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Für alle Wahrheitsliebenden und Lügehassenden:Christenspiegel

Für alle Wahrheitsliebenden und Lügehassenden:Christenspiegel
Der dänische
Dichter und Denker Sören Kierkegaard (1813 -
1855) geißelt schonunglos und mit
überwältigender Wucht die Unbußfertigkeit der
bestehenden Christenheit. Er sah seinen
gottgegebenen Auftrag darin, den »Kriminalfall
Christenheit» aufzudecken und die Christen
anhand des NT zu messen. Mit scharfem Blick
erkannte er die Gefahr des kommenden
Massenzeitalters, und wie kaum ein anderer
betonte er Christus als den Verworfenen und
Gekreuzigten, der seinen Nachfolgern kein
besseres Leben auf der Erde verheißen hat. Diese
Neuauflage des »Christenspiegels« ist ein Bußruf
an die etablierte und verweltlichte ???Gemeinde???,...https://clv.de/Tatort-Christenheit/255265...in der Liebe zu dem der die Wahrheit ist verbunden,❤lichst,Ralf😘

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Sulzbacher 03.02.2022 16:01
Will einer zu mir sprechen: »Was du sagst, ist unwahr, du hast eine
verwirrte fehlerhafte Vorstellung vom Christsein«, so antworte ich:
»Mach mir das klar, so werde ich meine Auffassung ändern; wo nicht,
natürlich keinen Tüttel.«
Will die Jämmerlichkeit zu mir sprechen: »Gib dies Vorhaben auf,
widerrufe, was du getan, schone unser; diese Darstellung hängt wie
ein Grauen über uns, sie schraubt den Preis so hoch, daß es uns zur
Verzweiflung bringt«, so will ich antworten: »Nein, keinen Tüttel: auch
ich kenne den Schmerz darin, aber anders darf ich nicht und kann ich
nicht.«
Ich bitte zu Gott, daß er in der Hinsicht mir Herz und Gedanken
christlich hart machen möge oder mich christlich so abhärten möge,
daß ich nicht stümpere in menschlichem Mitleid. Will man mich verschrecken, damit ich mein Vorhaben aus Menschenfurcht aufgäbe oder
mit den Händen zuckte und das Bild verhudelte – ich bitte zu Gott,
daß er, möge die Gefahr nun kommen in Gestalt blutiger Verfolgung
oder in Gestalt von Hohn und Lachen und Spott, möge das Leiden
nun als leibliche Schmerzen über mich fallen oder als geistiger Schmerz,
ich bitte zu Gott, daß er mich stärken wolle, nicht um Haaresbreite zu
weichen von dem Wahren, das ich verstanden.
* * *
Um ein Wort über mich selbst zu sagen: Ich bin nicht, was die Zeit
vielleicht fordert, ein Reformator, auf keine Weise, auch nicht ein spekulativer, tiefsinniger Geist, ein Seher, ein Prophet, nein, ich bin – mit
Verlaub – ich bin ein in seltenem Maße ausgeprägtes Polizeitalent.
S. K
 
Sulzbacher 03.02.2022 16:05
Differenzierte Schriftsteller sind dadurch gekennzeichnet, daß ihre
Sätze, um sinntief und schön zu werden, genau in dem Zeitmaß und
genau in der Stimmung gelesen werden müssen, die der Autor beabsichtigt hat. Die schriftstellerische Kunst besteht dann darin, durch
Satzbau und Wortwahl, Klang und Rhythmus das richtige Zeitmaß
und die richtige Stimmung dem Leser gleichsam aufzuzwingen. In dieser Kunst ist Kierkegaard Meister. Seine Schriften wollen überaus langsam und mit einer Hingabe und Sammlung, die fast zur Versunkenheit wird, gelesen werden, und er versteht es, so zu schreiben, daß
dem hastenden und sich nicht persönlich ganz hingebenden Leser
nichts als Langeweile und Verwirrung entsteht. Es ist leichter, die
schwierigsten philosophischen Partien in Kant und Hegel ›diagonal‹
zu lesen, als eine Schrift Kierkegaards.
Emanuel Hirsch
 
Sulzbacher 03.02.2022 16:07
EINFÜHRUNG
Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich
ausspeien aus meinem Munde.« Diese und die folgenden Worte
aus dem Sendschreiben an Laodicäa (Offb. 3) las der junge Arzt Henrik Lund am Grab seines Onkels Sören Kierkegaard, nachdem in der
Kathedrale des Bischofs vor einer großen Menschenmenge der Trauergottesdienst stattgefunden hatte. Dort war außer dem Bruder Kierkegaards und dem Stiftspropst kein Geistlicher anwesend. Schäbig gekleidete Leute hatten sich um den Sarg gedrängt, und es hatte ganz
danach ausgesehen, als wollte das Volk gegen die Beschlagnahmung
dieses Mannes, der jeden Dienst der Staatskirche für sich schroff abgelehnt hatte, protestieren. Peter Kierkegaard jedoch, der das Anliegen
seines Bruders nie verstanden hatte, wußte alle Feindseligkeit taktvoll
zu besänftigen.
Aber auf dem Kirchhof erzwang sich Henrik Lund gegen den Willen
des Propstes Gehör. Mit der Bibel und einem Exemplar des Flugblattes
»Der Augenblick« in den Händen bestritt er mit heftigen Worten der
Kirche das Recht, den Verstorbenen für sich in Anspruch zu nehmen.
»Ich protestiere für meinen verstorbenen Freund in seinem und meinem Namen dagegen, daß unsere Anwesenheit hier als Teilnahme am
Gottesdienst der offiziellen Kirche ausgelegt werden soll, denn er ist
hierher gebracht worden gegen den Willen, den er oft bekundet hat.«
Daraufhin erinnerte ihn der Stiftspropst daran, daß das Gesetz nur
ordinierten Kirchendienern gestatte, bei einem Begräbnis zu reden,
worauf sich die Menge allmählich zerstreute.
Sechs Wochen vorher war Kierkegaard auf der Straße zusammengebrochen und ins Krankenhaus eingeliefert worden. Auf dem Sterbebett
weigerte er sich mit folgenden Worten, das Abendmahl aus der Hand
eines Pfarrers zu empfangen: »… Gott ist der Souverän, aber da kamen all diese Leute und wollten sich im Christentum die Sache nach
ihrer Bequemlichkeit einrichten – und die tausend Pfarrer – und nun
kann keiner selig sterben, ohne dazuzugehören – und so werden sie
zum Souverän und es ist ganz aus mit Gottes Souveränität. Aber IHM
muß in allem gehorcht werden.« Er starb dann im alleinigen Vertrauen auf die Gnade Gottes in Jesus Christus, um nun in der Ewigkeit
dem zu danken, den er geliebt hatte und dem er um jeden Preis gehorsam sein wollte.
»
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Er starb, nachdem er seine Lebensaufgabe für erfüllt sah und seine
Mittel aufgebraucht waren, am 11. 11. 1855. Der Rest seines flüssigen
Vermögens reichte gerade aus, seinen Krankenhausaufenthalt und das
Begräbnis zu bezahlen.
Kierkegaard ist Zeit seines Lebens und bis in unsere Zeit hinein im
allgemeinen nicht verstanden worden. Die Ursache liegt wahrscheinlich darin, daß man seine erbaulichen Schriften von den ästhetischen
Werken, die er unter verschiedenen Pseudonymen herausgegeben hat,
trennte. Kierkegaard selbst schrieb dazu folgendes: »Das große Werk
›Entweder – oder‹, das viel gelesen und noch mehr beredet wurde –
und dann ›Zwei erbauliche Reden‹ meinem verstorbenen Vater gewidmet … keiner achtete in tieferem Sinne auf die zwei erbaulichen Reden, keiner kümmerte sich um sie, ja, ich erinnere mich sogar, daß
einer meiner Bekannten zu mir kam und sich darüber beklagte, daß er
guten Glaubens hingegangen sei und sie gekauft habe, in dem Gedanken, sie müßten, da sie von mir seien, etwas Witziges und Geistreiches sein; ich erinnere mich auch, daß ich ihm versprach, er solle,
wenn er es wünsche, sein Geld zurückerhalten. Mit der linken Hand
reichte ich ›Entweder – oder‹ hinaus in die Welt, mit der rechten ›Zwei
erbauliche Reden‹; aber sie griffen alle, oder so gut wie alle, mit ihrer
rechten nach der linken Hand.«
Das Ergebnis ist, daß auch heute seine pseudonymen Werke aufgelegt und gelesen werden, während sein eigentliches Anliegen, seine
zeugnishaften Schriften, sein »eigentliches Wort an den Leser«, unbekannt geblieben und kaum verbreitet worden ist.
Am Ende seines Lebens schreibt er rückblickend dazu: »Unter dem
Namen eines Dichters brachte ich dann einige Ideale ans Licht, brachte das vor – ja, das, worauf eintausend königliche Beamte durch Eid
verpflichtet sind. Und diese guten Leute, die merkten gar nichts, sie
waren vollkommen sicher, in dem Maße war alles christlich, Geistlosigkeit und Weltlichkeit; diese guten Leute ahnten gar nicht, daß sich
hinter diesem Dichter etwas verbarg … Da verwandelte sich dieser
Dichter plötzlich, er warf – wenn ich so sagen darf – die Gitarre beiseite und – zog ein Buch hervor, welches heißt ›Das Neue Testament
unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi‹ und mit – ja wahrlich mit
einem Polizeiblick – gab er diesen guten eidbefestigten Lehrern, den
›Wahrheitszeugen‹, zu verstehen: ob es nicht dieses Buch sei, auf das
sie eidlich verpflichtet seien, dieses Buch, dessen Maßstab ein gut Teil
größer sei als der, den er (der Dichter) gebraucht habe? … Also ich zog
das Neue Testament hervor, gestattete mir, ergebenst daran zu erin-
11
nern, daß diese ehrenwerten Wahrheitszeugen durch Eid auf das Neue
Testament verpflichtet sind – und dann trat Schweigen ein. War das
nicht seltsam? Indes hielt ich es für das Richtigste, sie womöglich
noch eine Weile im Unklaren darüber zu lassen, wie gut ich unterrichtet sei, und in welchem Maße ich das Neue Testament auf meiner
Seite habe, was mir auch gelang, aber wessen mich zu rühmen mir
niemals einfallen könnte.
Ich redete da in meinem eigenen Namen, freilich immer entscheidender, weil ich sah, wie man es ständig gering achtete, daß ich zuerst
die Sache für den Gegenpart so günstig hinstellte, wie es mir möglich
war; und zuletzt unterfing ich mich, in meinem eigenen Namen zu
sagen, daß es eine Schuld, eine schwere Schuld sei, am öffentlichen
Gottesdienst teilzunehmen, wie er jetzt ist.«
Kierkegaard sah seine Aufgabe vor allem darin, die Christenheit zur
Buße zu rufen; den Weg zu zeigen, um Christ in der Christenheit zu
werden; die Nachfolge Christi als dankbare Antwort auf das Geschenk
der Sündenvergebung herauszustellen; die uneingeschränkte Anerkennung und Verwirklichung des Neuen Testamentes als alleinigen Maßstab für den Christen zu bewirken.
Mit scharfem Blick hat Kierkegaard die Gefahr des kommenden
Massenzeitalters erkannt und die Kategorie des »Einzelnen« vor Gott
betont. Wie kaum ein zweiter hat er außerdem Jesus Christus als den
Erniedrigten, den von der politischen und religiösen Welt Verachteten,
als Verworfenen und Gekreuzigten bezeugt, der seinen Nachfolgern
kein besseres Leben auf Erden verheißen hat.
Die Tatsache, daß die bestehende Christenheit sich jedoch mit der
Welt, die den Christus kreuzigte, verbunden hat, die weitere Feststellung, daß die Nachfolge Christi abgeschafft wurde und an die Stelle
der Apostel und Zeugen die Dozenten und Professoren der Theologie
traten, dazu die Tatsache, daß keine Anzeichen für eine Bußbereitschaft von seiten der Kirche zu sehen waren, gab den letzen Anstoß
für Kierkegaards Angriff auf die Christenheit.
In den letzten neun Monaten seines Lebens erschien nun in Abständen von ein bis drei Wochen »Der Augenblick«, ein Flugblatt, in
welchem er schonungslos mit überwältigender Wucht die Unbußfertigkeit der bestehenden Christenheit geißelte. Ohne Zweifel rechnete
Kierkegaard damit, daß man nun Gewalt gegen ihn anwenden und ihn
einsperren würde, jedoch geschah nichts. Obwohl die Wogen hoch
schlugen und die Geistlichkeit empört war, hielt man es für »würdevoller, Schweigen zu bewahren«.
