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Leben aus dem Tod

Leben aus dem Tod
In unserem Leben sind zwei Prozesse im Gange. Altes wird abgerissen bzw. zerstört, und Neues wird aufgebaut. Während
Gott die Wesensart unseres inneren Menschen gestaltet und
wir alles von unserer Seite aus Erforderliche dazutun, wirkt er
an uns und versucht, den verhängnisvollen Einfluss des äußeren Menschen auf uns zu brechen. Laut Paulus muss Gott unseren äußeren Menschen zerfallen lassen, damit der innere Mensch
oder, wie er es nennt, »das Leben Jesu an unserem Leib offenbar
werde« (2Kor 4,10).
Was ist mit dem Wort »offenbar« gemeint? Es bedeutet: zeigen, zum Vorschein bringen oder demonstrieren. Gott will sein
Wesen durch uns zeigen, aber etwas hindert ihn daran. Unser
äußerer Mensch bringt noch immer uns selbst zum Ausdruck,
nicht Christus. Wenn wir das Leben, das Christus geschenkt hat,
offenbar werden lassen wollen, müssen wir uns einem schmerzhaften, aber notwendigen Prozess unterziehen – unser äußerer
Mensch muss nach und nach sterben.
Die Vorstellung, dass das Wesen Christi durch uns sichtbar wird, führt Paulus zu einer weiteren Erklärung in 2. Korinther 4,12: »Daher wirkt der Tod in uns, das Leben aber in euch.«
Hier finden wir das Prinzip des christlichen Dienstes. Die Glieder des Leibes Christi werden geistlich versorgt, wenn sie Gottes
Werk in ihrem Leben bereitwillig geschehen lassen und ihrerseits
dazu beitragen, die alten Verhaltensweisen in den Tod zu geben.
Warum ist der Dienst einiger Personen ein solch großer Segen
für uns? Die damit verbundene Befähigung wurde ihnen nicht
nur aufgrund eines jahrelangen Bibelstudiums und eines aktiven
Gebetslebens verliehen. Es kommt vielmehr das Wirken des Heiligen Geistes hinzu, das sie in ihrem Leben ebenso hat reifen lassen wie das Leiden. Wollen wir etwas für Christus bewirken, so
müssen wir akzeptieren, dass das nur möglich ist, wenn wir be-
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reit sind, am eigenen Leib zu erfahren, was es heißt, am Sterben
Christi teilzuhaben. Echte geistliche Effektivität im christlichen
Dienst hängt von unserer Zerbrochenheit sowie unserer Gleichförmigkeit mit dem Bild Christi ab.
Wodurch wird die Vormachtstellung des Fleisches
zerbrochen?
Gott benutzt die Bibel, das Gebet, die Gemeinschaft und den
christlichen Dienst, um den inneren Menschen zu verändern.
Beim äußeren Menschen kommen diese Dinge aber nicht zur
Wirkung. 1. Korinther 2,14 sagt: »Der natürliche Mensch aber
nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt
wird.«
Wir können unserem Fleisch die ganze Nacht die Bibel vorlesen, ohne die geringste Wirkung zu erzielen! Das Fleisch lernt
vielleicht sogar, bei Gebetstreffen laut zu beten. Aber geistliche
Dinge wie diese zeigen keine Wirkung auf das Fleisch. Was benutzt Gott also, um an unseren natürlichen Menschen heranzukommen?
Um die Herrschaft unserer fleischlichen Natur zu brechen, benutzt Gott äußere Erfahrungen und Umstände. So wie sich geistliche Dinge auf den inneren Menschen auswirken, haben äußere
einen großen Einfluss auf das Fleisch. Dinge wie Not, Krankheit,
Verfolgung, Versagen oder Gefahr sind wie Schläge gegen die
harte Schale des Fleisches. Sie können Risse in die Schale reißen.
Werden diese allmählich größer, kann mehr vom Wesen Christi
durch uns sichtbar werden, wie die folgende Illustration zeigt.
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»Meine Zimmergenossen machen mich
krank«, klagt der Student. »Ich werde mich
nicht länger ihrem Egoismus und ihren
Unverschämtheiten aussetzen. Ich heirate,
um ein Zeichen zu setzen.«
»Die Ehe ist nicht so leicht,
wie ich dachte.«
Ein umfassenderes Modell
Die anschließende Illustration zeigt, wie Gott unseren inneren
Menschen gestaltet und den äußeren zerbricht. Als Resultat wird
das Leben, das Christus geschenkt hat, durch uns immer stärker
sichtbar. Selbst der junge Christ, ganz links symbolisiert, weist
schon kleine Spalten auf, durch die Gott sein Wesen offenbar machen kann. Beim heranreifenden Christen werden diese Spalten
zu großen Löchern. Aber selbst die reifsten Christen, ganz rechts
versinnbildlicht, werden auch weiterhin einige Merkmale des
Fleisches aufweisen, die ihrer Natur anhaften.
junger Christ heranreifender Christ reifer Christ
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Wie macht Gott das?
Im Zusammenhang mit dem Werk des Zerbruchs, das der Heilige Geist vollbringt, benutzt Paulus einige bedrohlich klingende
Worte. In Römer 8,36 sagt er: »Deinetwegen werden wir getötet
den ganzen Tag.« An anderer Stelle schreibt er: »In allem bedrängt, aber nicht eingeengt; keinen Ausweg sehend, aber nicht
ohne Ausweg; verfolgt, aber nicht verlassen; niedergeworfen,
aber nicht umkommend« (2Kor 4,8-9). Was bedeutet es, in allem
bedrängt zu sein? Niedergeworfen zu werden? Keinen Ausweg
zu sehen oder verfolgt zu werden?
Der Kern der Sünde ist Autonomie oder Selbstgenügsamkeit. Gott könnte praktisch jede Art von leidvoller Erfahrung benutzen, um unsere Selbstgenügsamkeit anzugreifen. Wenn uns
Misserfolge, Leiden und Schmerzen treffen, spüren wir aufs
Neue unsere Abhängigkeit von Gott. Manchmal zwingt uns nur
schlimmste Verzweiflung, unsere Hoffnung auf uns selbst aufzugeben. In 2. Korinther 1,8-9 erzählt Paulus, dass »wir übermäßig beschwert wurden, über Vermögen, sodass wir sogar am
Leben verzweifelten. Wir selbst aber hatten das Urteil des Todes
in uns selbst, damit wir nicht auf uns selbst vertrauten, sondern
auf den Gott, der die Toten auferweckt.«
Teil dieses Prozesses ist somit, unser Vertrauen auf fleischliche Strategien, die wir in unserem Leben im Umgang mit Problemen entwickelt haben, aufzugeben. Wenn Paulus’ Beispiel
in 2. Korinther 1 typisch ist, kann nur große Not, die über unser
»Vermögen« hinausgeht (d. h. über unsere natürliche Stärke
ohne Gott), erreichen, was Gott im Sinn hat. Für den ernsthaften
Leser ist diese Beschreibung offenbar beunruhigend. Aber welche Wahl haben wir? Entweder unterstellen wir uns Gottes Plan
für unser Leben, oder wir gehen unsere eigenen Wege, die mit
Sicherheit schlechter sind. Paulus war offensichtlich froh, dass er
diese Erfahrungen durchgemacht hatte, und auch wir werden es
sein, wenn wir sie bestehen.
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Verwandelt in das Bild Christi
In Römer 8,28-29 beschreibt Paulus das große Ziel:
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind. Denn welche er
zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter
vielen Brüdern.
Bei Beerdigungen und tragischen Ereignissen aller Art werden
gerne Auszüge aus diesem Vers zitiert. Normalerweise heißt es
dann: »Alle Dinge werden zum Guten mitwirken.« Dieser Ausschnitt klingt wie eine Art geistloser positiver Fatalismus. Das
will der Vers aber nicht zum Ausdruck bringen. Er gibt eine
wichtige Verheißung, für die aber ebenso wichtige Bedingungen
und Einschränkungen bestehen.
1. Gott sagt in diesem Vers nicht, dass er alle Dinge veranlasst. Er sagt vielmehr, dass er unter bestimmten Umständen
»alle Dinge zum Guten mitwirken« lässt. Mit anderen Worten, in
einer gefallenen Welt kann er aus vielen leidvollen Erfahrungen
auswählen, und er muss solche Erfahrungen überhaupt nicht direkt bewirken. Das Alte Testament berichtet von Eliphas, Bildad
und Zophar, den drei Freunden Hiobs. Sie verstiegen sich zu der
Behauptung, dass sie den Grund für Hiobs Katastrophe wüssten:
Er hätte gesündigt und müsste Buße tun. Dann würde Gott sich
ihm wieder zuwenden und sein Leid beenden. Ihre Versuche,
Gott in eine Ursache-Wirkung-Schublade zu stecken, waren äußerst hartherzig gegenüber Hiob. Erst Elihu, der später zu Wort
kam, wies in seinen Reden zu Recht darauf hin, dass Leiden eine
Zuchtmaßnahme Gottes sein können, ohne dass eine konkrete
Sünde des Betreffenden vorliegt.
2. Dieser Vers behauptet nicht, dass Gott alle Dinge zum
Guten mitwirken lässt. Er sagt nur, dass Gott dies für bestimmte
Personen tut, und zwar für diejenigen, die ihn lieben und die nach
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Vorsatz berufen sind. Im Interesse dieser Menschen (und zwar nur
dieser Menschen) wird Gott alles zum Guten benutzen. Die Beschreibung scheint nicht einmal alle Christen einzuschließen,
auch wenn manche das behaupten würden. Doch die meisten
sind der Meinung, dass nur jene Christen, die die Aussicht auf
uneingeschränktes geistliches Wachstum vollständig akzeptiert
haben, sich auf diese Verheißung stützen können.
