. Das andere im gewohnten Stall, in dem es aber den Boden gewaltig zerstampfte.

Als alles still war, setzte sich der Vater noch ein wenig zu seinem Sohn. „Hast du dir auch schon überlegt, wenn du morgen ausreitest, Ilja, was für einen Spruch du dir auf deinen Schild schreiben willst?“
„Nein, Vater, in aller Eile habe ich noch gar nicht daran gedacht. Meinst du so etwas wie: ´Alle Falschen sollen zittern!` oder ´Mein Blut für Gott`?“
„Ja, du weißt es doch noch? Eine richtige Losung.“

Ilja schwieg eine Weile und überlegte. Noch einmal dachte er an das, was ihm heute Morgen begegnet war. Da wusste er seine Losung. Er blickte zum Vater auf und sagte: „Mein Spruch soll sein: Ich helfe den Schwachen.“

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