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In den Tagebüchern kann man Kierkegaards bittere Enttäuschung
lesen: »Das Bestehende ist in dem Maße entsittlicht, daß man ihm
gerade ins Gesicht spucken kann, und es zieht es vor, davonzuschleichen, hütet sich wohl davor, Anklage zu erheben und dergleichen. Entsetzlich, in welche Tiefe das Bestehende herabgesunken ist, welche
Tiefe von Jämmerlichkeit und Spießbürgerlichkeit und Mittelmäßigkeit und Lüge.«
Die einzige Antwort der Kirche war möglicherweise das bereits geschilderte feierliche Pastorenbegräbnis – »ein seltsames Ereignis, zweideutig und fragwürdig wie so mancher Vorgang der Kirchengeschichte,
vielleicht allein aus dem klugen Bestreben geboren, dem Angriff die
Spitze abzubrechen« (Emanuel Hirsch).
Ein ähnlicher Verdacht drängt sich einem beim Lesen der meisten
Literatur über Kierkegaard auf. Man hat den Eindruck, daß dem bis
heute so dringend notwendigen Angriff auf die Christenheit die Schärfe genommen wird.
Man kann noch ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß Kierkegaard von ungläubigen Theologen und Philosophen mißverstanden
wird (s. Anhang), aber die Tatsache, daß Kierkegaard von einflußreichen Evangelikalen zum »Vater der modernen Theologie und Philosophie« erklärt wurde, »dessen Schriften die Leugnung der grundsätzlichen Lehren des christlichen Glaubens enthalten«, der den Menschen
als »biochemische Maschine ohne Ziel und Sinn« erklärt, deutet darauf hin, daß auch Evangelikale sich vor der schonungslosen Untersuchung ihrer Glaubwürdigkeit drücken.
Mit diesem Auswahlband soll das eigentliche Anliegen Kierkegaards
zur Sprache gebracht werden, nicht in erster Linie, um Kierkegaard zu
rechtfertigen, sondern weil die heute bestehende Christenheit – ich denke
besonders an die Evangelikalen, die dem Massendenken verfallen sind
und sich ebenfalls in der Welt eingerichtet haben – es dringend nötig
hat, sich dieser Diagnose zu stellen und daran zu denken, daß ihr Heiland und Herr von der Welt verworfen und gekreuzigt wurde.
Wolfgang Bühne
 
Sulzbacher 03.02.2022 16:21
NACHFOLGE«
Die rechte Nachfolge kommt nicht dadurch zustande, daß gepredigt wird: Du sollst Christus nachfolgen; sondern dadurch, daß
man davon predigt, was Christus für mich getan hat. Begreift und
empfindet ein Mensch dies recht tief und wahr, wie unendlich viel es
ist, so folgt schon die Nachfolge.
– Gebet –
Du, der Du einstmals selbst auf Erden gewandert bist und eine Fußspur hinterlassen hast, der wir folgen sollen; Du, der Du noch heute
von Deinem Himmel herniederschaust auf jeden Wandernden, den
Müden stärkst, den Verzagten ermunterst, den Irrenden zurückführst,
den Streitenden erquickst; Du, der Du am Ende der Tage wiederkommen wirst, um jeden Einzelnen zu richten, ob er Dir nachgefolgt ist:
unser Gott und unser Erlöser, laß Dein Vorbild recht deutlich vor dem
Auge der Seele stehen, um die Nebel zu zerstreuen, gib Stärke, daß wir
unverändert nur dies vor Augen haben, auf daß wir, indem wir Dir
gleichen und Dir nachfolgen, den rechten Weg zum Gericht finden
mögen, denn ein jeder Mensch muß ja vor Gericht kommen, oh, möchten wir aber auch durch Dich zur Seligkeit kommen dort bei Dir. Amen.
Was Christus fordert?
Zuerst und vor allem: Glauben. Darauf: Dankbarkeit.
Diese Dankbarkeit ist beim Jünger im strengeren Sinne »Nachfolge«. Aber selbst der schwächste Christ hat doch dies mit dem stärksten Jünger gemeinsam, daß das Verhältnis das der Dankbarkeit ist.
»Nachfolge« ist keine Gesetzesforderung, dann haben wir das Gesetzeswesen wieder. Nein, die Nachfolge ist der stärkere Ausdruck für
die Dankbarkeit im Stärkeren.
Die Nachfolge ist keine Gesetzesforderung, mit der ein armer
Mensch sich selbst martern soll. Nein, eine solche herausgefolterte
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Nachfolge ist sogar Christus zuwider. Er würde gewiß zu einem solchen sagen, falls er sonst Dankbarkeit bei ihm fände: Übereifere dich
nicht, laß dir Zeit, dann kommt es wohl, und laß es auf jeden Fall
kommen als freudige Frucht der Dankbarkeit, sonst ist es doch nicht
»Nachfolge«. Ja, man müßte ja auch sagen, daß eine solche furchtbar
herausgefolterte Nachfolge eher ein fratzenhaftes Nachäffen wäre.
Die Wildgans – ein Bild
Jeder, der auch nur ein kleines bißchen Kenntnis vom Leben der Vogelwelt hat, weiß, daß zwischen der Wildgans und den zahmen Gänsen, wie verschieden sie auch sind, dennoch eine Art Verstehen herrscht.
Wenn der Zug der Wildgänse in der Luft zu hören ist, und da zahme
Gänse unten auf der Erde sind, so merken diese letzten das sofort, sie
verstehen bis zu einem gewissen Grade, was es bedeutet; deshalb hüpfen sie auch, schlagen mit den Flügeln, schreien und fliegen in verworrener unschöner Unordnung ein Stück über den Erdboden hin – und
dann ist es vorbei.
Es war einmal eine Wildgans. Zur Herbstzeit gegen den Wegzug hin
wurde sie auf einige zahme Gänse aufmerksam. Sie faßte Zuneigung
zu ihnen, es deuchte sie jammerschade, von ihnen wegzufliegen, sie
hoffte, sie für ihr Leben zu gewinnen, so daß sie sich entschlössen,
mitzufolgen, wenn der Zug fortflöge.
Zu dem Zweck ließ sie sich auf jede Weise mit ihnen ein, versuchte
sie zu locken, daß sie ein wenig höher stiegen und dann noch ein wenig höher im Flug, damit sie dann womöglich im Zuge mitfolgen könnten, erlöst von diesem elenden, mittelmäßigen Leben, auf Erden zu
watscheln als ehrbare zahme Gänse.
Zu Anfang schien es den zahmen Gänsen, dies sei ganz unterhaltsam, sie hatten die Wildgans gern. Aber bald wurden sie ihrer überdrüssig, so gaben sie denn grobe Worte von sich, setzten sie zurecht
als eine phantastische Närrin ohne Erfahrung und ohne Weisheit. Ach,
und die Wildgans hatte sich leider zu sehr mit den zahmen Gänsen
eingelassen, sie hatten allmählich Macht über sie bekommen, so daß
ihre Worte etwas für sie bedeuteten – und das Ende vom Liede war,
daß die Wildgans eine zahme Gans wurde.
Man kann in gewissem Sinne sagen: Was die Wildgans wollte, sei
hübsch gewesen, doch war es ein Mißverständnis; denn – dies ist das
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Gesetz – eine zahme Gans wird niemals zur Wildgans, wohl aber kann
eine Wildgans zur zahmen Gans werden.
Sollte deshalb auf irgendeine Art lobenswert sein, was die Wildgans
tat, dann muß sie vor allem unbedingt auf eines achten: daß sie sich
selbst hütet; sobald sie merkt, daß die zahmen Gänse auf irgendeine
Weise Macht über sie bekommen – dann fort, fort mit dem Zug.
Das gilt für das Genie. Das Gesetz ist: Eine zahme Gans wird niemals zur Wildgans, hingegen kann wohl eine Wildgans zur zahmen
Gans werden – deshalb hüte dich!
Christlich ist es nicht ebenso. Gewiß ist der wahre Christ, über den
der Geist herrscht, vom gewöhnlichen Menschen verschieden wie die
Wildgans von den zahmen Gänsen. Aber das Christentum lehrt ja
gerade, wozu ein Mensch im Leben werden kann. Hier ist also Hoffnung, daß eine zahme Gans zu einer Wildgans werden kann. Deshalb
bleibe bei ihnen, diesen zahmen Gänsen, bleibe bei ihnen, nur mit
dem einen beschäftigt, sie für die Verwandlung gewinnen zu wollen –
aber um Gottes im Himmel willen achte auf eines: Sobald du merkst,
daß die zahmen Gänse anfangen, Macht über dich zu bekommen, dann
fort, auf und davon mit dem Zug, auf daß es nicht damit ende, daß du
wie eine zahme Gans wirst, glücklich gemacht in der Jämmerlichkeit.
Hinterlist
Auch das ist eine Form von Hinterlist oder kann es sein: wenn man
die Milde rühmt oder sich ihrer rühmt usw., daß man andere nicht
richtet. Denn zuweilen kann das ja auch seinen Grund in Feigheit
haben, in irdischer Klugheit und dgl., daß man sich den Gefahren nicht
aussetzen will, die damit verbunden sind, daß man jemanden wirklich
richtet. Denn es ist ja niemals im Leben so, daß, wenn einer einen
anderen richtet, dann die Sache damit entschieden ist; nein, der andere hat ja auch eine gewisse Macht, die er dann gegen den ersten gebrauchen wird. Außerdem verpflichtet der Richtende durch Richten
sein eigenes Leben stärker, setzt sich dem aus, daß man ihm stärker
auf die Finger sieht usw.
Insofern ist es hier wieder eine eigene Sache damit, daß man so
ohne weiteres das Wort des Evangeliums vom Nicht-Richten geltend
macht, vielleicht auch in bezug auf jemanden, den nichts weniger als
evangelische Gründe bestimmen, das Richten bleiben zu lassen.
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Jünger
Die Nachfolge muß angebracht werden, um Druck zu üben zur Demütigung. Ganz schlicht auf folgende Art: Ein jeder soll gemessen
werden am Vorbild, am Ideal. All das Gerede, dies sei bloß zu den
Aposteln gesagt und jenes bloß zu den Jüngern, und das bloß zu den
ersten Christen usw. usw., es muß fort. Christus will jetzt ebensowenig, wie er es damals wollte, Bewunderer haben, geschweige denn
Schwatzköpfe, sondern allein Jünger. »Der Jünger« ist der Maßstab;
die Nachfolge und Christus als Vorbild müssen angebracht werden!
Daß ich dabei durchfalle oder auf die letzte Bank komme: darein finde
ich mich demütig. Aber ich und jedermann soll am Ideal gemessen
werden; nach dem Ideal soll es bestimmt werden, wo ich bin. Keineswegs soll – und Gott sei Dank, daß es nicht soll, denn es ist ja doch
eine traurige, eine erbärmliche Kurzsichtigkeit, die hohe Würde, daß
man als schlechtester Schüler sich zum Ideal verhält, zu verkaufen,
um der Mittelmäßigkeit eingebildete Zufriedenheit dank dem Vergleich
mit anderen zu gewinnen, eine Kurzsichtigkeit gleich der, mit der Esau
sein Erstgeburtsrecht gegen ein Gericht Linsen verkaufte – keineswegs
soll es so sein, daß wir Menschen die Freiheit haben, die idealen Forderungen abzuschaffen, indem wir sagen, das sei nichts für uns, und
dann eine gewisse Mittelmäßigkeit erfinden, und dann allda anfangen, und dies zum Maßstab machen, und dann vielleicht sogar etwas
Ausgezeichnetes werden – dieweil nämlich der Maßstab umgeändert
worden ist nach unserem Maß.
Laß mich mit einem Bilde erklären, was ich meine.
Nimm eine Schule, laß in ihr, so können wir ja annehmen, laß in
ihr eine Klasse von hundert gleichaltrigen Schülern sein, welche das
gleiche lernen sollen und am gleichen Maßstab gemessen werden.
Nr. 70 zu sein und von da ab weiter herunter, das heißt, tief unten in
der Klasse sitzen. Wie, wenn nun die dreißig Schüler von Nr. 70 ab
sich einfallen ließen, ob es ihnen nicht gestattet werden könne, eine
eigene Klasse für sich zu bilden. Geschähe so, dann würde somit Nr. 70
Nr. 1 in der Klasse. Dies hieße aufsteigen – ja, wenn man so will; nach
meinen Begriffen hieße es, noch weiter herunter kommen, herabsinken zu erbärmlicher, verlogener Selbstzufriedenheit, denn es heißt doch
weit höher stehen, wenn man sich wahrheitsgemäß darein findet, nach
einem echten Maßstabe Nr. 70 zu sein.
Ebenso denn in des Lebens Wirklichkeit. Was ist Spießbürgerlichkeit, was ist Geistlosigkeit? Es ist dies, daß man den Maßstab verän-
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dert hat durch Fortlassen der Ideale, daß man den Maßstab verändert
hat gemäß dem, wie wir Menschen, die jetzt hierzuort leben, nun einmal sind. Ganz Europa kann spießbürgerlich sein, und eine kleine
entlegene Landstadt kann vielleicht es nicht sein. Alles hängt davon
ab, ob der wahre Maßstab angewandt wird. Aber das sinnliche Wohlsein ist kein Freund vom Maßstab der Ideale.