3. Wir müssen fragen, nach welchem »Vorsatz« wir berufen
worden sind und was es bedeutet, dass »alle Dinge zum Guten
mitwirken«?
Der nächste Vers erklärt, welcher Vorsatz gemeint ist: »Denn
welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt,
dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der
Erstgeborene sei unter vielen Brüdern« (Röm 8,29). Das Verbindungswort »denn« bedeutet, dass dieser Vers den Gedanken
des vorangegangenen weiterführt. Gottes Vorsatz ist die Berufung, »dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein«. Das ist
das »Gute«, zu dem Gott alle Dinge mitwirken lässt. Gott möchte,
dass ich Christus in diesem Leben ähnlich werde, und wenn ich
dieses Ziel teile, wird mich jeder Umstand ihm näherbringen.
Ist das Askese?
Wenn wir Gott lieben und akzeptiert haben, dass dieser Vorsatz
das Beste für uns ist, dann wird er das Werk, uns dem Bild seines
Sohnes gleichförmig zu machen, beginnen. Dieser Prozess schließt
sowohl die Erbauung unseres inneren Menschen als auch das
Zerbrechen des äußeren Menschen mit ein. Anders ausgedrückt,
wenn wir Gott nachfolgen wollen, werden wir leiden müssen.
Für viele religiöse Erscheinungsformen steht außergewöhnliches Leiden im Mittelpunkt. Nicht nur im Namenschristentum,
sondern auch in den meisten Weltreligionen gibt es Menschen,
die glauben, dass Leiden zur »spirituellen Entwicklung« gut
seien – bis dahin, dass sie sich selbst schwere Strafen auferlegen.
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Einige berauben sich normaler Freuden. Dann gibt es religiöse
Menschen, die sich Schnitte beibringen und ihren Körper stechen oder schlagen bzw. anderweitig quälen. Diese Personen
werden gewöhnlich mit dem Wort Asketen bezeichnet. Asketen
sind Menschen, die glauben, Leiden seien der Schlüssel zu »spirituellem Wachstum« oder zur Erleuchtung, auch wenn sie sich
diese selbst zufügen. Normalerweise wollen sie sich ihren Körper durch Qualen unterwerfen.
Kritiker haben behauptet, Paulus sei ein Asket gewesen. Das
stimmt aber nicht. Askese ist der Bibel fremd. Paulus sagt, diese
Theorien basierten auf religiösen menschlichen Spekulationen
und wären wertlos. In Kolosser 2,20-23 sagt er beispielsweise:
Wenn ihr mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was
unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt: Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht! – was doch alles zur Vernichtung durch den Gebrauch bestimmt ist – nach den Geboten
und Lehren der Menschen? Das alles hat zwar einen Anschein
von Weisheit, in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut und im
Nichtverschonen des Leibes – also nicht in einer gewissen Wertschätzung – dient aber zur Befriedigung des Fleisches (RELB).
Hier sehen wir, dass Dinge wie Enthaltsamkeit bei normalen
Bedürfnissen und eine harte Behandlung des Körpers als Mittel gegen fleischliche Zügellosigkeit letztlich nichts nützen und
damit in geistlicher Hinsicht wertlos sind. Religiöse Fleischlichkeit ist dabei die schlimmste Form, und Jesus hob seine schärfsten Zurechtweisungen für religiöse Menschen auf (Mt 23).
Wenn wir davon sprechen, dass wir an unserem Leib sichtbar
werden lassen sollen, was es heißt, am Sterben Jesu teilzuhaben,
hat das absolut nichts mit dem asketischen Ideal zu tun. Wir
brauchen uns selbst nicht bewusst Schmerzen zuzufügen. Gott
weist uns lediglich nachdrücklich darauf hin, dass er Leiden in
unserem Leben zulässt. Er sagt uns nicht, dass wir Leiden suchen sollten.
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Außerdem ist unser Leiden kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zu einem Ziel. Wenn Paulus in 1. Korinther 9,26-27 schreibt:
»Ich laufe daher so, nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe so,
nicht wie einer, der die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft, damit ich nicht etwa,
nachdem ich anderen gepredigt habe, selbst verwerflich werde«,
spricht er in diesem Kontext von den Bedingungen, denen ein
Sportler unterworfen ist. Dass er seinen Leib zerschlägt, ist bildlich zu verstehen; dies bezieht sich auf die Art von Disziplin,
die Athleten aufbringen, wenn sie für ihren Wettkampf trainieren. Und er sagt ausdrücklich: »Denn obwohl ich von allen frei
bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich so viele
wie möglich gewinne« (1Kor 9,19). Das ist nicht Askese, bei der
Schmerzen ein Selbstzweck sind. Schmerz, den der Betreffende
beim Verfolgen eines Ziels erduldet, entspricht einem Leiden,
das auf die Praxis seines Glaubenslebens bezogen ist. Askese
sucht den Schmerz aus anderen Gründen (wie z. B. innere Erleuchtung).
Bibelstellen über Leiden betonen nicht, dass wir sie suchen
sollen – gerade so, als wären sie eine Tugend; vielmehr sollen wir
sie ertragen. Wir sollten uns nicht von einem gottgewollten Weg
abbringen lassen, nur weil er Leiden beinhalten könnte. Ebenso
wenig sollten wir misstrauisch sein, wenn Gott uns gute Zeiten
schenkt. Gott ist nicht daran interessiert, uns leiden zu sehen.
Erst wenn es für unser geistliches Wachstum erforderlich ist, gehört Leiden zu seinem Plan für uns. Die Entscheidung, was zum
jeweiligen Zeitpunkt nötig ist, können wir getrost ihm überlassen.
Zucht des Heiligen Geistes unter dem gesetzlichen
System
Menschen, die ihre Identität aus ihren Werken ableiten, verdrehen die Lehre von der Zucht des Heiligen Geistes. Askese ist
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eine Möglichkeit für gesetzliche Menschen, und wir haben bereits gesehen, warum Askese keinen Platz im biblischen Christentum hat. Die meisten Asketen sind tatsächlich sehr gesetzlich
orientiert.
Es gibt jedoch noch eine andere, sehr verbreitete Verzerrung
im gesetzlichen Denken. Hierbei wird geistliche Zucht mit Gerechtigkeit verwechselt, obwohl keine inhaltliche Verbindung
zwischen diesen beiden Begriffen besteht. Die folgende Tabelle
hilft, den Unterschied zu verstehen.
Gerechtigkeit kontra Zucht
Gerechtigkeit Zucht
Aufgrund seiner Gerechtigkeit wird Gott
Böses mit einer Strafe vergelten, die dem
Vergehen entspricht. Das bedeutet für
die Ungläubigen, dass sie die Ewigkeit
in der Gottesferne zubringen werden. In
gleicher Weise belohnt die Gerechtigkeit
Gutes.
Zucht belegt ein bestimmtes
Verhalten grundsätzlich nicht mit
einer entsprechenden Bestrafung oder
Belohnung.* Die Frage lautet vielmehr:
»Was ist zum Nutzen des Empfängers?«
Kein Mensch erreicht den MindestStandard des Guten entsprechend der
göttlichen Gerechtigkeit. Alle verdienen
das Gericht. Christen glauben, dass das
Gericht an Christus vollstreckt wurde.
Bei einer Zuchtmaßnahme gilt dem
Empfänger die Liebe dessen, der
züchtigt. Da das Ziel darin besteht, den
Empfänger geistlich voranzubringen,
bezieht sich Zucht auf Gegebenheiten
im Leben des Menschen, nicht auf das
Fehlverhalten an sich.
Die Gerechtigkeit schaut in die
Vergangenheit, um herauszufinden, ob
die Strafe dem Vergehen entspricht.
Die Zucht blickt in die Zukunft, um
festzustellen, ob die Maßnahmen
dem Empfänger letzten Endes
zugutekommen.
* A. d. H.: Diese Feststellung schließt nicht aus, dass Gott bei einer Zuchtmaßnahme
durchaus darauf reagieren kann, wie wir uns gegenüber seinen Ansprüchen verhalten
(siehe dazu die Ausführungen im Anschluss an die Tabelle).
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Gerechtigkeit kann nicht anders, als
jemanden zu bestrafen, der es verdient
hat.
Der Zucht steht es frei, auf jede
Handlung des Empfängers so zu
reagieren, dass es für den Betreffenden
äußerst nutzbringend ist. Das kann in
einigen Situationen auch Inaktivität
einschließen.
Die Gerechtigkeit würde nie jemanden
bestrafen, der nichts Unrechtes
begangen hat.
Zucht bringt Leiden in das Leben einer
Person, die sich keines bestimmten
Vergehens schuldig gemacht hat. Die
Gesamtentwicklung des Menschen kann
seinen Zerbruch erforderlich machen,
auch wenn es in letzter Zeit keine
größeren Probleme gab.
Aus dieser Tabelle können Sie entnehmen, dass Gerechtigkeit
bzw. Gericht einerseits und Zucht andererseits nicht dasselbe
sind und nicht einmal einander ähneln. Das richtige Verständnis von Zucht wird uns Fragen ersparen wie: »Warum straft Gott
mich?« Obwohl wir Gott nicht die Freiheit absprechen wollen,
Zuchtmaßnahmen in Verbindung mit bestimmten Verhaltensweisen zu verhängen, steht Zucht häufig nicht in direktem Zusammenhang mit einer speziellen Sünde oder einer Reihe von
Sünden. Vielmehr wirkt Gott in unserem Leben oft in ganz allgemeiner Weise.
Der Mensch, der darüber spekuliert, ob seine Autopanne eine
göttliche Strafe für seine verlorene Beherrschung war, denkt normalerweise in die falsche Richtung. Solche Vermutungen stehen
mehr in Verbindung mit Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit als mit
Zucht. Paulus ist sich unserer Neigung bewusst, Zucht in gesetzlicher Hinsicht zu interpretieren. In Römer 8,33 sagt er: »Wer
wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der
rechtfertigt.« In Verbindung mit der heiligenden Wirkung von
Leiden im Leben der Gläubigen erinnert uns Paulus daran, dass
solche Anklagen ignoriert werden sollten.
Fakt ist: Gesetzliche Menschen können Zucht nur sehr schwer
begreifen, weil sie der Gesetzlichkeit so widerstrebt. Wir können dies erkennen, wenn wir gesetzlich orientierte Christen beobachten: Sie haben Probleme damit, Menschen, die sie lieben,
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der geistlichen Zucht zu unterwerfen (abgesehen von ihren
Schwierigkeiten, die göttliche Zucht richtig einzuordnen). In
Bezug auf Zuchtmaßnahmen finden sich bei gesetzlich denkenden Menschen gewöhnlich zwei paradoxe Reaktionen.
Einerseits reagieren gesetzliche Menschen manchmal mit
einer unnachgiebigen Härte, die darauf besteht, dass die Strafe
dem Vergehen entsprechen muss. Nachsicht halten sie für Verrat an Gottes Maßstäben. Andererseits schrecken sie bei entsprechenden Gelegenheiten vor der Vorstellung zurück, jemanden der geistlichen Zucht zu unterwerfen. Züchtigung, so
sagen sie, sei eine Ablehnung und Lieblosigkeit gegenüber
dem Empfänger. Ironischerweise stammen diese beiden gegensätzlichen Haltungen aus demselben System geistlicher Grundeinstellungen: der Gesetzlichkeit. Wir wollen uns ansehen, wie
sie sich auswirken und weshalb sie beide falsch sind.
»Strafe muss dem Vergehen entsprechen«
Wir haben bereits festgehalten: Bei Zuchtmaßnahmen muss
die Konsequenz nicht dem Vergehen entsprechen. Jede anderslautende Vorstellung ist ein Argument für Gerechtigkeit, die in
diesem Fall gesetzlich ist. Bei der Zucht geht es nicht darum, dass
Konsequenzen und Tat sich im Gleichgewicht befinden, sondern
darum, inwiefern sie dem Empfänger helfen. Vielleicht erkennen
wir das besser am Beispiel der Kinder-Erziehung.
Ich entschließe mich, das eine Kind für seine Taten zu bestrafen, während ich die Handlungen eines anderen Kindes unberücksichtigt lasse (wobei die Regelverstöße der betreffenden
Kinder gewöhnlich nicht identisch sind). Meine Gründe könnten
unter anderem darauf zurückzuführen sein, wie ich beide Kinder in jüngster Zeit gemaßregelt habe. Weitere Gründe könnten
ihr gegenwärtiges Verhältnis zu mir, ihr moralischer Zustand,
ihre Unbekümmertheit in Bezug auf ihr Verhalten, ihre Veranlagung oder ihr Alter sein. Wichtig ist, dass ich herausfinde,
was am besten für sie ist. Hätten meine Kinder Mitspracherecht,
würden sie wahrscheinlich versuchen, mich auf eine Art gesetz-
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liche Verpflichtung festzulegen. »Mit dem hast du das auch nicht
gemacht, als er dasselbe tat!« Weil ich glaube, dass wir in Bezug
auf Erziehungssituationen eine gewisse Freiheit haben, würde
ich es hoffentlich nicht zulassen, dass sie mich so in die Zange
nehmen.
Gott besitzt ebenfalls Freiheit im Umgang mit uns. Er wird
uns Erfahrungen machen lassen, die zu unserem Wachstum passen, nicht zu unseren vergangenen Sünden. Außerdem haben
wir die wichtige Verheißung, dass er uns keine Prüfung auferlegt, die über unsere Kraft hinausgeht (1Kor 10,13).
»Zucht ist Ablehnung oder mangelnde Liebe«
Dieser Gedanke folgt aus der unangebrachten Verbindung von
Zucht und Gericht. Gericht steht tatsächlich im Gegensatz zu
Liebe, was man anhand der Tatsache sehen kann, dass die Menschen in der Hölle niemals Gottes Liebe erfahren werden. Ebenso
wäre ein Richter, der für einen geliebten Menschen das Gesetz
beugen würde, »ungerecht«. Das macht es uns einfach zu verstehen, warum gesetzliche Menschen oft meinen, Zucht sei Ablehnung. In Wirklichkeit denken sie (ohne es zu wissen), dass
Gericht Ablehnung ist.
Ein gesetzlicher Mensch – ob er nun zu einer strengen Anwendung von Zucht tendiert oder Abstand von jeder Zucht
nimmt – bringt seine Gesetzlichkeit normalerweise entsprechend
seiner launenhaften Neigung zum Ausdruck. Derselbe Verfechter der Gesetzlichkeit wird zu unterschiedlichen Zeiten und
bei unterschiedlichen Menschen von einem Extrem ins andere
wechseln – abhängig davon, ob das Ziel in der jeweiligen Beziehung durch strenge Maßnahmen oder durch Beeinflussung
(im Sinne der Gesetzlichkeit) erreicht werden soll. So werden die
von ihm geliebten Personen den Nutzen einer liebevollen Zuchtmaßnahme leider nicht erfahren.
Die Probleme im Leben gesetzlicher Menschen entstehen,
weil sie dieselben falschen Definitionen anwenden, wenn Gott
versucht, sie selbst seiner Zucht zu unterwerfen. Entweder füh-
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len sie sich von Gott abgelehnt, oder sie leben in der Furcht und
Erwartung, dass Gott sie für etwas straft, was sie getan haben.
Weder das eine noch das andere wird der Fall sein, aber solch
falsche Erwartungen können ihre Beziehung zum Herrn vergiften.
Die Perspektive der Gnade
Wenn wir meinen, Gottes Zucht sei stets eine Reaktion auf spezielle Sünden, die wir begangen haben, ist unsere Aufmerksamkeit auf unser Handeln als den Schlüssel zur Vermeidung des
göttlichen Zorns gerichtet (der über uns hereingebrochen ist, wie
wir meinen). Stattdessen sollten wir auf das schauen, was Gott
in Liebe tut, indem er uns Prüfungen auferlegt. Menschen, die
unter der Gnade Gottes wachsen, sehen seine Hand bei all den
Zuchtmaßnahmen zunehmend als ein Zeichen seiner Liebe und
Fürsorge. Wir können auf Gott blicken in dem Vertrauen, dass er
entsprechend handeln wird...https://clv.de/Ein-Leben-im-Sieg/256255...😘,Ralf

Kommentare

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Sulzbacher 30.11.2021 19:55
Wir haben gesehen, dass Gott ein gewisses Maß an Leiden in unserem Leben zulassen wird, wenn wir im Heiligen Geist leben.
Aber diese Leiden werden uns nicht zwangsläufig in das Bild
Christi verwandeln. Haben Sie sich je gefragt, warum wir Gottes
Handeln begreifen sollen, wenn er das Sterben Jesu in unserem
Leib sichtbar macht? Kann er es einfach tun und es dann dabei
belassen? Die Antwort ist Nein.
Noch eine Frage: Warum scheinen einige Christen zu leiden,
aber nicht zu wachsen? Wachsen nicht alle Christen dem Maß
ihrer Leiden entsprechend? Wiederum muss man die zuletzt gestellte Frage verneinen. Bevor wir erkennen können, dass Gott
Leiden benutzt, um uns in das Bild seines Sohnes umzugestalten,
müssen wir bestimmte Bedingungen erfüllen.
Bedingung 1: Aktiver, kooperativer Glaube
Bei der Veränderung unseres Lebens erwartet Gott eine aktive,
bewusste Zusammenarbeit von uns. Passive Zustimmung reicht
nicht aus. Wir müssen vorwärtsgehen, die richtige Einstellung
mitbringen und herausfinden, was er uns in der jeweiligen
Situation zeigen will. Wir müssen nicht nur soziologische oder
äußere Faktoren, sondern auch die Tatsache anerkennen, dass
Gottes Hand uns formt.
Wenn wir Gott inmitten von Prüfungen danken können,
wissen wir, dass wir die richtige Einstellung haben. Gott sagt:
»Danksagt in allem« (1Thes 5,18). Beachten Sie, dass er nicht sagt:
»Danksagt für alles.« Einige Dinge sind grausam, andere tragisch. Für diese Dinge sind wir nicht dankbar. Er sagt vielmehr:
»Danksagt in allem.«13 Das heißt, wir sollen verstehen, dass Gott
13 A. d. H.: Hervorhebung hinzugefügt.
212
selbst in den schlimmsten Umständen einen Weg hat, sie zu unserem Nutzen zu verwenden. Unser Vertrauen auf Gottes Verheißungen ermöglicht uns, ihm für das letztendliche Ergebnis
zu danken. Die christliche Autorin Joni Eareckson Tada hat geäußert, sie sei jetzt froh über ihren Unfall, aufgrund dessen sie
fast ganz gelähmt ist. Nicht vielen von uns wird Gott ein solches
Leid auferlegen, aber irgendeine Form von Leiden werden auch
wir erfahren müssen – oft mehr, als wir erwarten. Paulus sagt:
»Wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden. Aber in diesem
allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt
hat« (Röm 8,36-37). Diese Einstellung sucht Gott. Wenn wir geistlich zu blind sind, um seine Hand in unseren Umständen zu erkennen, leben wir in einer Welt fleischlichen Grolls statt in geistlicher Dankbarkeit.