Siehe, deshalb ist es mit der Christenheit zurückgegangen, weil man
die Nachfolge abgeschafft und sie noch nicht einmal angebracht hat,
um zu drücken – eine umgekehrte babylonische Empörung wider den
Himmel, eine umgekehrte, denn in Babel versuchte man (was bei aller
Verleugnung doch weit, weit vorzuziehen ist) mit einem Aufstand den
Himmel zu stürmen, das andre ist ein Versuch, in Eigenklugheit und
Selbstzufriedenheit vermöge eines Abfalls vom Himmel und von den
Idealen geschieden zu werden.
Der Apostel Petrus
Man spricht herabsetzend von seiner Verleugnung und dann rühmend
von seinem späteren Leben. Aber da ist eines, worauf man nicht hinreichend achtet: daß ein Blick für ihn genug war. Unter Millionen fände sich kaum einer, für den unter diesen Umständen ein Blick genug
wäre. So wie die Menschen jetzt sind, hätten sie vermutlich jeder sich
selbst höchst glücklich gepriesen in großer Selbstzufriedenheit, weil
sie den Meister klug im Stich gelassen hätten; und sofern er seinen
Blick auf sie geheftet hätte, hätten sie wohl jeder selbstzufrieden so
gedacht: Ich bin doch klug genug, um nicht so zu tun, als merkte ich
etwas.
Die Nachfolge – die Versöhnung
Aber ungeachtet dessen, daß es nun gewiß so ist, daß auf die »Nachfolge« gedrungen werden soll, wenn auch (belehrt durch die Irrung des
Mittelalters) in einem anderen Sinn; so soll doch um alles in der Welt
die Sache nicht so gewendet werden, als bleibe Christus nun bloß Vorbild, nicht Versöhner, als bedürfe es der Versöhnung nicht, zumindest
nicht für die Fortgeschrittenen.
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Nein, nein, nein – und was dies betrifft: Gerade je fortgeschrittener
jemand ist, desto mehr wird er entdecken, daß er der Versöhnung und
der Gnade bedarf.
Nein, die Versöhnung und die Gnade bleiben das Entscheidende.
Jedes Streben in Richtung auf Nachfolge wird, wenn nun der Augenblick gekommen ist, da der Tod es beendet, doch vor Gott Erbärmlichkeit sein: also sind da Gnade und Versöhnung nötig. Außerdem: Während man strebt, wird in jeder Sekunde die Versöhnung nötig sein,
damit dieses Streben nicht in eine qualvolle Angst verwandelt wird, in
welcher ein Mensch gleichsam verbrennt und so denn am allerwenigsten zum Streben kommt. Endlich wird man, während man strebt,
jeden zweiten Augenblick fehlgreifen, lässig sein, sündigen. Also ist
die Versöhnung unbedingt vonnöten.
Die Nachfolge soll – obschon in äußerster Anstrengung – wie ein
Scherz, eine Kindlichkeit sein, falls sie im Ernst, also vor Gott und in
Richtung auf Verdienst, etwas bedeuten sollte: die Versöhnung ist der
Ernst. Aber das Abscheuliche ist, wenn ein Mensch, »da es doch nun
einmal Gnade ist«, sich das zunutze machen will, um jedes Streben zu
unterlassen.
Es ist wie mit einem Kind, wenn es, wie man sagt, mit Güte erzogen wird: Das verdorbene Kind wird daran kenntlich sein, daß es sich
die Güte der Eltern zunutze macht, um nachlässig zu sein, kurz dergestalt wie die Eltern nicht wollen, daß es sein solle. Das andere Traurige wäre, wenn das Kind, da es fleißig strebte, aufgrund des Umstandes, daß es mit Güte erzogen wird, darauf aus wäre, Verdienste haben
zu wollen. Nein, es gibt nichts, was in dem Maße darauf berechnet ist,
Verdienste und das Verdienstliche zu verhindern, wie das Erzogenwerden mit Güte. Es sieht einen Augenblick täuschend gerade umgekehrt
aus; denn wenn ich bloß mit Güte erzogen werde, so daß im Sinne der
Strenge nichts gefordert wird, sondern alles Gnade ist: dann scheint ja
auch das geringste bißchen Streben verdienstlich zu sein. O mein
Freund, eben dies, daß im Sinne der Strenge nicht gefordert wird, daß
du bloß mit Güte erzogen wirst, eben das macht es unmöglich, daß
dein Streben – auch das größte – verdienstlich werden könnte. Ja, wo
etwas streng gefordert wird – da kann vom Verdienstlichen die Rede
sein; aber wo alles Gnade ist, da ist das Verdienstliche unmöglich; es
ist unmöglich, Verdienste zu erwerben gegenüber der Gnade. Aber, wie
gesagt, schäbig, schändlich, wenn jemand sich das zunutze machen
will, um das Streben zu unterlassen.
* * *
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Es soll nicht mit der Nachfolge begonnen werden, sondern mit der
»Gnade«, dann soll die Nachfolge nachfolgen als eine Frucht der Dankbarkeit, so gut man nun kann.
Nimm ein Liebesverhältnis zwischen Mensch und Mensch. Das
Verhältnis soll nicht dies sein, daß der Liebende sich selbst damit abmartert, ob er nun in jedem Augenblick den möglichen Forderungen
der Geliebten entspreche; denn das ist nicht Liebe, sondern heißt die
Liebe verdienen, sie verdienen wollen, und vergessen, daß die Geliebte
ja nicht ein Gläubiger, sondern eine Liebende ist. Nein, es beginnt mit
der Freude darüber, geliebt zu sein – und dann folgt ein Streben, der
Geliebten zu Gefallen zu sein, das doch ständig dadurch ermuntert
wird, daß man gleichwohl geliebt ist, auch wenn es mißlingt.
Aber im Verhältnis zu Christus ist es das Schwierige, doch bloß so
geisthaft zu werden, daß man recht begreift, wie unendlich viel Christus für mich getan hat: welch ungeheures Übel die Sünde ist, und
welch außerordentliches Gut eine ewige Seligkeit ist.
Eine Ewigkeit, um zu bereuen
Laß mich eine Geschichte erzählen. Ich habe sie nicht in einer Erbauungsschrift gelesen, sondern in einem sogenannten Unterhaltungsbuch. Doch trage ich kein Bedenken, sie zu benutzen, ich sage dies
nur, damit es niemanden störe, wenn er sie zufällig kennen sollte oder
später erführe, woher ich sie habe – auf daß es niemanden störe, daß
ich es verschwiegen hätte.
Irgendwo im Morgenland lebte ein Paar, arme alte Leute, Mann und
Frau. Sie hatten, wie gesagt, nur die Armut; und die Sorge um die
Zukunft wuchs, natürlich, mit dem Gedanken an das Alter. Sie bestürmten wohl den Himmel nicht mit ihren Bitten, dazu waren sie zu
gottesfürchtig, aber sie riefen doch wieder und wieder den Himmel
um Hilfe an.
Da geschah es eines Morgens, daß die Frau, wie sie zur Feuerstelle
hinauskommt, einen sehr großen Edelstein auf dem Herd liegen findet; sie eilt sogleich hinein und zeigt den Stein ihrem Mann, welcher,
dererlei kundig, leicht sieht, daß ihnen nun für ihr Lebtag geholfen ist.
Freundliche Zukunft für diese alten Leute, welche Freude! Doch
genügsam und gottesfürchtig, wie sie waren, beschlossen sie, weil sie
doch für diesen Tag noch hatten, wovon sie leben konnten, den Edel-
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stein diesen Tag noch nicht zu verkaufen. Morgen aber sollte er verkauft werden und von morgen an ein neues Leben beginnen.
In der Nacht vor dem nächsten Tag oder vor diesem »morgen« träumte der Frau, sie sei ins Paradies entrückt. Ein Engel zeigte ihr all die
Herrlichkeit ringsum, die eine morgenländische Einbildungskraft erfinden kann. Dann führte der Engel sie auch in einen Saal, wo lange
Reihen von Lehnstühlen standen, über und über geschmückt mit Edelsteinen und Perlen, bestimmt, wie der Engel erklärte, für die Frommen. Endlich zeigte er ihr auch einen – bestimmt für sie. Wie sie nun
näher hinsah, sieht sie, da fehlt ein sehr großer Edelstein an der Lehne
des Stuhls. Sie fragt den Engel, woher das käme. Er – oh, gib nun wohl
acht, nun kommt die Geschichte! Der Engel antwortete: Das war der
Edelstein, den du auf dem Herde fandest; den hast du im voraus bekommen, und er kann nicht wieder eingesetzt werden.
Am Morgen erzählt die Frau ihrem Manne den Traum – und sie war
der Meinung, es sei dann doch besser, die paar Jahre noch auszuhalten, die sie noch zu leben hätten, als daß die ganze Ewigkeit lang der
Edelstein fehlen sollte. Und ihr frommer Mann war derselben Meinung.
So legten sie am Abend den Stein wieder auf den Herd hinaus; baten Gott am Abend, er möge ihn zurücknehmen. Den nächsten Morgen war er ganz richtig fort; wo er geblieben war, das wußten ja die
alten Leute, er war nun an seinem rechten Platz.
Dieser Mann war wahrlich glücklich verheiratet, seine Frau eine vernünftige Frau. Aber wäre es auch im übrigen wahr, was man oft sagt,
daß es die Frauen seien, welche ihre Männer dahin bringen, daß sie
das Ewige vergessen: Wenn auch alle unverheiratet wären, so hat doch
ein jeder in sich selbst etwas, was schlauer und eindringlicher und
unablässiger, als ein Weib es kann, einen Menschen dahin bringen
möchte, das Ewige zu vergessen; ihn dahin bringen, daß er falsch mißt,
als seien ein paar Jahre oder 10 Jahre oder 40 Jahre eine so ungeheuer
lange Zeit, daß wohl gar die Ewigkeit im Vergleich damit zu etwas
ganz Kurzem wird, anstatt daß umgekehrt diese Jahre etwas sehr Kurzes sind und die Ewigkeit ungeheuer lang.
Merk dir das gut! Du kannst vielleicht, klüglich, dem entgehen,
was Gott nun einmal nach seinem Gefallen mit dem Christsein vereint hat, nämlich dem Leiden und der Widerwärtigkeit; du kannst vielleicht, wenn du dich klug heraushältst, zu deinem eigenen Verderben
das Entgegengesetzte erreichen, erreichen, was Gott für ewig vom
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Christsein gesondert hat, nämlich Genuß und alle irdischen Güter;
du kannst vielleicht, betört von deiner Klugheit, dich zuletzt völlig
verlieren in der Einbildung, daß gerade der Weg, auf dem du bist, der
rechte sei, weil du das Irdische gewinnst: und dann – eine Ewigkeit,
um zu bereuen! Eine Ewigkeit, um zu bereuen, nämlich zu bereuen,
daß du die Zeit nicht zu dem genutzt hast, daran man ewig gedenken
kann: in Wahrheit Gott zu lieben, was die Folge hat, daß du in diesem
Leben dahin kommst, von den Menschen zu leiden.
Deswegen, betrüge dich nicht selbst, fürchte dich von allen Betrügern am meisten vor dir selbst! Wäre es auch für einen Menschen
möglich, im Verhältnis zum Ewigen etwas vorwegzunehmen, du betrögest ja doch dich selber mit dem: etwas vorweg – und dann eine
Ewigkeit, um zu bereuen!
Der Bewunderer
Allein der Nachfolgende ist der wahre Christ. Der »Bewunderer« nimmt
eigentlich ein heidnisches Verhältnis zum Christentum ein; und daher brachte auch die Bewunderung mitten in der Christenheit ein neues
Heidentum zur Welt: die christliche Kunst.
Ich möchte niemanden richten, keineswegs, ich halte es jedoch für
meine Pflicht, auszusprechen, was ich empfinde.
Wäre es mir nun wohl möglich, das will heißen, könnte ich mich
wohl überreden, mich dahin bringen, den Pinsel zu tauchen, den Meißel zu heben, um Christus in Farben darzustellen oder seine Gestalt
auszuhauen? Daß ich dazu unfähig bin – das heißt, daß ich kein Künstler bin –, ist ja etwas, was nicht zur Sache gehört; ich frage lediglich,
wieweit es mir möglich wäre, wenn ich die Fähigkeiten, die dazu vorausgesetzt werden, besäße. Und ich antworte: Nein, es wäre mir unbedingt eine Unmöglichkeit. Ja, ich meine nicht einmal, wirklich damit ausgedrückt zu haben, was ich empfinde, denn es wäre mir so
sehr eine Unmöglichkeit, daß es mir unbegreiflich ist, wie es überhaupt jemandem möglich gewesen ist.