Bedingung 2:
Leiden sind grundsätzlich nicht das Resultat von Sünde
– dessen sollten wir uns stets bewusst sein
Präziser und sorgfältiger ausgedrückt: Unsere Leiden sollten
normalerweise nicht das Ergebnis persönlicher Sünde sein. Dazu
gehören auch Unterlassungssünden.
Petrus warnt uns: »Dass doch niemand von euch leide als …
Übeltäter« (1Petr 4,15). Wenn Christen Heroin nehmen, werden
sie ebenso abhängig wie Nichtchristen. Wenn wir das Gesetz brechen, kommen wir (je nach Schwere des Vergehens) wie Nichtchristen ins Gefängnis. Wenn wir unsere Hand ins Feuer halten,
verbrennen wir uns wie jeder andere auch. Ist unser Leiden die
direkte Folge einer falschen Handlung, müssen wir der Bibel zufolge unser Handeln ändern. Es wäre ein Fehler, Gott passiv für
eine Situation zu danken, die nicht seinem Willen entspricht.
Manches Leid ist nicht nach dem Willen Gottes und wird uns
nicht geistlich wachsen lassen. Fühle ich mich einsam, weil ich
mich nach der Arbeit zu Hause stets mit mir selbst beschäftige,
213
würde Gott von mir erwarten, dass ich mich mit anderen Menschen treffe und Beziehungen aufbaue. Ich kann nicht allein
herumsitzen und davon ausgehen, dass Gott mich verändert,
weil diese Einsamkeit nicht seinem Willen entspricht. Gott kann
die Einsamkeit benutzen, um die innere Not in meinem Leben
zu vermehren, aber solange ich nichts ändere, werde ich auch
nicht weiterwachsen können. Ich soll vielmehr voranschreiten
und Gott vertrauen, dass er mir Gelegenheiten und Kraft schenkt
und mich in Situationen bringt, in denen ich den Umgang mit
anderen Menschen lerne.
Aufgrund des Wesens der Gnade Gottes ist es unmöglich, mit
Sicherheit zu erklären, was auf diesem Gebiet geschehen wird.
Wenn er will, kann Gott uns sogar durch Leid segnen, das unsere Sünde verursacht hat. Da die Gnade ein unverdientes Geschenk ist, müssen wir keine Bedingungen erfüllen, bevor Gott
uns segnen kann. Allerdings ist Gott nicht verpflichtet, uns zu
segnen – insbesondere dann nicht, wenn wir etwas tun, was Gottes geplanten Weg in unserem Leben blockiert.
Seltsamerweise segnet Gott uns auch durch Leid, das wir
durch unsere Sünde selbst verursacht haben. Das tut er aber
nicht immer. Ein Alkoholiker beispielsweise, der sich zwar bekehrt hat, aber nichts gegen seine weiterhin vorhandene Suchtanfälligkeit unternimmt, bleibt manchmal jahrelang ohne geistliches Wachstum. Sind wir jedoch ehrlich, müssen wir zugeben,
dass ein Großteil unseres Leids in gewisser Weise mit unserer
persönlichen Sünde zusammenhängt, und oft benutzt Gott diese
Sünde, um uns Wege zu führen, die sich letztendlich als Segenswege erweisen.
Die Bibel enthält Beispiele für diese Art des Segens. Gott freute
sich nicht, als die Israeliten am Ende der Richterzeit nach einem
König verlangten. Er sagte, in Wirklichkeit würden sie dadurch
ihn als ihren König ablehnen (1Sam 8,5-7). Dennoch gab er ihnen
einen König und erklärte, dass aus der Dynastie des Königs nach
seinem Herzen der höchste König hervorgehen würde – der Messiaskönig! Bei einer anderen Gelegenheit machte sich David des
214
Ehebruchs und Mordes schuldig, um Bathseba zur Frau nehmen
zu können. Gott züchtigte ihn, aber ebenso benutzte er Bathseba,
um die menschliche Linie des Messias weiterzuführen.
Fest steht, dass Gott aus Bösem Gutes entstehen lassen kann.
Aber er ist nicht dazu verpflichtet, und vielleicht hält er es für
das Beste, uns »im Saft unserer eigenen Sünde schmoren zu lassen«, bis wir einen bestimmten gottlosen Lebensweg satthaben.
Das könnte als eine Form von Zucht angesehen werden, die
uns auf den rechten Weg zurückbringen will. Aber Gott hat seinen Willen deutlich erklärt: Züchtigendes Leid soll nicht das Ergebnis unserer eigenen Sünde sein.
Aus diesem Grund ist es besser für uns, wenn wir keine Schuld
infolge von Tat- oder Unterlassungssünden auf uns laden – nicht
weil die Abwesenheit dieser Dinge geistliches Wachstum hervorbringt oder es sogar garantiert. Vielmehr sollten wir solche
Dinge vermeiden, weil …
– … es der Wille Gottes ist, der uns liebt und sich für uns gegeben hat;
– … die Konsequenzen der Sünde in diesem Leben sehr ernst
sein können;
– … viele Sünden den Menschen Schaden zufügen, denen wir
ein Segen sein wollen.
Ich komme noch einmal auf das Beispiel einer ganz gewöhnlichen Erkältung, das wir am Anfang des Buches gebraucht
haben, zurück. Es ist absolut nicht falsch, die Symptome einer
Erkältung einzugrenzen oder zu verringern, auch wenn das
nicht zur Heilung führt. Während wir darauf warten, dass der
Herr uns geistlich reifen lässt, sollten wir uns auch durch äußere
Beschränkungen vor ernsthaften Sünden hüten, sodass wir Gottes
Plänen mit unseren Lebensumständen nicht in die Quere kommen.
215
Bedingung 3:
Keine unzulässigen schmerzlindernden Mittel
Wir alle haben unsere Methoden, Schmerzen aus dem Weg zu
gehen. Vielleicht ziehen wir uns zurück, um Beziehungsstress zu
vermeiden, oder wir trinken und essen vermehrt, wenn es uns
nicht gut geht. Möglicherweise fangen wir auch an, zu toben und
zu schreien, wenn Menschen uns zu nahekommen, oder wir stürzen uns in das nächste Liebesabenteuer oder machen sinnlose
Einkäufe, weil wir aufgrund der Einsamkeit frustriert sind. Wir
alle haben bestimmte Umgangsweisen mit unseren Schmerzen.
Diese Strategien werden aber zu einem großen Problem, wenn
Gott an unserem äußeren Menschen zu wirken versucht. Ein Problem dabei ist, dass viele dieser Strategien eindeutige Unmoral
beinhalten. Andererseits sind viele nicht offen unmoralisch. Geld
auszugeben oder sich eine gute Mahlzeit zu gönnen, ist keine
Sünde. Wenn daraus aber unzulässige schmerzlindernde Mittel werden, kommt ein anderes Problem hinzu. Unsere schmerzreduzierenden Strategien werden im Grunde zu einer Reißleine,
die wir immer dann ziehen, wenn unser Schmerz eine gewisse
Schwelle überschreitet.
Wenn Gott Schmerzen in unser persönliches Leben bringt, geschieht das zu unserem Guten. Gäbe es einen Weg, seine Ziele
ohne Schmerzen zu erreichen, könnten wir sicher sein, er würde
ihn beschreiten. Wenn wir jedoch bei allen Schmerzen die Reißleine ziehen, noch bevor wir wissen, weshalb er uns an diesen
Punkt gebracht hat, gehen wir dem Werk Gottes im Grunde aus
dem Weg.
Es ist nicht leicht, Ihrem Kind das Fahrradfahren beizubringen. Für ein paar Wochen benutzt das Kind Stützräder
und bekommt so ein sicheres Gefühl. Allerdings weiß das Kind
noch immer nicht, wie es das Gleichgewicht halten soll. Immer,
wenn es verloren geht, schützen die Stützräder vor dem Fall.
Um wirklich Radfahren zu lernen, müssen die Stützräder des
Kinderfahrrads abmontiert werden. Wir müssen zusehen, wie
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es fällt und sich meistens auch verletzt. Gibt es einen anderen
Weg?
Ohne die Stützräder, die wir in unserem Leben verwendet
haben, müssen wir auf den Schmerz vorbereitet sein. Anderenfalls werden wir nie an den Punkt kommen, an dem das Sterben
Jesu an unserem äußeren Menschen sichtbar wird. Wir müssen
den Gebrauch unzulässiger schmerzlindernder Mittel ablehnen.
In Hebräer 12 spricht Gott das Problem an, dass wir unter seiner züchtigenden Hand unsere Fassung verlieren:
Alle Züchtigung aber scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; danach aber gibt
sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt
worden sind. Darum »richtet auf die erschlafften Hände und die
gelähmten Knie«, und »macht gerade Bahn für eure Füße«, damit
nicht das Lahme vom Weg abkomme, sondern vielmehr geheilt werde
(Hebr 12,11-13).
Keine Zuchtmaßnahme ist ein Grund zur Freude, aber sie erzielt die gewünschte Wirkung. Der letzte Satz in dieser Stelle ist
auch der interessanteste. Was bedeutet es, wenn es dort heißt:
»… damit nicht das Lahme vom Weg abkomme, sondern vielmehr geheilt werde«?
In der damaligen Zeit konnte ein Knochenbruch lebensbedrohlich sein. Die Menschen der Antike wussten, wie sie einige
gebrochene Knochen fixieren und bestimmte ausgerenkte Gelenke wieder einkugeln konnten, aber in der Anästhesie kannten
sie sich kaum aus. Stellen Sie sich vor, Sie brechen sich ein Bein,
und ein Arzt aus der Antike richtet Ihr Bein ohne Narkose! Das
Fixieren eines gebrochenen Knochens gehört zu den schmerzhaftesten Erfahrungen, die Menschen im Laufe der Jahrhunderte
gemacht haben. (Deshalb dürfen wir dafür dankbar sein, dass die
Anästhesie inzwischen einen beachtlichen Stand erreicht hat.)
Und trotzdem war es wichtig, dass der Patient stillhielt, während der Arzt arbeitete. Schlug der Verletzte vor Schmerz um
217
sich, konnte sich der Bruch noch verschlimmern und vielleicht
einen Punkt erreichen, an dem eine Fixierung nicht mehr möglich war. In der Antike gab es Menschen, die ihr Leben lang an
Krücken gingen, nur weil sie sich einmal ein Bein gebrochen hatten. In ihrem Fall hatten sich die betroffenen Gliedmaßen komplett aus dem Gelenk gelöst.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Zukunft des Betreffenden in der Antike davon abhing, ob er stillhielt und den
Arzt ungehindert arbeiten ließ. Stellen Sie sich das mal vor! Diese
realen Lebenserfahrungen wählte der Verfasser des Hebräerbriefes, um zu veranschaulichen, dass wir stillhalten und Gott
wirken lassen müssen. Wenn er seinen Lesern sagt: »Macht gerade Bahn für eure Füße«, drängte er sie, der Versuchung zu widerstehen, vor Gottes züchtigender Hand zu fliehen und zu ihren
schmerzreduzierenden Mitteln Zuflucht zu nehmen, die nur
Scheinlösungen boten. Es steht zu viel auf dem Spiel. Wir haben
die Möglichkeit, zu echter Reife in Christus heranzuwachsen,
aber nur dann, wenn wir stillhalten und den Arzt in Ruhe arbeiten lassen!
Wir wagen es nicht, aus Beziehungen zu fliehen, nur weil sie
zu problematisch werden. Wir wagen es nicht, unseren von Gott
gegebenen Dienst in der Gemeinde zu beenden, wenn wir uns
schlecht fühlen oder nicht die von uns gewünschten Ergebnisse
sehen. Wenn wir Gott nicht stillhalten, zögern wir im Grunde
sein Werk in unserem Leben heraus, indem wir jedes Mal die
Flucht ergreifen, wenn er unser Fleisch in die Enge treibt.
Eine Einschränkung
Wir sollten den Gebrauch von unzulässigen schmerzlindernden Mitteln ablehnen. Doch wohl niemand von uns behauptet, dass es keine legitimen Mittel auf diesem Gebiet gebe, und
zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht: Wenn wir müde sind,
sollten wir uns ein angemessenes Maß an Schlaf gönnen. An Urlaub ist nichts auszusetzen, wenn wir zu gestresst sind. Jede Weigerung, die uns verfügbaren, vernünftigen Mittel zu benutzen,
218
würde Askese nahelegen (vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht
Ausdruck einer Sünde sind). Ansonsten könnte man meinen, wir
würden den Schmerz genießen, oder wir glaubten, Schmerz sei
etwas Gutes an sich.
Sogar die Veränderung unserer Umstände könnte richtig
sein. Wenn gewisse Umstände unerträglich sind, könnte es eine
kluge Entscheidung sein, sie zu verändern. Einen Job, der einem
scheußliche Arbeitsbedingungen bietet, sollte man womöglich
beenden – besonders dann, wenn man eine bessere Stelle bekommen kann. Manche Situationen müssen sich ändern, um mit
ihnen wirklich umgehen zu können.
Eine gesetzliche Haltung würde darauf bestehen, eine Liste
erlaubter und unzulässiger schmerzlindernder Vorgehensweisen
aufzustellen. Doch wir wissen es besser. Es geht hier nicht um
ein gesetzliches Prinzip. Gott wird uns zeigen, wenn eine bestimmte Tätigkeit seinem Plan, unseren äußeren Menschen zu
zerbrechen, schadet.
Bedingung 4:
Eine an unserer Stellung orientierte Perspektive
In unseren beiden Bibelstellen über den »Leben-aus-dem-Tod«-
Prozess spricht Paulus von seiner eigenen Lebensperspektive inmitten verschiedener Prüfungen. In 2. Korinther 4 drückt er es
wie folgt aus:
Deshalb ermatten wir nicht, sondern wenn auch unser äußerer
Mensch verfällt, so wird doch unser innerer Tag für Tag erneuert.
Denn das schnell vorübergehende Leichte unserer Trübsal bewirkt
uns ein über jedes Maß hinausgehendes, ewiges Gewicht von Herrlichkeit, indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig (V. 16-18; Hervorhebung
durch den Autor).
219
Hier sehen wir, was wir tun sollen, während Gott wirkt. Seltsamerweise scheint diese Stelle zu besagen, dass wir von dem Zerbruchs- und Aufbauprozess wegsehen sollen (obwohl wir mittendrin sind), so wie wir nicht hinschauen würden, wenn der Arzt
unser gebrochenes Bein fixiert. Wir müssen von dem ZerbruchsProzess wegsehen und auf unsere Stellung in Christus blicken.
Wir sollen uns nicht darauf konzentrieren, ob das Sterben
Jesu an unserem Fleisch ausreichend sichtbar wird oder ob wir
das Leben, das Christus gegeben hat, im richtigen Maße zum
Ausdruck bringen. Wir sollen von unserem Zustand ganz wegblicken und uns auf unsere Stellung (oder unsere neue Identität)
in Christus fokussieren. Wir vertrauen ihm, dass er den »Lebenaus-dem-Tod«-Prozess vollenden wird, ohne dass wir ständig
darüber wachen, ob er dabei vorankommt.
Wir haben bereits festgehalten, dass wir zu »geistlichen
Hypochondern« werden, wenn wir dauernd unsere »geistliche
Temperatur« messen. Ich mache mir keine Sorgen, ob ich eine Erkältung oder irgendeine andere körperliche Erkrankung habe,
solange objektiv keine ungewöhnlichen Symptome erkennbar
sind. Wenn ich mich ständig mit meiner körperlichen Gesundheit beschäftige, leidet meine Effektivität in jeder Hinsicht. Manche Menschen sind für ihre eigene Unfähigkeit verantwortlich,
weil sie sich permanent auf ihre Gebrechen konzentrieren. Auch
im geistlichen Bereich müssen wir uns mit dem beschäftigen,
was wir in Christus bereits sind (mit dem Unsichtbaren), und
nicht mit dem bisher erreichten Zustand in diesem Leben (mit
dem Sichtbaren). Wenn wir versuchen, unser geistliches Wachstum zu beurteilen, werden wir zwangsläufig eine leistungsorientierte Perspektive entwickeln, und die Probleme, die diese
Sichtweise mit sich bringt, haben wir schon gesehen.
Stattdessen sollen wir in gewisser Hinsicht von unseren gegenwärtigen Fortschritten wegschauen und weitergehen, indem
wir uns auf die Dinge des Geistes fokussieren. Inmitten seiner
Ausführungen darüber, wie Gott in unserer menschlichen Existenz Leben aus dem Tod hervorbringt, sagt Paulus in Römer 8:
220
Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, so auch Erben – Erben Gottes und
Miterben Christi, wenn wir nämlich mitleiden, damit wir auch
mitverherrlicht werden (V. 16-17).
Warum wird unser Erbe im Reich Gottes in einer Stelle über
geistliches Wachstum angesprochen? Wenn wir an unseren zukünftigen hohen Status denken, fassen wir den Mut, die Leiden
in diesem Leben zu ertragen. Beachten Sie, wie sehr der nächste
Vers dem ähnelt, den wir gerade noch in 2. Korinther 4,18 untersucht haben. »Denn ich halte dafür, dass die Leiden der Jetztzeit
nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll« (Röm 8,18).
Wir können erwarten, dass nur diejenigen, die wissen, wo sie
die Ewigkeit verbringen werden, Leiden bereitwillig annehmen.
Unser zukünftiger Reichtum und die Herrlichkeit bei Gott sind
uns sicher, und deshalb sind wir bereit, in diesem Leben eine
Zeit lang zu leiden.
Kein Wunder, dass Paulus inmitten seiner Besprechung über
geistliches Wachstum einen Exkurs in die Eschatologie (die
Lehre von den letzten Dingen) unternimmt und auf den Himmel zu sprechen kommt. Wir müssen auf das zurückblicken, was
Christus bereits getan hat, und auf das vorausschauen, was er
tun wird: Dann können wir ihm jetzt vertrauen, während er uns
durch angenehme und unangenehme Erfahrungen hindurchführt.
 
Sulzbacher 30.11.2021 20:19
Römer 8,29 verheißt uns als Christen die Möglichkeit, in das Bild
Christi verwandelt zu werden. Was bedeutet das? Wie werden
wir, wenn wir uns diesem Wachstumsprozess unterziehen?
Wir haben ziemlich abstrakt über geistliches Wachstum gesprochen und seine einzelnen Stufen analysiert. Unser Studium
hat sich im Großen und Ganzen auf die Kapitel 5 – 8 des Römerbriefes und ausgesuchte Parallelstellen konzentriert. Als Nächstes wollen wir ein echtes Vorbild für christliche Lebensführung
heranziehen, das uns hilft, die Absicht Gottes mit uns zu verstehen. An diesem Punkt werden wir den Römerbrief verlassen
und uns anschauen, zu welcher Art von Person der Autor dieses
Briefes nach vielen Jahren geistlichen Wachstums wurde. Indem
wir kurz mehrere Aspekte des Lebens eines reifen Christen
untersuchen, erhalten wir als Überblick das Bild des Menschen,
den Gott aus uns machen will.