Man pflegt zu sagen: Mir ist die Ruhe unbegreiflich, mit der ein
Mörder sich hinsetzen und das Messer schleifen kann, mit dem er
einen anderen Menschen töten will. Und auch mir ist es unbegreiflich. Indes, in Wahrheit, es ist mir auch unbegreiflich, woher wohl
solch ein Künstler die Ruhe genommen hat, oder denn, mir ist unbe-
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greiflich die Ruhe, mit der solch ein Künstler jahraus-jahrein daran
gesessen, fleißig daran gearbeitet hat, Christus zu malen – ohne daß
es ihm eingefallen wäre, ob Christus wohl danach verlangte, gemalt
zu werden, danach verlangte, sein Bildnis – wie idealisiert es auch
sei – dargestellt zu sehen vom Pinsel des Meisters. Ich begreife nicht,
wie der Künstler sich seine Ruhe bewahrt hat, daß er nicht Christi
Unwillen gespürt, plötzlich alles über den Haufen geworfen, Pinsel
und Farben, so wie Judas die dreißig Silberlinge, weit von sich geworfen hat, weil er plötzlich verstand, daß Christus allein »Nachfolgende«
gefordert hat, daß Er, der hier in der Welt in Armut und Geringheit
lebte, ohne zu haben, da er sein Haupt hinlegen konnte, und so lebte
nicht vermöge eines Zufalls dank der Unfreundlichkeit des Geschicks,
indem er selber nach anderen Verhältnissen Begehr trug, sondern gemäß freier Wahl kraft eines ewigen Ratschlusses – daß er schwerlich
danach verlangt hat oder verlangt, nach seinem Tode solle ein Mann
seine Zeit und vielleicht seine Seligkeit damit verderben, daß er ihn
malte.
Ich begreife es nicht!
Mir wäre der Pinsel im gleichen Augenblick, da ich anfangen wollte, aus der Hand gefallen, ich wäre vielleicht niemals wieder ein
Mensch geworden. Ich begreife nicht die Ruhe dieses Künstlers bei
einer derartigen Arbeit, diese künstlerische Gleichgültigkeit, die ja
gleichsam eine Verhärtung ist wider den religiösen Eindruck des Religiösen, eine Willkür, eine grausame Lust, gleich der des Tyrannen,
der den Genuß des Wohllauts herauspreßte aus dem Schrei der Gemarterten, also kraft gesteigerter Grausamkeit ihr Schreien dazu umschuf, für ihn etwas ganz anderes zu bedeuten – diese künstlerische
Gleichgültigkeit, die sicherlich ihren Ausdruck gefunden hat in dem,
was ihn umgab, sofern das Bild der Göttin der Wollust in seinem
Arbeitsgemache stand und ihn ebenso stark beschäftigte, so daß er
erst nach dessen Vollendung daran ging, den Gekreuzigten darzustellen. Ist dies nicht doch ein Umgang mit dem Heiligen wider dessen
Natur?
Und dennoch, der Künstler bewunderte sich selbst, und alle bewunderten den Künstler. Der Standpunkt des Religiösen verschob sich
ganz und gar; der Beschauer betrachtete das Bild in der Eigenschaft
eines Kunstkenners: ob es nun gelungen sei, ob es ein Meisterwerk
sei, ob das Spiel der Farben richtig sei, und die Schlagschatten, ob Blut
so aussehe, ob der Ausdruck des Leidens künstlerisch wahr sei – aber
eine Aufforderung zur Nachfolge entdeckte er nicht.
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Den Künstler bewunderte man, und was wirkliches Leiden, des
Heiligen wirkliches Leiden gewesen ist, das setzte der Künstler gewissermaßen in Geld und Bewunderung um, gleich als wenn ein Schauspieler einen Bettler darstellt und nun beinahe das Mitleid auf sich
zieht, das von Rechts wegen der wirklichen Armut zukäme, vor der
man hartherzig zurückschaudert und die man zu guter Letzt wohl
unwahr findet im Vergleich mit der Darstellung des Schauspielers.
Ja, es ist mir unbegreiflich, noch einmal, es ist mir unbegreiflich;
denn es ist dem Künstler vielleicht niemals beigekommen, daß es
Schändung des Heiligen sei – und das ist mir noch unbegreiflicher.
Jedoch eben darum enthalte ich mich jeglichen Urteils, auf daß ich
nicht Unrecht tue; aber ich erachte es als meine Pflicht, auszusprechen, was ich doch mit Recht ein christliches Empfinden nennen
darf. Es ist kein Vorschlag, den Künstler oder auch nur ein einziges
Kunstwerk anzutasten, keineswegs, nein, es ist ein Rätsel, das ich
mich verpflichtet fühle aufzugeben. Denn daß, was ich sage, christlich ist, dessen bin ich in innerster Seele gewiß; aber ich darf mich
nicht für einen so vollendeten Christen ausgeben, daß ich meinen
dürfte, ich hätte es in jedem Augenblick gleichmäßig gegenwärtig oder
könnte jegliche Folge des hier Gesagten auf mich nehmen. Aber das
Gesagte ist für mich, und ich meine, es ist auch für die Christenheit
gleichsam eine Seemarke, mit deren Hilfe sich entdecken läßt, in
welche Richtung die Christenheit eigentlich steuert, ob tiefer und
tiefer hinein in das Christentum oder weiter und weiter fort vom
Christentum.
Bald ist es so weit gekommen, daß ein Bewunderer des Christentums eine Seltenheit ist; der Durchschnitt ist lau, weder kalt noch
warm, und viele sind Freidenker, Spötter, starke Geister, Leugner. Aber
der »Bewunderer« ist ja doch im strengsten Sinne kein wahrer Christ;
kann man nicht sagen, daß er lau sei, sintemal Hitze in ihm ist, so
kann man doch auch nicht sagen, er sei warm. Allein der Nachfolgende ist der wahre Christ.
* * *
Wenn keine Gefahr ist, wenn Windstille herrscht, wenn alles dem
Christentum günstig ist, so ist es nur allzu leicht, einen Bewunderer
mit einem Nachfolgenden zu verwechseln, und das kann ganz unmerklich geschehen: der Bewunderer kann in der Einbildung hinsterben, daß das Verhalten, das er angenommen hat, das wahre sei. Darum achte auf die Gleichzeitigkeit.
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Nikodemus
Die heilige Geschichte hat uns die Erzählung aufbewahrt von noch
einem anderen Bewunderer, Nikodemus. In der bestehenden Christenheit wird ja einmal im Jahre über Nikodemus gepredigt, also von diesen Tausenden und Abertausenden von Pastoren. Die Sache wird dabei folgendermaßen dargestellt. Der Pastor sagt: »Im Grunde ist doch
Nikodemus ein schwacher Mensch gewesen; anstatt sich am offenen
Tage an Christus anzuschließen, schleicht er sich aus Menschenfurcht
bei der Nacht zu ihm.« In dieser Rede gefällt sich der »Pastor«, und
diese Rede hat etwas Wohlgefälliges in den Augen der Gemeinde – sie
ist ja auch äußerst höflich, sintemal sie eigentlich stillschweigend einschwärzt, daß sowohl der Pastor wie alle die Anwesenden ganz andre
Leute als Nikodemus sind – sie bekennen ja Christus ganz offen, ohne
die Menschen zu fürchten – vortrefflich, da die Lage sich so gewandelt
hat, daß die meisten wohl eher aus Menschenfurcht sich abhalten lassen, sich vom Christentum loszusagen! Wenn so gepredigt wird, was
Wunder dann, daß das Christentum, um es gerade heraus zu sagen,
mit der Zeit ganz und gar zu Geschwätz geworden ist; was Wunder
dann, um an ein Wort Luthers aus einer seiner Predigten zu erinnern,
daß »der Blitz« (das Feuer des göttlichen Grimms) »am liebsten in die
Kirchen schlägt«; was Wunder – eher wohl verwunderlich, daß er nicht
jeden Sonntag einschlägt, um solch eine Predigtweise zu treffen, die
nichts anderes ist als eine Art von Ausschweifung, sofern der Prediger
sich und den Zuhörern anlügt, was von ihnen schlechterdings nicht
wahr ist.
Christus als Vorbild – und als Versöhner
Sollte von einem Unterschied zwischen den »Evangelien« und den
»Briefen« die Rede sein, so müßte das der sein, daß in den »Briefen«
Christus besonders als der Versöhner hervorgehoben ist, sein versöhnender Tod, die Gnade; im Evangelium erscheint Christus mehr als
Vorbild.
Man kann nun auch sagen: wofern Christus bloß der Versöhner
wäre, so daß sein Tod die Hauptsache wäre, so hätte er nicht so lange
auf Erden zu leben brauchen, hätte sich nicht als Kind gebären, nicht
zu wachsen brauchen usw.
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Indessen ist doch zu bemerken, daß doch immer einige Zeit nötig
gewesen wäre, damit er das Opfer werden konnte, denn sein Tod mußte ja doch zugleich die Schuld der Menschen sein, so daß immer einige
Zeit nötig gewesen wäre, um die Lage zuwegezubringen, daß das
menschliche Geschlecht ihn totschlug.
Soweit man nun sagen kann, in den Evangelien trete das »Vorbild«
mehr hervor, so wird das doch dadurch aufgewogen, daß von seinem
ganzen übrigen Leben eigentlich nichts erzählt wird, was von Wichtigkeit gewesen wäre, falls er besonders als das Vorbild hervorgehoben
werden sollte. Und auf der anderen Seite: die drei Jahre, in denen er
das Vorbild ist oder es aushält, das Vorbild zu sein, diese drei Jahre
sind wohl ungefähr die kürzeste Zeit, die in geschichtlichen Größenverhältnissen – nötig war, um die Katastrophe zuwegezubringen, die
sein Versöhnungstod wurde. Er ist also in keinem Augenblick dieser
drei Jahre einzig und allein als das Vorbild da, sondern sein Dasein
verhält sich zur Katastrophe, in der er dann, wozu er ewig bestimmt
war und sich frei bestimmt hatte, der Versöhner ist.
Die, welche nur halb Wahrheitszeugen wurden
Oft habe ich über folgendes nachgedacht: Wenn anders jemand eine
Lobrede verdiente, dann gerade solche Männer, die auf gewisse Weise
Märtyrer wurden, insofern sie um des Lebens Freuden kamen, und die
dennoch den verwelklichen Kranz der Märtyrer-Ehre nicht ernteten,
weil ihnen im entscheidenden Augenblick ein wenig Angst wurde und
sie vielleicht widerriefen oder ein wenig nachgaben, wie z.B. einer von
den Vorläufern der Reformation, nämlich Wessel. Es ist mir so widerwärtig, einen Professor oder seinesgleichen zu lesen, der dann in herabsetzenden Ausdrücken von einem solchen Menschen redet, oder was
ich in einer Darstellung des Lebens Calvins gelesen habe, wo der Verfasser ganz wie ein Oberhofmarschall den armen Servet zurechtweist
und nicht bedenkt, daß Servet doch zuletzt freimütig dem Tode entgegenging und seiner Behauptung treu blieb noch im letzten Augenblick.
Oh, diese elende Sippschaft von Dozenten, die niemals auch nur einen Heller gewagt haben und dann solche Männer zurechtweisen.
Ich schätze es nicht, daß ein Mensch sich weiter hinauswagt, als er
durchführen kann, aber in Gottes Namen, dann ist er auch hart genug
damit gestraft, daß er mit diesem Knacks leben muß. Aber auf jeden
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Fall ist ein solcher Mensch, ein solch unglücklicher Halbmatrose, doch
natürlich unendlich viel mehr wert als Millionen Dozenten und die ganzen Heringsschwärme von Menschen, welche die Leiden anderer zum
Broterwerb und zur Leidenschaft machen, Professoren darüber werden,
und jene obendrein zurechtweisen, als seien sie selbst ganz andere Kerle, was sie freilich auch in gewissem Sinne sind, nämlich Schwätzer.
* * *
Gott schafft Alles aus Nichts – und Alles, was Gott gebrauchen will,
macht er zuerst zu Nichts.
* * *
Wahr ist es, das Christentum soll folgendermaßen dargestellt werden
(darin liegt die Möglichkeit des Ärgernisses): Falls nicht das Sündenbewußtsein einen Menschen treibt, so muß ein Mensch verrückt sein,
um sich mit dem Christentum einzulassen. Es muß ein Ende gemacht
werden mit all dem weichlichen Geschwätz davon, daß das Christentum die tiefste Sehnsucht befriedige usw. Nein, nur »Kampf und Not
eines geängsteten Gewissens« können einem zu dem Wagnis helfen,
mit dem Christentum etwas zu tun haben zu wollen, sonst ist es zum
Ärgernis und soll zum Ärgernis sein.
Man lebt nur einmal
Diese Worte hört man so oft in der Welt. »Man lebt nur einmal; deshalb möchte ich Paris sehen, bevor ich sterbe«, oder so schnell wie
möglich ein Vermögen sammeln, oder doch zuletzt etwas Großes in
dieser Welt werden – »denn man lebt nur einmal«.
Seltener kommt es vor, aber es kommt doch vor, daß ein Mensch
nur einen Wunsch hat, ganz bestimmt nur einen Wunsch. »Dies«, sagt
er, »dies möchte ich wünschen; oh, daß dieser mein Wunsch erfüllt
würde, denn, ach, man lebt nur einmal!«
Denk dir nun einen solchen Menschen auf seinem Sterbebett. Der
Wunsch ist nicht erfüllt worden, seine Seele aber hängt unverändert
an diesem Wunsch – und nun, nun ist es nicht mehr möglich. Da
erhebt er sich auf seinem Lager; mit der Leidenschaft der Verzweiflung
spricht er noch einmal seinen Wunsch aus: »O Verzweiflung, er wird
nicht erfüllt; Verzweiflung, man lebt nur einmal!«
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Das scheint entsetzlich, und ist es wahrlich; aber nicht, wie er es
meint; denn das Entsetzliche ist doch nicht, daß der Wunsch nicht
erfüllt worden ist, das Entsetzliche ist die Leidenschaft, womit er daran hängt. Sein Leben ist nicht deshalb vergeudet, weil sein Wunsch
nicht erfüllt worden ist, keineswegs; ist sein Leben vergeudet, dann
deshalb, weil er seinen Wunsch nicht aufgeben wollte, weil er nichts
Höheres vom Leben lernen wollte als das mit seinem einzigen Wunsch,
als ob dessen Erfüllung oder Nichterfüllung alles entschiede.
Das wahrhaft Entsetzliche ist darum etwas ganz anderes. Wenn z.B.
ein Mensch auf seinem Sterbebett entdeckte, oder wenn ihm doch auf
seinem Sterbebett erst deutlich würde, was er sein Leben lang dunkler
verstanden hatte, aber niemals hatte verstehen wollen: daß man in
dieser Welt müsse für die Wahrheit gelitten haben, um ewig selig werden zu können – und man lebt nur einmal, dies eine Mal, das nun für
ihn vorbei ist! Und man hätte es ja in seiner Macht gehabt; und die
Ewigkeit verändert man nicht, die Ewigkeit, welcher man dann gerade
sterbend als seiner Zukunft entgegengeht!
Wir Menschen sind von Natur geneigt, das Leben auf folgende Weise zu betrachten: Wir sehen das Leiden für ein Übel an, dem wir auf
jede Art zu entgehen suchen. Und wenn uns das dann glückt, glauben
wir einmal auf unserem Sterbebett mit besonderem Fug und Recht
Gott danken zu können, daß wir mit dem Leiden verschont worden
sind. Wir Menschen meinen, es komme darauf an, daß wir bloß gut
und glücklich durch diese Welt hindurchschlüpfen können; und das
Christentum meint, daß alle Schrecken eigentlich von der anderen
Welt her kommen, daß die Schrecknisse dieser Welt wie ein Kinderspiel sind im Vergleich mit den Schrecken der Ewigkeit, und daß es
deshalb gerade nicht darauf ankommt, gut und glücklich durch dieses
Leben hindurchzuschlüpfen, sondern darauf, durch Leiden sich richtig zur Ewigkeit zu verhalten.
Man lebt nur einmal; ist, wenn der Tod kommt, dein Leben wohl
genutzt, d.h. so genutzt, daß es sich richtig zur Ewigkeit verhält: Gott
sei ewiglich gelobt; ist es das nicht, so ist es ewig nicht wiedergutzumachen – man lebt nur einmal!
Man lebt nur einmal; so ist es hier auf Erden. Und während du es
nun lebst, dieses eine Mal, dessen Erstreckung in der Zeit dahinschwindet mit jeder schwindenden Stunde, sitzt der Gott der Liebe im Himmel und liebt liebevoll auch dich. Ja, er liebt dich; deswegen möchte er
so gern, daß du doch endlich willst, wie er es um der Ewigkeit willen
mit dir will: daß du dich doch entschließen könntest, leiden zu wollen,
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das heißt, daß du dich entschließen könntest, ihn lieben zu wollen,
denn ihn kannst du nur so lieben, daß du leidest; oder wenn du ihn
liebst, wie er geliebt sein will, so mußt du leiden. Vergiß nicht, man
lebt nur einmal; ist das versäumt, kommst du nicht zum Leiden, hast
du dich ihm entzogen: Das ist ewig unwiederbringlich. Dich zwingen,
nein, das will der Gott der Liebe um keinen Preis, er bekäme dann
etwas ganz anderes als das, was er will; wie könnte es auch der Liebe
einfallen, sich erzwingen zu wollen, daß sie geliebt wird! Aber Liebe ist
er, und aus Liebe will er, du sollest, wie er will; und in Liebe leidet er,
wie nur unendliche und allmächtige Liebe leiden kann, was kein Mensch
fassen mag; dergestalt leidet er, wenn du nicht willst, wie er will.
Gott ist Liebe; niemals wurde der Mensch geboren, den dieser Gedanke – besonders wenn er ihm derart näher kommt, daß er versteht,
Gott sei Liebe, bedeute: Du bist geliebt – den dieser Gedanke nicht
überwältigte in unbeschreiblicher Seligkeit. Im nächsten Augenblick,
wenn die Einsicht kommt, »dies bedeutet: leiden müssen«: grauenvoll! »Ja, aber Gott will das aus Liebe, er will es, weil er geliebt sein
will; und daß er von dir geliebt sein will, ist seine Liebe zu dir«: nun
wohl! – Im nächsten Augenblick, sobald es Ernst wird mit dem Leiden: grauenvoll! »Ja, aber das geschieht aus Liebe; du ahnst nicht, wie
er leidet, weil er sehr gut weiß, daß das Leiden schmerzt; ändern aber
kann er sich dennoch nicht, dann müßte er ja etwas anderes als Liebe
werden«: nun, wohl! – Im nächsten Augenblick, sobald es wirklicher
Ernst wird mit dem Leiden: grauenvoll!
Jedoch gib acht, gib acht, daß nicht die Zeit, vielleicht in nutzlosem
Leiden, ungenutzt vergeht, vergiß nicht: Man lebt nur einmal; kann es
dir helfen, dann betrachte die Sache auch auf folgende Weise: Sei dessen
sicher, daß Gott in Liebe mehr leidet, als du leidest, ohne daß er sich
doch deswegen verändern könnte. Vor allem aber, vergiß nicht: Man
lebt nur einmal; es gibt Verluste, die ewig unwiederbringlich sind, so
daß die Ewigkeit – noch grauenvoller! – weit davon, die Erinnerung an
das Verlorene auszulöschen, ein ewiges Erinnern an das Verlorene ist!
* * *
Es ist so rührend, am Sonntag darüber zu predigen, daß Christus mit
Sündern und Zöllnern verkehrte – aber am Montag ist es ein Verbrechen, auch nur mit dem einfachen Mann, mit einem Dienstboten zu
sprechen. Es ist, wird man sagen, unvorsichtig, dumm, sich derart mit
den Menschen einzulassen, anstatt sie von sich zu entfernen, und selten gesehen zu werden. Wie dumm muß da Christus doch gewesen sein!
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Der Glaube ist ein unruhig Ding
Und wo stehen wir jetzt? Ich bin »ohne Vollmacht« – ferne sei es von
mir, auch nur einen einzigen zu richten. Da ich diese Sache aber gerne
aufgeklärt sähe, so will ich mich selbst vornehmen und mein Leben
einen Augenblick prüfen nach einer einzigen lutherischen Bestimmung
des Glaubens: »Der Glaube ist ein unruhig Ding.«
Ich nehme also an, Luther sei aus seinem Grab auferstanden; er habe
bereits mehrere Jahre unter uns gelebt, jedoch ungekannt; habe auf das
Leben geachtet, das wir führen, sei auf alle anderen aufmerksam gewesen und so denn auch auf mich. Ich nehme an, er rede mich jetzt eines
Tages an und sage: »Bist du einer, der glaubt, hast du den Glauben?«
Jedermann, der mich als Schriftsteller kennt, wird sehen, daß ich
vielleicht sogar der wäre, welcher bei einer solchen Prüfung am besten
von allen davonkommen müßte; denn ich habe ja fort und fort gesagt:
»Ich habe den Glauben nicht« – gleich wie der Vogel angstvoll vor einem Unwetter dahinflieht, so habe ich es ausgedrückt, hier ist etwas
nicht geheuer, »ich habe den Glauben nicht«. Dies könnte ich mithin
zu Luther sagen, könnte zu ihm sprechen: »Nein, lieber Luther, ich
habe doch soviel Ehrerbietung gezeigt, daß ich sagte: Ich habe den
Glauben nicht.«
Jedoch das will ich nicht geltend machen; sondern wie alle andern
sich Christen und Gläubige nennen, so will auch ich sagen: »Ich bin
ein Gläubiger«, denn sonst erhalte ich ja nicht die Aufklärung, welche
ich begehre. Somit antworte ich: »Allerdings, ich bin ein Gläubiger.«
»Wie denn«, entgegnet Luther, »davon habe ich dir nichts angemerkt,
und ich habe doch auf dein Leben acht gehabt; und du weißt, der Glaube
ist ein unruhig Ding. Zu welchem Ende hat der Glaube, von dem du
sagst, du habest ihn, dich beunruhigt? Wo hast du für die Wahrheit
gezeugt und wo wider die Unwahrheit? Welche Opfer hast du gebracht,
was hast du an Verfolgung erlitten um deines Christentums willen?
Und daheim in deinem häuslichen Leben, woran ist deine Selbstverleugnung und Entsagung zu merken gewesen?«
»Ja, aber, lieber Luther, ich kann dir versichern, ich habe den Glauben.«
»Versichern, versichern, was ist das für ein Gerede! Wo es darum
geht, ob man den Glauben habe, da bedarf es keiner Versicherung,
falls man ihn hat (denn der Glaube ist ein unruhig Ding, man merkt
es gleich); und keine Versicherung vermag zu helfen, falls man ihn
nicht hat.«
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»Ja, aber glaub es mir nur, ich kann versichern mit aller nur möglichen Feierlichkeit …«
»Ach, hör auf mit dem Geschwätz, was kann dein Versichern hier
helfen!«
»Ja, aber wenn du nur eine von meinen Schriften lesen wolltest,
wirst du sehen, wie ich den Glauben darzustellen vermag, und so weiß
ich denn, daß ich ihn haben muß.«
»Ich glaube, der Mensch ist verrückt! Falls es so ist, daß du den Glauben darstellen kannst, so beweist das nur, daß du ein Dichter bist; und
wenn du es gut machst, daß du ein guter Dichter bist; jedoch am wenigsten von allem, daß du ein Gläubiger bist. Vielleicht kannst du auch
meinen, wenn du den Glauben darstellst, das würde denn beweisen,
daß du ein guter Schauspieler wärest; du erinnerst dich wohl der Geschichte von jenem Schauspieler des Altertums, der sich in solchem
Maße in das Rührende einzufühlen wußte, daß er sogar weinte, wenn er
vom Theater nach Hause kam, und noch mehrere Tage danach weinte –
dies bewies nur, daß er ein guter Schauspieler war. Nein, mein Freund,
der Glaube ist ein unruhig Ding; er ist Gesundheit, jedoch stärker und
heftiger als das hitzigste Fieber, und es hilft nichts, daß ein Kranker
versichert: ›Ich habe kein Fieber‹, wenn der Arzt es am Pulsschlag fühlt;
aber auch nicht, daß ein Gesunder behaupten will: ›Ich habe Fieber‹,
wenn der Arzt, indem er den Puls fühlt, merkt, daß es nicht wahr ist –
ebenso denn auch: Wenn man in deinem Leben den Pulsschlag des Glaubens nicht fühlt, so hast du auch den Glauben nicht. Spürt man hingegen des Glaubens Unruhe als den Pulsschlag in deinem Leben, so kann
man sagen, daß du den Glauben hast und vom Glauben ›zeugst‹. Und
dies ist wiederum eigentlich das Predigen; denn predigen heißt weder
den Glauben in Büchern darstellen, noch auch ihn als Redner darstellen
in ›stillen Stunden‹, es sollte ja, wie ich in einer Predigt gesagt habe,
eigentlich ›nicht in Kirchen gepredigt werden, sondern auf der Gasse‹,
und es soll auch nicht ein Redner sein, sondern ein Zeuge, das heißt:
der Glaube, dies unruhige Ding, soll kenntlich sein in seinem Leben.«
* * *
Das ist vortrefflich von Tersteegen: Die Schriftgelehrten wußten zu
sagen, wo der Messias geboren sein müsse – aber sie blieben ganz ruhig in Jerusalem, gingen nicht mit, um ihn zu suchen.