Obschon das Neue Testament biografische Informationen
über die Apostel Paulus, Petrus und Johannes aus ihrem späteren Leben enthält, finden wir doch am meisten Material über
Paulus. Als Paulus die Gefangenschaftsbriefe (Epheser, Philipper, Kolosser und Philemon) verfasste, lag ein fast 30-jähriges
Christenleben hinter ihm. Beim Schreiben der Pastoralbriefe
(1. und 2. Timotheus und Titus) war er vermutlich noch älter.
Welche Art von Mensch wird in diesen Werken sichtbar?
Um unser Studium kurz zu halten, werden wir uns den Philipperbrief vornehmen und uns auf einige andere Bücher beziehen, sofern sie etwas zu unserem Thema beizutragen haben.
Der Philipperbrief enthält einige höchst interessante Ausführungen, weil er sich an eine von Paulus besonders geliebte
Gemeinde richtet und angesichts der härtesten Prüfungen geschrieben wurde.
222
Der Rahmen
Der Philipperbrief, wie die anderen sogenannten Gefangenschaftsbriefe, wurde während jener zwei Jahre verfasst, die am
Ende von Apostelgeschichte 28 erwähnt werden. Diese Stelle beschreibt die Zeit nach Paulus’ Gefangennahme in Judäa und seiner Überführung als Gefangener nach Rom, wo er vor Gericht
gestellt wurde. Lukas sagt: »Als wir aber nach Rom kamen,
wurde Paulus erlaubt, mit dem Soldaten, der ihn bewachte, für
sich zu bleiben« (Apg 28,16). In den Versen 30-31 lesen wir: »Er
aber blieb zwei ganze Jahre in seinem eigenen gemieteten Haus
und nahm alle auf, die zu ihm kamen, und predigte das Reich
Gottes und lehrte mit aller Freimütigkeit ungehindert die Dinge,
die den Herrn Jesus Christus betreffen.«
Ab dem ersten Kapitel des Philipperbriefes können wir erkennen, dass Paulus bei der Abfassung einem möglichen Tod
durch die Römer entgegensah. Die Anklagen gegen ihn, die auch
Volksverhetzung und Anstiftung zum Aufruhr betrafen, hatten
häufig die Todesstrafe zur Folge, und sein Verhör vor dem kaiser­lichen Gericht muss nahe bevorgestanden haben. Philipper 1,20-23
und 2,17 machen deutlich, dass Paulus über die Möglichkeit seines Todes nachgedacht hatte.
Warum ist dieser Mann im Gefängnis?
Zu diesem Zeitpunkt war Paulus wahrscheinlich der fähigste
und erfahrenste Gemeindegründer in der Welt. Für einen Mann
mit solcher Tatkraft, Ausbildung und Kompetenz wie Paulus
muss es äußerst schwer gewesen sein, Gottes Gründe zu verstehen, weshalb er ihn im Gefängnis beließ – zuerst in Cäsarea,
später dann in Rom.
Wir haben bereits festgehalten, dass ernsthafte Christen sich
angewöhnen sollten, danach zu fragen, was Gott durch unsere
Prüfungen bewirken will. Diese Fähigkeit, unsere Probleme vom
223
Standpunkt des Handelns Gottes aus zu betrachten, haben wir
die »vertikale Perspektive« genannt. Wie Philipper 1,12-13 deutlich zeigt, hatte Paulus diese Sichtweise: »Ich will aber, dass ihr
wisst, Brüder, dass meine Umstände mehr zur Förderung des
Evangeliums geraten sind, sodass meine Fesseln in Christus
offenbar geworden sind in dem ganzen Prätorium und allen anderen.« Paulus sah in seiner Gefangenschaft eine Förderung des
Werkes Gottes.
Stellen Sie sich diese Situation einmal vor: Hätte sich Paulus
mit einem Blick auf seine Handfesseln mit der quälenden Frage
an Gott gewandt, warum er im Gefängnis bleiben musste? Folgten seine Augen der Kette bis zum Ende – befestigt am Handgelenk des römischen Soldaten, der ihn bewachte? Höchstwahrscheinlich war es eher so: Langsam erstrahlte ein Lächeln auf
Paulus’ Gesicht – während er gerade einen Gast begrüßte, nutzte
er freudig eine weitere Gelegenheit, die Wahrheit über Jesus
Christus zu verbreiten. Der an Paulus’ Arm gefesselte römische
Soldat glaubte wahrscheinlich, er habe seinen Gefangenen fest
im Griff. Aber Paulus war vielmehr der Meinung, dass der Soldat sein Gefangener war!
Die Palastwache (oder die Prätorianergarde) bezieht sich auf
eine römische Legion von etwa 7000 Mann in oder nahe Rom.
Das war eine sehr einflussreiche Elite-Einheit. Auch wenn der
Ausdruck »in dem ganzen Prätorium« ein literarisches Stilmittel
und demzufolge nicht streng im wörtlichen Sinne zu verstehen
ist, stellt er doch eine bemerkenswerte Aussage dar.
Aus Studien über die Gemeinde der frühchristlichen Zeit wissen wir, dass das Christentum teilweise durch Soldaten im Ruhestand verbreitet wurde, denen nach dem Ausscheiden aus dem
Staatsdienst häufig ein Stück Land in den Provinzen gegeben
wurde. Wer hätte angenommen, dass Gott Paulus an einen Mann
ketten ließ, der täglich einer vollständigen und sorgfältig durchdachten Darstellung des Evangeliums zuhören musste, und dass
dies zur Ausbreitung des Christentums innerhalb dieser Elitegruppe römischer Bürger führen würde, wobei sich die Aus­
224
wirkungen bis in entlegene Provinzen des Römischen Reiches erstreckten? Paulus wusste etwas, woran wir uns erinnern sollten:
In Prüfungszeiten versucht Gott oft, seine Ziele durch uns zu erreichen, wenn wir nur die richtige Sichtweise annehmen.
Paulus suchte offensichtlich sofort nach Gottes Absicht mit
seinen Umständen. Tatsächlich ließ er seine vertikale Haltung
in allen Bereichen erkennen – eine Haltung, die die Dinge vom
Standpunkt Gottes statt von dem des Menschen betrachtet. Ich
glaube, diese vertikale Haltung ist das Auffälligste an Paulus in
seinen späten Jahren.
Paulus geht häufig so weit, sich als den Gefangenen des Herrn
zu bezeichnen (vgl. Eph 3,1; 4,1; 2Tim 1,8; Phim 1.9). Er hatte
diese vertikale Perspektive vollkommen verinnerlicht! Er sah in
den Menschen nicht länger Leute, die ihn als Gefangenen hielten. Wenn er ein Gefangener war (und der Grund für seine Inhaftierung war natürlich sein Christuszeugnis und nicht irgendein Verbrechen), dann nur, weil Gott ihn zur Ausführung seiner
Absichten dorthin gebracht hatte. Mit einem solch erwartungsvollen Glauben konnte Paulus das Beste aus einer Situation machen, die aus horizontaler Sicht absurd erscheinen musste.
Angesichts der vielen örtlichen Gemeinden, die sich nach
einem Besuch von Paulus sehnten (ganz zu schweigen von seinem Anliegen, in unerreichte Gebiete wie Spanien zu reisen
[Röm 15,24-28]), muss es für Paulus äußerst schwierig gewesen sein, sich Zeit zum Schreiben zu nehmen. Die Wichtigkeit des Schreibens ist für einen Mann der Tat nicht unbedingt
offensichtlich, ebenso wenig wie für diejenigen (unter den Briefempfängern), die in ihren Diensten unmittelbare Unterstützung
brauchen. Doch Gott weiß nur allzu gut, wie das geschriebene
Wort gebraucht werden kann, und dieses war natürlich kein
normales Material.
Die Gläubigen der jungen Gemeinden im 1. Jahrhundert
konnten wahrscheinlich nicht wissen, wozu Paulus’ Umstände
dienten: Sie konnten ihn zwar nicht mehr persönlich sprechen,
doch seine Gefangenschaft führte zur Abfassung von vier wun-
225
derbaren Briefen, die vielen Millionen in 20 Jahrhunderten dienten. Der Philipperbrief würde wahrscheinlich nicht existieren,
hätte Gott Paulus nicht auf der Höhe seiner Laufbahn ins Gefängnis bringen lassen.
Das ist aber nicht alles. Er sagt weiter, »dass die meisten der
Brüder im Herrn Vertrauen gewonnen haben durch meine Fesseln und viel mehr wagen, das Wort Gottes ohne Furcht zu
reden« (Phil 1,14; RELB). Paulus’ Beispiel ließ die christliche Gemeinschaft in Rom plötzlich aktiv werden.
Keines dieser positiven Resultate wäre zustande gekommen,
hätte Paulus eine sich selbst bemitleidende und horizontale Einstellung eingenommen. Betrachten wir das Leben nur aus horizontaler Sicht, scheinen andere Menschen und Ereignisse die
Kontrolle über uns zu haben, aber Gottes Hand erkennen wir
nicht. Ohne Christus ist die horizontale Sicht unser natürlicher
Standpunkt. Sogar nach der Bekehrung sehen die meisten von
uns die Welt viel zu oft aus horizontaler Perspektive.
Hätte Paulus seine Gefangenschaft aus horizontaler Sicht betrachtet, hätte er in ihr das Werk der antichristlichen Juden und
einer korrupten, repressiven römischen Obrigkeit gesehen. Statt
stets nach geistlichen Gelegenheiten Ausschau zu halten, hätte
er Groll, Bitterkeit und Trauer angesichts seines Schicksals empfunden.
Im Philipperbrief sehen wir die vertikale Perspektive, die sich
in den Bereichen Charakter, Lehre und Gemeinschaft auswirkt.