Ach, ebenso kann man das ganze Christentum wissen, aber es bewegt einen nicht. Diese Macht, die Himmel und Erde bewegt – die
bewegt einen gar nicht.
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Ach, und welcher Unterschied: Die heiligen drei Könige hatten nur
ein Gerücht, woran sie sich halten konnten – aber es bewegte sie, den
weiten Weg zu reisen. Die Schriftgelehrten wußten ganz anders Bescheid, saßen und studierten die Schrift wie Professoren – aber es bewegte sie nicht.
Wo war dann die meiste Wahrheit, entweder bei den drei Königen,
die einem Gerücht nachliefen, oder bei den Schriftgelehrten, die mit
all ihrem Wissen sitzenblieben?
Das Christentum
Ja, gewiß ist das Christentum eine Freude, eine Freude, eine frohe
Botschaft, sie setzt nur eines voraus, um in Wahrheit eine solche Botschaft für uns Menschen sein zu können, nämlich daß du und ich
Heldenmenschen sind, Geist sind.
Nimm die Situation: Es ergeht folgende Verkündigung an einen
Menschen: »Vor allem gibt es etwas, wovon du nicht weißt, sondern
was du dir sagen lassen mußt, und was du glauben sollst: Du bist in
Sünde empfangen, in Übertretung geboren; du bist von Geburt an ein
Sünder, in der Gewalt des Teufels; falls du in diesem Zustande bleibst,
ist dir die Hölle sicher. Da hat Gott in unendlicher Liebe eine Veranstaltung zu deiner Erlösung getroffen, hat seinen Sohn geboren werden, leiden und sterben lassen. Glaubst du das, dann wirst du ewig
selig. Dies wird dir verkündigt, diese frohe Botschaft. Und denk dir,
die Freude ist noch größer: Du sollst die Erlaubnis haben, um dieser
Sache willen dein ganzes übriges Leben, 40 Jahre, ein Leben in Armut
zu erdulden, verhöhnt, gegeißelt, mißhandelt, zuletzt hingerichtet zu
werden – denk dir, welche Ehre, welch unbeschreiblich frohe Botschaft.
Dies ist das Christentum.
Der christliche Nachdruck
Christlich liegt der Nachdruck nicht entfernt so stark darauf, wie weit,
wie weit hinaus es gelingt, die Forderung einzulösen oder die Forderung zu erfüllen, wofern man doch nur strebt, als darauf, daß die Forderung sich einem in ihrer ganzen Unendlichkeit zeigt, damit man
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recht lernt, sich zu demütigen und bei der Gnade Zuflucht zu suchen.
Die Forderung zu ermäßigen, um sie dann um so besser erfüllen zu
können (als sei dies der Ernst, auf daß es sich nun um so leichter
zeigen kann, daß man Ernst damit macht, die Forderung erfüllen zu
wollen): das ist dem innersten Wesen des Christentums zuwider.
Nein, die unendliche Demütigung und die Gnade und dann ein
Streben der Dankbarkeit, das ist Christentum.
Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolget,
der kann nicht mein Jünger sein
Lukas 14,27
Wegweisung wird wahrlich genug angeboten auf dem Lebensweg, und
was wunders wohl, sintemal jede Irrung sich als eine Wegweisung ausgibt. Aber gibt es Irrungen auch mancherlei, so ist die Wahrheit doch
nur eine, und nur einer, welcher »der Weg und das Leben« ist, nur eine
Wegweisung, welche in Wahrheit einen Menschen durchs Leben zum
Leben führt. Tausende und Abertausende tragen einen Namen, durch
den bezeichnet wird, daß sie diese Wegweisung gewählt haben, daß sie
dem Herrn Jesus Christus angehören, nach welchem sie sich Christen
nennen, daß sie seine Leibeignen sind, ob sie im übrigen auch Herren
sind oder Knechte, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen.
Christen nennen sie sich, und sie nennen sich auch mit anderen
Namen, die alle das Verhältnis zu dieser einen Wegweisung bezeichnen.
Sie nennen sich Glaubende und bezeichnen sich dadurch als Wanderer, Fremdlinge und Ausländer hier in der Welt; ja, ein Wanderer
wird nicht so sicher an dem Stab in seiner Hand erkannt (mancher
könnte ja auch einen Stab tragen, ohne ein Reisender zu sein), wie die
Benennung als Glaubender offenkundig bezeugt, daß man auf einer
Reise ist, denn Glaube bedeutet gerade: was ich suche, ist nicht hier,
eben deshalb glaube ich es. Glaube bedeutet gerade die tiefe, starke,
selige Unruhe, die den Glaubenden treibt, so daß er sich nicht zur
Ruhe geben kann in dieser Welt, so daß der, welcher sich gänzlich zur
Ruhe gegeben hätte, auch aufhörte, ein Glaubender zu sein; denn ein
Glaubender kann nicht stille sitzen, wie man sitzt mit einem Wanderstab in der Hand, ein Glaubender wandert weiter.
Sie nennen sich »die Gemeinschaft der Heiligen« und bezeichnen
dadurch, was sie sein sollten und müßten, was sie hoffen, einmal zu
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werden, wenn der Glaube abgelegt und der Wanderstab niedergelegt
wird.
Sie nennen sich Kreuzträger und bezeichnen dadurch, daß ihr Weg
durch die Welt nicht leicht ist wie ein Tanz, sondern schwer und mühsam, obwohl ihnen doch zugleich der Glaube die Freude ist, welche
die Welt überwindet; denn ebenso wie das Schiff zur gleichen Zeit, da
es mit dem Segel leicht vor dem Winde dahinsegelt, den schweren Weg
tief durch das Meer pflügt: ebenso ist auch der Weg des Christen leicht,
wenn man auf den Glauben blickt, welcher die Welt überwindet, aber
schwer, wenn man auf die mühsame Arbeit in der Tiefe blickt.
Sie nennen sich »Christi Nachfolger«, und bei diesem Namen wollen wir diesmal verweilen, indem wir das folgende bedenken.
Was in dem Gedanken liegt, Christo nachzufolgen,
und was darin Frohmachendes liegt
Wenn der kühne Krieger mutig vorwärtsdringt und mit seiner Brust
alle Pfeile des Feindes auffängt, aber auch seinen Burschen deckt, der
hinter ihm folgt: kann man dann sagen, dieser Bursche folge ihm nach?
Wenn die liebende Ehefrau meint, in dem, was ihr das Liebste auf der
Welt ist, in ihrem Eheherrn das schöne Vorbild zu haben, das sie in
ihrem Leben zu erreichen wünschte, und sie dann nach weiblicher Art
(denn das Weib wurde ja von des Mannes Seite genommen) mit ihm
Seite an Seite wandert und sich auf ihn stützt: kann man dann sagen,
diese Ehefrau folge ihrem Eheherrn nach? Wenn der unerschrockene
Lehrer ruhig auf seinem Platz steht, während Verhöhnung ihn umgibt
und Mißgunst ihm nachstellt; wenn alle Angriffe sich nur gegen ihn
richten, aber keiner den Anhänger, der sich ihm anschließt, auch nur
aufs Korn bekommen kann: kann man dann sagen, dieser Anhänger
folge ihm nach? Wenn die Henne den Feind kommen sieht und deshalb ihre Flügel ausbreitet, um die Küken zu verbergen, die hinter ihr
herlaufen: kann man dann sagen, diese Küken folgten der Henne nach?
Nein, derart kann man nicht reden; man muß das Verhältnis verändern. Der kühne Krieger muß abtreten, damit sich nun zeigen kann,
ob sein Bursche ihm auch nachfolgen wird, ihm nachfolgen wird in
die Wirklichkeit der Gefahr, wenn dann alle Pfeile auf seine Brust zielen; oder ob er feige der Gefahr den Rücken wenden, den Mut verlieren
wird, weil er den Mutigen verloren hat. Der edle Eheherr, ach, er muß
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zur Seite treten, von ihr weggehen, damit sich nun zeigen kann, ob die
trauernde Witwe, ohne seine Unterstützung, ihm nachfolgen wird; oder
ob sie, seiner Unterstützung beraubt, auch sein Vorbild fahrenlassen
wird. Der unverzagte Lehrer muß sich verbergen oder muß in einem
Grab verborgen werden, damit nun offenbar werden kann, ob der Anhänger ihm nachfolgen wird, aushalten wird auf dem Platz, während
die Verhöhnung ihn umgibt und die Mißgunst ihm nachstellt; oder ob
er bei lebendigem Leibe mit Schanden von der Stätte weichen wird,
weil der Lehrer sie im Tode mit Ehren verlassen hat.
Nachzufolgen bedeutet dann, den gleichen Weg zu gehen, den der
gegangen ist, dem man nachfolgt; das bedeutet also: Er geht nicht
mehr sichtbar voran. Und so war es denn ja notwendig, daß Christus
fortgehen mußte, sterben mußte, ehe sich zeigen konnte, ob der Jünger ihm nachfolgen werde. Vor vielen, vielen Jahrhunderten ist dies
geschehen, und doch geschieht es beständig noch ebenso. Denn es
gibt eine Zeit, da Christus beinahe sichtbar dem Kinde zur Seite geht,
ihm vorangeht; aber dann kommt auch eine Zeit, wo er dem Auge
der sinnlichen Einbildung entschwindet, damit es sich nun im Ernst
der Entscheidung zeigen kann, ob der Erwachsene ihm nachfolgen
werde.
Wenn das Kind Erlaubnis bekommt, sich am Rock der Mutter festzuhalten – kann man dann sagen, das Kind gehe denselben Weg ebenso, wie die Mutter ihn geht? Nein, das kann man nicht sagen. Das
Kind muß erst lernen, selbst zu gehen, allein zu gehen, ehe es denselben Weg gehen kann wie die Mutter, und zwar ebenso, wie sie ihn
geht. Und wenn das Kind allein zu gehen lernt, was muß dann die
Mutter tun? Sie muß sich unsichtbar machen. Daß ihre Zärtlichkeit
deshalb dieselbe bleibt, unverändert, ja, daß sie wohl gerade wächst in
der Zeit, da das Kind allein zu gehen lernt, das wissen wir ja wohl,
hingegen kann das Kind es vielleicht nicht immer verstehen. Aber was
es für das Kind heißt, daß es lernen soll, allein und selbständig zu
gehen, das ist, geistig verstanden, die Aufgabe, welche dem gestellt
wird, der eines Menschen Nachfolger sein soll; er muß lernen, allein
und selbständig zu gehen. Ach, wie wunderlich! Fast scherzend und
stets mit einem Lächeln sprechen wir von der Bekümmerung des Kindes, wenn es lernen soll, allein zu gehen; und doch hat die Sprache
vielleicht keinen stärkeren oder ergreifenderen oder wahreren Ausdruck
für den tiefsten Kummer und das tiefste Leid als den: einsam und
allein zu gehen. Daß die Fürsorge im Himmel unverändert ist, ja, falls
es möglich wäre, noch mehr besorgt in dieser gefahrvollen Zeit, das
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wissen wir ja wohl, aber man kann es vielleicht nicht immer verstehen, während man lernt.
Nachzufolgen bedeutet nun, einsam und allein den Weg zu gehen,
welchen der Lehrer gegangen ist: niemand Sichtbaren zu haben, den
man um Rat fragen kann; selber wählen zu sollen; vergebens zu schreien, wie das Kind vergebens schreit, denn die Mutter darf ihm nicht
sichtbar helfen; vergebens zu verzweifeln, denn niemand kann helfen,
und der Himmel darf nicht sichtbar helfen. Aber daß einem unsichtbar geholfen wird, das heißt eben, allein gehen zu lernen, denn es heißt
lernen, seinen Sinn umzubilden zur Gleichheit mit dem des Lehrers,
den man doch nicht sichtbar sieht. Allein zu gehen! Ja, es gibt keinen,
keinen Menschen, der für dich wählen oder dich im letzten und entscheidenden Sinn beraten kann in bezug auf das einzig Wichtige, dir
entscheidend raten kann in Sachen deiner Seligkeit; und wären auch
noch so viele dazu bereit, es gereichte ja nur zu deinem Schaden. Allein! Denn wenn du gewählt hast, wirst du zwar Mitwanderer finden,
aber im entscheidenden Augenblick, und jedesmal, wo Lebensgefahr
besteht, da bleibst du allein. Niemand, niemand hört dein schmeichelndes Bitten oder achtet auf deine heftige Klage – und doch gibt es
Hilfe und Willigkeit genug im Himmel; sie ist jedoch unsichtbar; daß
einem durch sie geholfen wird, heißt eben, allein gehen zu lernen.
Diese Hilfe kommt nicht von außen und ergreift deine Hand; sie stützt
dich nicht, wie ein liebevoller Mensch den Kranken stützt; sie führt
dich nicht mit Gewalt zurück, wenn du in die Irre gegangen bist. Nein,
nur wenn du gänzlich nachgibst, allen eigenen Willen aufgibst, und
dich hingibst mit deinem innersten Herzen und Sinn: dann kommt
die Hilfe im Unsichtbaren; aber dann bist du eben allein gegangen.
Man sieht nicht den mächtigen Trieb, der den Vogel den weiten Weg
führt; der Trieb fliegt nicht voran und der Vogel hinterher; es sieht aus,
als sei es der Vogel, der den Weg fand; ebenso sieht man den Lehrer
nicht, sondern nur den Nachfolger, der ihm gleicht, und es sieht aus,
als sei der Nachfolger selber der Weg, eben weil er der wahre Nachfolger ist, der allein den gleichen Weg geht.
Dies ist es, was in dem Gedanken liegt: jemandem nachzufolgen.
Aber Christus nachzufolgen bedeutet, sein Kreuz auf sich zu nehmen,
oder wie es in unserem Text heißt: sein Kreuz zu tragen. Sein Kreuz
tragen bedeutet, sich selbst zu verleugnen, wie Christus erklärt, wenn
er sagt: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst, und
nehme sein Kreuz auf sich und folge mir« (Matth. 16,24). Dies war
auch »jene Gesinnung, die Christus Jesus hatte, welcher es nicht für
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einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, sondern erniedrigte sich selbst
und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz« (Phil.
2,5ff). Solcher Art war das Vorbild, solcher Art muß auch der Nachfolger sein, wenn es auch eine langsame und beschwerliche Arbeit ist,
sich selbst zu verleugnen, ein schweres Kreuz auf sich zu nehmen, ein
schweres Kreuz zu schleppen, welches doch, nach der Anweisung des
Vorbilds, in Gehorsam bis zum Tode getragen werden soll, damit der
Nachfolger, wenn er auch nicht am Kreuze stirbt, doch dem Vorbild
darin gleicht, daß er »mit dem Kreuz auf dem Rücken« stirbt. Eine
einzelne gute Tat, ein einzelner hochgemuter Entschluß heißt nicht,
sich selbst zu verleugnen. Ach, so lehrt man es vielleicht in der Welt,
weil man sogar dies so selten sieht, daß es deshalb das seltene Mal mit
Erstaunen gesehen wird. Aber das Christentum lehrt anders. Christus
sagte nicht zu dem reichen Jüngling: »Willst du vollkommen sein, so
verkaufe all deine Güter und gib sie den Armen.« Manch einem dürfte
zwar schon allein diese Forderung überspannt und seltsam erscheinen; man würde vielleicht den Jüngling nicht einmal bewundern, falls
er es täte, sondern über ihn lächeln wie über einen Sonderling oder
ihn bemitleiden als einen Narren. Doch spricht Christus anders, er
sagt: »Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, und komm,
folge mir nach, und nimm das Kreuz auf dich« (Mark. 10,21). Also
seine Güter zu verkaufen und sie den Armen zu geben, das heißt nicht,
das Kreuz auf sich zu nehmen, oder es ist höchstens der Anfang, der
gute Anfang, um dann das Kreuz zu nehmen und Christus nachzufolgen. Alles den Armen zu geben, das ist das erste, das heißt – da ja die
Sprache erlaubt, auf unschuldige Art geistreich zu sein – das Kreuz auf
sich zu nehmen; das nächste, die langwierige Fortsetzung ist: sein Kreuz
zu tragen. Das muß täglich geschehen, nicht ein für allemal; und nichts,
nichts darf es geben, ohne daß der Nachfolger bereit wäre, es in Selbstverleugnung aufzugeben. Ob es etwas Unbedeutendes ist, wie man
sagt, worin er sich nicht selbst verleugnen will, oder etwas Großes,
das macht überhaupt keinen wesentlichen Unterschied, denn das
Unbedeutende erhält gerade unendliche Bedeutung als Schuld durch
das Mißverhältnis zu der geforderten Selbstverleugnung. Es gab vielleicht einen, der bereit war, zu tun, was der reiche Jüngling nicht getan
hatte, in der Hoffnung, dadurch das Höchste vollbracht zu haben, und
der dennoch kein Nachfolger wurde, weil er stehenblieb, »sich umwendete und zurücksah« – nach seiner großen Tat; oder wenn er auch
weiterging, dennoch kein Nachfolger wurde, weil er meinte, etwas so
Großes getan zu haben, daß es auf Kleinigkeiten nicht ankomme. Ach,
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woher kommt es wohl, daß es am allerschwierigsten ist, sich selbst in
dem weniger Bedeutenden zu verleugnen? Etwa daher, daß eine gewisse veredelte Selbstliebe auch fähig ist, sich in dem Großen scheinbar
selbst zu verleugnen? Aber je geringer, je unbedeutender, je kleinlicher
die Forderung ist, um so kränkender für die Selbstliebe, weil sie in
bezug auf eine solche Aufgabe gänzlich verlassen ist von ihren eigenen
hochtrabenden Vorstellungen und denen anderer; aber um so demütiger ist eben deshalb die Selbstverleugnung. Woher kommt es wohl,
daß es am allerschwierigsten ist, sich selbst zu verleugnen, wenn man
allein und wie in einem vergessenen Winkel lebt? Etwa daher, daß
eine gewisse veredelte Selbstliebe auch fähig ist, sich scheinbar selbst
zu verleugnen – wenn viele bewundernd auf sie blicken? Aber so wenig, wie es einen wesentlichen Unterschied macht, welches nun das
Unterschiedliche sei, worin der einzelne Mensch sich, im Verhältnis
zu seinen Lebensbedingungen, selbst verleugnet, so daß ein Bettler
sich unbedingt ebensogut selbst verleugnen kann wie ein König; ebenso macht es auch keinen wesentlichen Unterschied, welches nun das
Unterschiedliche sei, worin ein Mensch es bleiben läßt, sich selbst zu
verleugnen, denn die Selbstverleugnung ist ja eben die Innerlichkeit,
sich selbst zu verleugnen. Und dies ist eine schwere und beschwerliche Arbeit. Denn zwar besteht die Selbstverleugnung darin, die Lasten
abzuwerfen, und könnte insofern recht leicht erscheinen; aber es ist ja
doch schwer, gerade die Lasten abwerfen zu sollen, welche die Selbstliebe so gern tragen will, ja so gern, daß es der Selbstliebe bereits sehr
schwerfällt, zu verstehen, daß es Lasten sind.
Christus nachzufolgen bedeutet, sich selbst zu verleugnen, und bedeutet also, den gleichen Weg zu gehen, den Christus in der geringen
Gestalt eines Knechts ging, Not leidend, verlassen, verspottet, die Welt
nicht liebend, und nicht von ihr geliebt. Und es bedeutet also, allein
zu gehen, denn einer, der in Selbstverleugnung Verzicht tut auf die
Welt und alles, was der Welt zugehört, der jedem Verhältnis entsagt,
welches sonst lockt und bindet, so daß er nicht auf seinen Acker geht,
auch nicht handelt, auch nicht ein Weib nimmt; einer, der, falls es
notwendig ist, zwar Vater und Mutter, Schwester und Bruder nicht
weniger liebt als vorher, aber Christus dergestalt mehr liebt, daß man
von ihm sagen kann, er hasse jene: der geht ja allein, allein in der
ganzen Welt. Ja, im geschäftigen Hin und Her des Lebens scheint es
eine schwierige, eine unmögliche Sache, derart zu leben, unmöglich
schon zu beurteilen, ob jemand wirklich derart lebt; aber laß uns nicht
vergessen, daß es die Ewigkeit ist, weiche beurteilen wird, wie die Auf-
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gabe gelöst wurde, und daß der Ernst der Ewigkeit die Schweigsamkeit
der Scham gebieten wird in bezug auf all das Weltliche, wovon in der
Welt fortwährend gesprochen wurde. Denn in der Ewigkeit wirst du
nicht gefragt werden, ein wie großes Vermögen du hinterläßt – danach
fragen die Hinterbliebenen; oder wie viele Schlachten du gewonnen
hast, wie klug du gewesen bist, wie mächtig dein Einfluß war – das
wird ja zu deinem Nachruhm in der Nachwelt. Nein, die Ewigkeit
wird nicht fragen, was weltlich von dir hinterbleibt in der Welt. Aber
sie wird fragen, welchen Reichtum du im Himmel gesammelt hast;
wie oft du gesiegt hast über deinen Sinn; welche Herrschaft du über
dich selbst geübt hast, oder ob du dort ein Sklave gewesen bist; wie
viele Male du dich in Selbstverleugnung selbst beherrscht hast, oder
ob du das niemals getan hast, wie oft du in Selbstverleugnung bereit
gewesen bist, Opfer zu bringen für eine gute Sache, oder ob du niemals
bereit gewesen bist; wie oft du in Selbstverleugnung deinem Feind vergeben hast, ob du das wohl siebenmal getan hast oder siebenzig mal
siebenmal; wie oft du Beleidigungen in Selbstverleugnung geduldig ertragen hast; was du gelitten hast, nicht um deiner selbst willen, um
deiner eigensüchtigen Zwecke willen, sondern was du in Selbstverleugnung gelitten hast um Gottes willen.
Und der, welcher dich fragen wird, der Richter, gegen dessen Spruch
du nicht an einen höheren appellieren kannst, er war kein Heerführer,
der Reiche und Länder eroberte, mit dem du über deine irdischen Taten sprechen könntest, sein Reich war gerade nicht von dieser Welt; er
war nicht ein Purpurgekleideter, mit dem du die vornehme Gesellschaft suchen könntest, denn er trug den Purpur nur zum Hohn; er
war nicht mächtig durch seinen Einfluß, so daß er wünschen könnte,
in deine weltlichen Geheimnisse eingeweiht zu werden, denn er war
so verachtet, daß der Vornehme ihn nur in der Verborgenheit der Nacht
besuchen durfte.
Oh, es ist doch immer ein Trost, mit Gleichgesinnten zusammenzukommen. Wenn man feige ist, dann nicht vor ein Gericht von Kriegern gestellt werden zu sollen; wenn man selbstsüchtig und weltlich
gesinnt ist, dann nicht von der Selbstverleugnung gerichtet werden zu
sollen. Und jener Richter weiß nicht nur, was Selbstverleugnung ist, er
versteht nicht nur derart zu urteilen, daß keine Mißlichkeit sich verstecken kann, nein, seine Gegenwart ist das Richtende, welches alles
verstummen und verblassen läßt, was sich weltlich so gut in der Welt
ausnahm und mit Bewunderung gehört und gesehen wurde; seine
Gegenwart ist das Richtende, denn er war die Selbstverleugnung. Er,
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der Gott gleich war, nahm die Gestalt eines geringen Knechts an; er,
der über Legionen Engel gebieten konnte, ja über Bestand und Untergang der Welt, er ging wehrlos umher; er, der alles in seiner Macht
hatte, gab alle Macht auf, konnte auch nichts für seine lieben Jünger
tun, sondern ihnen nur die gleichen Verhältnisse der Niedrigkeit und
Verachtung bieten; er, welcher der Herr der Schöpfung war, zwang die
Natur selbst, sich ruhig zu verhalten, denn erst als er den Geist aufgegeben hatte, zerriß der Vorhang und taten sich die Gräber auf, und
verrieten die Kräfte der Natur, wer er war.
Wofern das nicht Selbstverleugnung ist, was ist dann Selbstverleugnung!
Das war es, was in dem Gedanken liegt: Christus nachzufolgen;
aber laß uns nun das Frohmachende in diesem Gedanken bedenken.
Mein Zuhörer! Wofern du dir einen Jüngling denkst, der am Beginn
seines Lebens steht, wo die vielen Wege sich ihm öffnen, und der sich
selbst fragt, welche Laufbahn er wünschen könne zu betreten; nicht
wahr, dann erkundigt er sich genau, wohin der einzelne Weg führt,
oder, was das gleiche ist: Er sucht zu erfahren, wer früher den Weg
gegangen ist. Dann nennen wir ihm die berühmten, die gepriesenen,
die herrlichen Namen auf den Wegen, die Namen, deren Gedächtnis
unter den Menschen bewahrt wird. Zu Beginn nennen wir vielleicht
mehrere, damit die Wahl im Verhältnis stehen kann zur Möglichkeit
des Jünglings, damit der Reichtum der Belehrung, der geboten wird,
im Überfluß da sein kann; aber er selbst trifft nun, getrieben von dem
Drang seines Inneren, eine kleinere Auswahl, zuletzt bleibt für ihn
nur einer, ein einziger: der in seinen Augen und nach seinem Herzen
Vorzüglichste unter allen. Dann klopft das Herz des Jünglings heftig,
wenn er begeistert diesen Namen nennt, ihn, den einzigen, und sagt:
Den Weg will ich gehen, denn den Weg ging Er!