Paulus vor und nach seiner entscheidenden Begegnung
mit Christus
In der Apostelgeschichte bekommen wir einen Einblick in Paulus’ Leben, bevor er Christus kennenlernte, und das ist für
einen Vergleich sehr wichtig. Paulus tritt zum ersten Mal in Erscheinung, als Stephanus mit den Männern »der so genannten
Synagoge der Libertiner« stritt. Als die Ratsmitglieder, denen
226
dieser Fall vorgelegt wurde, Stephanus zur Steinigung schleppten, legten sie ihre Kleider zu den Füßen eines Mannes namens Saulus ab, dessen Name später in Paulus geändert wurde
(Apg 7). Nach Stephanus’ Tod berichtet Lukas dann, dass Paulus die Christen heftig verfolgte (Apg 8,3). Später gab Paulus
zu, dass diese Verfolgung nicht nur die Gefangennahme von
Christen einschloss, sondern auch deren Tötung (Apg 22,4).
Was ist das für ein Mann, der solche Grausamkeiten begeht?
Paulus war eindeutig ein Glaubenseiferer. Er lebte nicht zurückgezogen oder nach innen gekehrt, sondern war vielmehr
ein Mann von außergewöhnlicher Stärke, der einen »Glaubensfeldzug« führte. An einer Stelle sagt er über sich, dass er im
Judentum größere Fortschritte machte als seine Altersgenossen
(Gal 1,14). Im Philipperbrief geht er sogar noch weiter:
Wenn irgendein anderer meint, auf Fleisch zu vertrauen – ich noch
mehr: Beschnitten am achten Tag, vom Geschlecht Israel, vom
Stamm Benjamin, Hebräer von Hebräern; was das Gesetz betrifft,
ein Pharisäer; was den Eifer betrifft, ein Verfolger der Versammlung;
was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, für untadelig befunden (Phil 3,4-6).
Hier sehen wir einen starken, rigorosen Mann – ausgebildet, diszipliniert und entschlossen.
Nachdem er unter Gottes Hand gewachsen war, finden wir
neue Charaktermerkmale an ihm. Auf den Seiten des Philipperbriefes wird er als freundlich, ermutigend und fürsorglich wahrgenommen. Sein Interesse an den Gefühlen des Epaphroditus
und der Philipper wird in 2,25-30 deutlich. Seine Begrüßungsworte an die Philipper haben einen positiven Ton und zeugen
von Warmherzigkeit: »Denn Gott ist mein Zeuge, wie ich mich
nach euch allen sehne mit dem Herzen Christi Jesu« (1,8). Er
nennt sie »meine Geliebten« (2,12) und findet andere liebevolle
Bezeichnungen. Jetzt war Paulus zu echtem Mitgefühl und fürsorglicher Liebe fähig.
227
Das Erwartete und das Unerwartete
Dieser Teil war zu erwarten. Nach einem nahezu 30-jährigen
Leben als Christ war Paulus ein freundlicher Mensch geworden.
Er war fähig, sich um andere zu sorgen und sie zuzurüsten. Dieser Teil eines reifen christlichen Charakters wird allgemein anerkannt und verstanden. Anhand des sanften und fürsorglichen
Aspekts seines Charakters wird die Christusähnlichkeit des Paulus deutlich. Jesus, der lehrte, die andere Wange hinzuhalten,
und der sich um die Kinder kümmerte, muss seine Nachfolger
zu einem Leben voll aufrichtiger Fürsorge führen.
Aber es gibt auch das Unerwartete in Paulus’ Charakter, sogar
zu diesem späten Zeitpunkt in seinem Leben. Schauen wir uns
Philipper 3,2 an: »Seht auf die Hunde, seht auf die bösen Arbeiter, seht auf die Zerschneidung.« Ist es möglich, dass der Apostel
einige seiner Mitmenschen »Hunde« nennt? Haben wir es falsch
verstanden, wenn wir lesen, dass er andere als »böse Arbeiter«
abstempelt?
Wie kann irgendjemand, insbesondere ein christlicher Apostel, es rechtfertigen, Menschen mit derartigen Bezeichnungen
zu belegen? Das gleicht mehr dem Paulus, der andere tötete,
bevor er Christus kennenlernte. Aber diejenigen von uns, die an
die göttliche Inspiration der Schrift glauben, können wohl kaum
infrage stellen, ob es moralisch einwandfrei von Paulus war, so
etwas zu sagen. Tatsache ist: Gott hat Paulus’ Härte während seines geistlichen Wachstumsprozesses nicht weggenommen. Wenn
es sein musste, ging Paulus noch immer offensiv und kompromisslos vor, selbst nach Jahrzehnten im Glauben.
Das ist eine Lektion für uns. Gott nimmt den Gläubigen nicht
grundlegende Persönlichkeitsmerkmale, wenn er ihr Leben verändert. Stattdessen heiligt er diese Merkmale und schenkt uns
die Kontrolle über zweifelhafte Eigenschaften, während er uns
gleichzeitig neue Wesenszüge verleiht, die uns bisher fehlten,
um bewährte Christen zu sein. Nicht alle Gläubigen werden so
offensiv wie Paulus vorgehen. Dieser Mann war so widerstands-
228
fähig, dass er viele Bedrängnisse und Leiden ertragen konnte.
Ihre Aufzählung in 2. Korinther 11 ist von ihren Dimensionen her
für uns kaum fassbar. Die Philipper selbst haben erlebt, wie er in
ihrer Stadt öffentlich geschlagen wurde und später im Gefängnis
geistliche Lieder sang und Gott lobte (Apg 16). Das war kein gewöhnlicher Mann.
In Philipper 3,2 empört sich Paulus maßlos über Menschen
(die sogenannten »Judaisten«), die das Gesetz christlichen Gläubigen aus der nichtjüdischen Welt aufzuzwingen versuchten.
Dies ist beachtlich. Zuvor hatte er schon einmal angeregt, dass die
Judaisten, solange sie ihre Messer gezückt und geschärft hatten,
sich in ihrem Eifer für die Beschneidung doch konsequenterweise
selbst verstümmeln sollten (vgl. Gal 5,12)! Hier kommen sowohl derber Humor als auch Empörung zum Ausdruck. In Philipper 3,2 spricht er von der »Zerschneidung« (katatome) seiner
Feinde, während er im Anschluss daran über sich selbst und die
anderen Gläubigen, die an den biblischen Wahrheiten festhielten,
sagt: »Wir sind die Beschneidung« (peritome). Paulus gebraucht
hier ein sarkastisches Wortspiel, indem er sagt, seine Gegner hätten aus der Beschneidung eine Zerschneidung gemacht. Es ist eine
Bemerkung, die von seiner Leidenschaftlichkeit zeugt und doch
auch einen humorvollen Unterton erkennen lässt. Ob die Ältesten
in einigen heutigen Gemeinden eine derartige Bemerkung wohl
recht verstehen würden?
Jeder, der das Wohl der Menschen bedrohte, denen Paulus
diente, musste sich auf einen Kampf gefasst machen. Hier war
jemand, der sich nicht scheute, die Dinge beim Namen zu nennen. Sogar die Christen in Rom, die Christus aus falschen Motiven predigten, werden in Philipper 1 offen angeprangert: »Einige zwar predigen den Christus auch aus Neid und Streit … aus
Streitsucht, nicht lauter, wobei sie meinen Fesseln Trübsal zu erwecken gedenken« (V. 15.17). Ich glaube, dass das Auftreten desjenigen, der offen, ehrlich und unverblümt seine Meinung kundtut, sehr erfrischend wäre, auch wenn wir das heute von unseren
christlichen Führungspersonen nicht erwarten.
229
Kurz gesagt, trotz seiner Fürsorglichkeit war Paulus keine
»Memme«. In seiner charakterlichen Veränderung sehen wir,
dass Gott im Leben des Paulus die Kraft und die Stärke bewahrte, die ihn als Nichtchristen kennzeichneten, und außerdem Mitgefühl und Fürsorglichkeit hinzufügte. Er war nach wie
vor robust, auch wenn er jetzt gelernt hatte, schwache Menschen
zu tolerieren. Wir haben Schwierigkeiten, eine derartige Kombination zu verstehen. Von einem bewährten Christen erwarten
wir heute, dass er in seiner »freundlich-lockeren Art« im Umgang mit Menschen keine Unterschiede macht.
Leider hält unsere Gesellschaft eine christliche Führungsperson für eine »Memme«, der es in anderen Arbeitsbereichen
möglicherweise nicht gelang, Karriere zu machen. Einige von
uns haben sich in ihren Vorstellungen weit von dem entfernt,
was geistliche Reife ausmacht.
Ein reifer und zugleich humorvoller Christ?
Ich bin sehr froh, dass Paulus in seinen späteren Jahren nicht seinen Sinn für Humor verloren hat. Im Titusbrief, den er zu einem
noch späteren Zeitpunkt in seinem Leben geschrieben hatte, geht
er erneut auf Irrlehrer los: »Denn es gibt viele zügellose Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung, denen
man den Mund stopfen muss, die ganze Häuser umkehren,
indem sie schändlichen Gewinnes wegen lehren, was sich nicht
geziemt« (Tit 1,10-11). Das ist nicht gerade eine zurückhaltende
Analyse! Wir können sie sogar als Abstempelung bezeichnen!
Heute würden wir Paulus einen Kurs in Sachen »politischer Korrektheit« empfehlen. Offensichtlich war er der Ansicht, dass diejenigen, die die geistliche Gesundheit junger Christen zugrunde
richteten, keine freundliche Behandlung verdienten.