Wir wollen nun die Aufmerksamkeit nicht zerstreuen oder Zeit vergeuden, indem wir solcherlei Namen nennen; denn es gibt ja doch nur
einen Namen im Himmel und auf Erden, einen einzigen, und also nur
einen Weg zu wählen – wofern ein Mensch im Ernst wählen soll und
richtig wählen soll. Es muß nämlich mehrere Wege geben, sintemal
ein Mensch wählen soll; aber es darf auch nur einer zu wählen sein,
wofern der Ernst der Ewigkeit über der Wahl ruhen soll. Eine Wahl,
von welcher gilt, daß man ebensogut das eine wählen kann wie das
andere, hat nicht den ewigen Ernst der Wahl; es muß durch die Wahl
unbedingt alles zu gewinnen und alles zu verlieren sein, falls die Wahl
den Ernst der Ewigkeit haben soll, wenn auch, wie gesagt, eine Mög-
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lichkeit vorhanden sein muß, etwas anderes wählen zu können, damit
die Wahl wirklich eine Wahl sein kann.
Es gibt nur einen Namen im Himmel und auf Erden, nur einen
Weg, nur ein Vorbild. Wer es wählt, Christus nachzufolgen, der wählt
den Namen, welcher höher ist als alle Namen; das Vorbild, welches
hoch erhöht ist über alle Himmel, aber doch auch derart menschlich
ist, daß es Vorbild für einen Menschen sein kann, daß es genannt
wurde und genannt werden wird im Himmel und auf Erden, an beiden
Orten als das höchste. Denn es gibt Vorbilder, deren Namen nur auf
Erden genannt werden; aber das höchste, das einzige, muß ja eben
diese ausschließende Eigenschaft haben, an der es wieder als das einzige kenntlich ist: daß es im Himmel und auf Erden genannt wird.
Dieser Name ist der Name unseres Herrn Jesus Christus. Aber ist es
dann nicht frohmachend, daß man wählen darf, denselben Weg zu
gehen, den er gegangen ist!
Ach, in der verworrenen und verwirrenden Rede der Welt klingt
leider das Einfältige und der Ernst zuweilen fast wie ein Scherz. Der
Mensch, der wohl die größte Macht ausgeübt hat, welche jemals in der
Welt ausgeübt worden ist, er nennt sich stolz Petri Nachfolger. Aber
nun Christi Nachfolger zu sein! Ja, das verlockt nicht den Stolz, das
ist gleichermaßen dem Mächtigsten gestattet und dem Geringsten,
dem Weisesten und dem Einfältigsten, was ja eben wieder das Selige
ist. Und ist es denn wohl so herrlich, das Vorzügliche zu werden, was
kein anderer Mensch werden kann; ist das nicht eher trostlos? Ist es
so herrlich, von Silber zu speisen, wenn andere hungern; in Palästen
zu wohnen, wenn so viele kein Obdach haben; der Gelehrte zu sein,
was kein Einfältiger werden kann; einen Namen zu haben in dem Sinne, daß Tausende und Abertausende ausgeschlossen sind; ist das so
herrlich? Und wenn diese armherzige Verschiedenheit des Erdenlebens das Höchste wäre, wäre das dann nicht unmenschlich, und das
Leben unerträglich für den Glücklichen! Wie anders hingegen, wenn
es das einzige Frohmachende ist, Christus nachzufolgen. Höhere Freude
kann ja doch nicht gegeben werden als die: das Höchste werden zu
können; und diese hohe Freude kann nicht freimütiger, seliger, sicherer gemacht werden als sie es ist durch den frohen, den barmherzigen
Gedanken des Himmels: daß jeder Mensch das kann.
So geht denn der, welcher die Nachfolge Christi gewählt hat, auf
dem Wege voran. Und wenn er dann auch die Welt und, was in der
Welt ist, kennenlernen muß, die Stärke der Welt und seine eigene
Schwachheit; wenn der Kampf mit Fleisch und Blut ängstigend wird;
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wenn der Weg schwierig wird, der Feinde viele, der Freunde keiner,
dann preßt der Schmerz ihm wohl diesen Seufzer ab: Ich gehe allein.
Mein Zuhörer – wofern ein Kind, das dabei wäre, gehen zu lernen,
weinend zu dem Erwachsenen käme und sagte: Ich gehe allein – sagte
dann der Erwachsene nicht: Das ist ja gerade das Herrliche, mein Kind!
Und ebenso auch steht es mit der Nachfolge Christi. Auf diesem Wege
ist es nicht nur so, wie es sonst heißt, daß, wenn die Not am größten,
die Hilfe am nächsten ist – nein, hier auf diesem Wege ist der Gipfel
des Leidens die größte Nähe der Vollkommenheit. Weißt du einen anderen Weg, auf dem das der Fall ist? Auf jedem anderen Weg ist es
umgekehrt: Wofern da die Leiden kommen, so ist die Last das überwiegende, ja sogar derart das überwiegende, daß es bedeuten kann,
man habe einen unrichtigen Weg gewählt. Auf dem Weg hingegen, auf
welchem ein Mensch Christus nachfolgt, ist der Gipfel des Leidens
das Herrlichste; indes der Wanderer seufzt, preist er sich im Grunde
selig.
Schau, wenn ein Mensch irgendeinen anderen Weg antritt, so muß
er sich ja im voraus mit der Unsicherheit des Weges vertraut machen.
Es kann vielleicht gut gehen und ohne schwierige Zufälle, aber es können sich vielleicht auch so viele Hindernisse auftürmen, daß er auf
dem Wege nicht vorwärtsdringen kann. Auf dem Wege der Selbstverleugnung, Christus nach, ist dagegen ewige Wegsicherheit; auf diesem
Wege sind die »Meilensteine« des Leidens die frohmachenden Zeichen
dafür, daß man auf dem rechten Weg vorankommt. Aber welche Freude ist doch größer als die, den besten Weg wählen zu dürfen, den Weg
zum Höchsten; und welche Freude ist dann wieder ebensogroß wie
diese außer der, daß der Weg in alle Ewigkeit sicher ist!
Doch ist noch eine letzte selige Freude enthalten in dem Gedanken,
Christus nachzufolgen. Denn er geht zwar, wie entwickelt worden ist,
nicht bei dem Nachfolgenden, auch geht er ihm nicht sichtbar voran,
aber er ist vorausgegangen, und das ist die frohe Hoffnung des Nachfolgers: daß er ihm nachfolgen werde. Eines ist es ja, ihm nachzufolgen auf dem Wege der Selbstverleugnung, und auch das war frohmachend, etwas anderes, ihm nachzufolgen in die Seligkeit. Wenn der
Tod zwei Liebende getrennt hat und dann die Zurückgebliebene stirbt,
so sagen wir: Nun ist sie ihm nachgefolgt – er ging voraus. Ebenso ist
Christus vorausgegangen, und nicht bloß auf solche Weise, denn er ist
vorausgegangen, um dem Nachfolger die Stätte zu bereiten.
Wenn wir von einem menschlichen Vorgänger sprechen, dann gilt
vielleicht, daß er durch Vorausgehen den Weg leichter gemacht hat für
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den, der ihm nachfolgt; und wenn der Weg, von dem die Rede ist, das
Irdische, das Zeitliche, das Unvollkommene angeht, dann kann es sein,
daß der Weg sogar für den Nachfolger gänzlich leicht geworden ist.
Das gilt nicht in bezug auf den Christen, oder vom vollkommenen
Weg der Selbstverleugnung; dieser Weg bleibt immer wesentlich gleich
schwer für jeden Nachfolger. Aber dann gilt von Christus in einem
ganz anderen Sinne, daß er vorausgegangen ist: er hat für den Nachfolger nicht den Weg bereitet, indem er vorausging, sondern er ist vorausgegangen, um für den Nachfolger die Stätte im Himmel zu bereiten. Ein menschlicher Vorgänger kann zuweilen mit Fug und Recht
sagen: Jetzt ist es leicht genug, hinterherzugehen, da der Weg gebahnt
und bereitet und die Pforte weit ist. Christus hingegen muß sagen:
Schau, alles ist im Himmel bereit – wofern du bereit bist, in die enge
Pforte der Selbstverleugnung einzugehen und auf ihrem schmalen Weg
voranzuschreiten.
In der Geschäftigkeit der Welt scheint es vielleicht sehr unsicher zu
sein mit jener Stätte drüben; aber wer in Selbstverleugnung der Welt
und sich selbst entsagt hat, der muß sich ja dadurch dessen vergewissert haben, daß eine solche Stätte da ist. Irgendwo muß einer ja doch
sein, der da ist, irgendwo muß er seine Zuflucht haben; aber in der
Welt, die er aufgegeben hat, kann er seine Stätte nicht haben. Also
muß es eine andere Stätte geben, ja, es muß sie geben, damit er die
Welt aufgeben kann. Oh, wie leicht ist dies doch für einen Menschen
zu verstehen, falls er wirklich sich selbst und die Welt verleugnet hat.
Und auf sein Leben die Probe zu machen in dieser Hinsicht, wieweit man wirklich dessen sicher ist, daß es drüben eine solche Stätte
gibt, ob man wirklich sein Leben ewig gesichert hat: das ist auch leicht.
Der Apostel Paulus sagt (1. Kor. 15,19): »Hoffen wir allein in diesem
Leben, so sind wir die elendesten unter allen.« Das ist auch sicher;
denn einer, der um Christi willen allen Gütern der Welt entsagt und
alle ihre Übel erduldet, der ist – wofern es drüben keine Seligkeit
gäbe – betrogen, entsetzlich betrogen; wofern es drüben keine Seligkeit gäbe: mir scheint, sie müsse Wirklichkeit werden allein aus Mitleid mit einem solchen Menschen. Wofern nun ein Mensch nicht
nach den irdischen Dingen und den frohen Tagen trachtet; nicht nach
irdischem Vorteil strebt, auch nicht danach greift, wenn er geboten
wird; wofern er Mühe und Beschwerlichkeit wählt und, was nun einmal so sein muß, die undankbare Arbeit, weil er die beste Sache wählte; wofern er, wenn er das Irdische entbehren muß, nicht einmal den
Trost hat, daß er weiß, er habe alles Seine getan, um es zu gewinnen:
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dann ist er ja ein Narr in den Augen der Welt, er ist der Elendeste in
der Welt. Gäbe es dann keine Seligkeit drüben, dann wäre er ja der
Elendeste von allen; eben seine Selbstverleugnung machte ihn dazu,
ihn, der nicht einmal versucht hätte, das Irdische zu gewinnen, sondern es freiwillig aufgegeben hätte. Gibt es hingegen eine Seligkeit drüben, dann ist er, der Elende, doch der Reichste von allen. Denn eines
ist es, der Elendeste in der Welt zu sein, wenn die Welt das Höchste
sein soll, es zu sein, falls es keine Seligkeit gäbe; etwas anderes, der
Elendeste in der Welt zu sein, wenn es die Seligkeit gibt. Der Beweis
dafür, daß diese Seligkeit da ist, ist von Paulus ganz herrlich geführt
worden; denn daran kann überhaupt kein Zweifel sein, daß er – ohne
sie – der Elendeste von allen gewesen wäre.
Wofern hingegen ein Mensch versucht, sich in dieser Welt zu sichern, sich die Vorteile dieser Welt zu sichern, dann ist seine Versicherung, es gebe eine Seligkeit drüben, nicht gerade überzeugend: sie überzeugt andere kaum, sie hat kaum ihn selbst überzeugt. Doch darüber
richte niemand, oder jeder nur sich selbst, denn auch der Versuch,
einen andern in dieser Hinsicht richten zu wollen, ist ein Versuch,
sich in dieser Welt zu sichern; sonst müßte ein solcher ja einsehen,
daß beide, das Gericht und die Seligkeit, der anderen Welt zugehören.
Ach, es ist im Laufe der Zeit oft wiederholt worden, und die Wiederholung dauert noch immer an, daß einer vorausgeht, nach dem ein
anderer Mensch sich sehnt, dem er nachzufolgen wünscht. Aber es ist
niemals ein Mensch, niemals ein Liebender, niemals ein Lehrer, niemals ein Freund vorausgegangen – um dem Nachfolgenden die Stätte
zu bereiten. Wie Christi Name der einzige ist im Himmel und auf
Erden, so ist auch Christus der einzige Vorgänger, der auf solche Weise
vorausgegangen ist. Es gibt zwischen Himmel und Erde nur einen Weg:
Christus nachzufolgen; es gibt in Zeit und Ewigkeit nur eine Wahl,
eine einzige: diesen Weg zu wählen; es gibt auf Erden nur eine ewige
Hoffnung: Christus nachzufolgen in den Himmel. Es gibt im Leben
eine selige Freude: Christus nachzufolgen; und im Tode eine letzte
selige Freude: Christus nachzufolgen zum Leben!
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