Er ist aber noch nicht fertig. In Vers 12 zitiert er einen kretischen Dichter: »Es hat einer von ihnen, ihr eigener Prophet, gesagt: ›Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäu-
230
che.‹« Das ist ein überraschendes Zitat, aber was folgt, überrascht noch mehr. In Titus 1,13 sagt Paulus: »Dieses Zeugnis ist
wahr; aus diesem Grund weise sie streng zurecht, damit sie gesund seien im Glauben.«
Wie kann Paulus sagen, dass ein derart hartes Zeugnis über
die Kreter (dass sie immer Lügner, böse, wilde Tiere und faule
Bäuche sind) der Wahrheit entsprach? Das ist offensichtlich eine
Verallgemeinerung, die sich des literarischen Stilmittels der
Übertreibung bedient und Paulus’ Sinn für Humor zum Vorschein bringt. (Ich frage mich, ob er den Widerspruch in Kauf
nahm, als er äußerte, ein Kreter [der zitierte Dichter] würde die
Wahrheit sagen, wenn er behauptete, die Kreter seien immer
Lügner?) Wenn wir beim Lesen dieser Stelle nicht lächeln müssen, wäre es vielleicht angebracht, ein bisschen lockerer zu werden.
Paulus muss eine Persönlichkeit mit einem facettenreichen
Leben und außerdem sehr einnehmend für Nichtchristen gewesen sein. Eine starke, furchtlose, entschlossene und gleichzeitig freundliche und humorvolle Person ist ideal, um verlorene Menschen mit der Liebe Christi zu erreichen. Einige von
uns sollten möglicherweise ihre Vorstellung von dem, was Gott
aus uns machen will, überarbeiten. Sein Ideal für unser Leben ist
unter Umständen viel weniger streng und mehr den Menschen
unseres Umfelds zugewandt, als wir denken.
Vertikale Perspektive: Gebetsabhängigkeit
In seinem späteren Leben beweist Paulus eine außergewöhnliche Gebetsabhängigkeit. In Philipper 1,3-4 sagt er: »Ich danke
meinem Gott bei jeder Erinnerung an euch allezeit in jedem meiner Gebete und bete für euch alle mit Freuden« (RELB). Auch in
Vers 9 und den anschließenden Versen heißt es, dass er im Gebet
für sie eintrat. Wenn er für ihre Mängel betete, kamen interessanterweise auch Danksagung und Freude nicht zu kurz.
231
In unseren Überlegungen zum Thema Gebet haben wir herausgestellt, dass das entscheidende Kennzeichen des in der Lebensordnung der Gnade (oder der vertikalen Perspektive) dargebrachten Gebets Danksagung ist. Paulus verkörpert eine Person, die für die Probleme anderer betet und dabei Gottes Macht
im Blick hat. Es finden sich reichlich Anhaltspunkte für Konflikte und Uneinigkeiten in Philippi, aber Paulus ließ sich davon
nicht abhalten. Jemand wie Paulus konnte mit Problemen fertigwerden, indem er sich der mächtigen Hand Gottes bewusst war.
Das Ergebnis ist Danksagung.
Natürlich verordnete er diese Einstellung auch den Philippern in der bekannten Stelle, die wir in einem früheren Kapitel
schon untersucht haben. Der Philipperbrief wird der »Brief der
Freude« genannt, weil Paulus trotz seiner eigenen misslichen
Lage und der Probleme in Philippi so häufig von »Freude« und
»sich freuen« spricht.
Vertikale Perspektive: Zufriedenheit
Paulus’ vertikale Perspektive und ihr Einfluss auf sein Leben zeigen sich zudem in seiner Zufriedenheit. In eine jener Stellen, die
ich für die wichtigsten in diesem Brief halte, sagt er:
»Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen. Ich weiß sowohl
erniedrigt zu sein, als ich weiß Überfluss zu haben; in jedem und in
allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in
dem, der mich kräftigt« (Phil 4,11-13).
Ist das nicht etwas? Stellen Sie sich vor, Sie wären unter allen
Umständen und in allen Situationen zufrieden. Das ist nichts weniger als der völlige Sieg über unsere Umstände. Würden wir
nur so tun, als wären wir zufrieden, wären wir nicht in diesem
gesegneten Zustand. Nur ein tiefes Vertrauen auf Gott, basierend
232
auf einem jahrelangen Umgang mit ihm, führt zu einer Lebenseinstellung, die mehr oder weniger immer von Zufriedenheit geprägt ist.
Die von Paulus beschriebene Zufriedenheit gleicht nicht der
Passivität der fernöstlichen Mystik, die alle Kämpfe gegen vermeintlich Böses und gegen Schmerzen zu beenden versucht. Im
Gegenteil, Paulus hatte bereits gesagt: Ich »jage, … das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach
oben in Christus Jesus« (Phil 3,14). Paulus empfand keine Selbstzufriedenheit. Er hatte nicht das Gefühl, dass es unter den geistlichen Gütern nichts mehr gab, nach dem er streben konnte. Es
war die Art von Zufriedenheit, die aus einem festen Vertrauen
auf Gottes Liebe und Macht entsteht – das sichere Verständnis
dafür, dass alle Lebensphasen zur Ausgestaltung unseres Charakters dienen. Das ist die Einstellung, die wir in unserem Studium über die Zucht des Heiligen Geistes bereits besprochen
haben.
Vertikale Perspektive: Wertesystem
Paulus’ Ausführungen über sein Leben und seine Perspektive
lassen erkennen, dass sein Wertesystem vollständig überholt
wurde. Er war ein Pharisäer und wurde in Jerusalem von Gamaliel ausgebildet, dem führenden Rabbi seiner Zeit. Das zeigt,
dass seine Familie Einfluss besaß, und dies trotz der Tatsache,
dass er aus Tarsus, außerhalb der Grenzen Israels, stammte. Außerdem war er durch Geburt ein römischer Bürger. All das deutet auf eine Herkunft aus einer reichen Familie hin.
Möglicherweise gehörte er auch dem Hohen Rat (Synedrium),
dem höchsten politischen und religiösen Gremium der Juden zu
jener Zeit, an. Er erhielt die beste Ausbildung, die in der damaligen Gesellschaft zur Verfügung stand. Als Pharisäer, der von
einem allseits bekannten Rabbi in Jerusalem ausgebildet worden war, als mit Geld und politischen Privilegien ausgestatteter
233
Mensch und noch dazu als römischer Bürger stand Paulus an
der Spitze der sozialen Ordnung seiner Zeit. Er hatte im Grunde
alles.
Nachdem er viele dieser Vorteile seines früheren Lebens beschrieben hat, sagt er in Kapitel 3,7-8: »Aber was irgend mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet; ja
wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen
ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, damit ich Christus gewinne.«
Kommen wir nochmals auf den Menschen mit der etwas eigenartigen Sammlerleidenschaft zurück, den wir in Kapitel 13
erwähnt haben. Er war stolz auf seine Gabeln. Ähnlich erging es
Paulus vor seiner Bekehrung: Was er in irdischer Hinsicht vorzuweisen hatte, war sein Ein und Alles. Doch nun konnte Paulus keine Bedeutung mehr an den Prestige-Werten seiner Zeit
finden. Durch die Erneuerung seines Sinnes wurde er verändert
und entsprach nicht länger dem System dieser Welt. Ein Mensch
mit einer vertikalen Perspektive wie Paulus kann nicht länger an
einem horizontalen Wertesystem festhalten.
In seinem wahrscheinlich letzten Brief schrieb Paulus seinem vertrauten Freund Timotheus: »Denn ich werde schon als
Trankopfer gesprengt, und die Zeit meines Abscheidens ist gekommen« (2Tim 4,6). Anders als in seinem Brief an die Philipper wusste Paulus dieses Mal mit Sicherheit, dass das Ende seines irdischen Lebens gekommen war. In der Rückschau konnte
er deutlich machen, wie sein Wertesystem funktionierte: »Ich
habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet,
ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone
der Gerechtigkeit, die der Herr, der gerechte Richter, mir zur
Vergeltung geben wird an jenem Tag; nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben« (2Tim 4,7-8). Für
jeden, der wirklich an ein Leben nach dem Tod glaubt, ist ein auf
zeitlichen Dingen basierendes Wertesystem reiner Unsinn
 
Sulzbacher 30.11.2021 20:52
Vertikale Perspektive: Bereitschaft zum Leiden
Im Gegensatz zu seinem früheren Streben nach Prestige war
Paulus jetzt bereit, für geistliche Veränderungen zu leiden. Das
bringt er zum Ausdruck in seinem Wunsch, »ihn [Christus] zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft
seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde, ob
ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung
aus den Toten« (Phil 3,10-11). Paulus machte sich keine Sorgen,
ohne Leiden nicht in den Himmel zu kommen. Wenn er von der
Gleichgestaltung mit dem Tod Christi und seiner Auferstehung
spricht, meint Paulus seinen Wunsch, dass sein Zustand seiner Stellung entspricht. So wie wir zuvor bereits gesehen haben,
gibt es einen Zerbruchs- und einen Aufbauprozess im Leben
von Christen. Wenn Paulus davon spricht, dass er »seinem Tod
gleichgestaltet« werden will, bezieht er sich auf dieselbe Verwandlung wie in 2. Korinther 4,11. Dort sagt er, dass er »allezeit
dem Tod überliefert [werden würde] um Jesu willen, damit auch
das Leben Jesu an [seinem] sterblichen Fleisch offenbar werde«.
Im Philipperbrief beweist Paulus ein weiteres Mal seine Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen, wenn das bedeutet, dass
er anderen das Leben Jesu besser zeigen kann.
Vertikale Perspektive: Evangelistisches Engagement
Paulus verlor nie sein evangelistisches Engagement, wie es bei
vielen älteren Christen der Fall ist. In unserem Studium von Philipper 1 haben wir festgestellt, dass er dem ihn bewachenden
Soldaten permanent Zeugnis ablegte. Natürlich war Paulus ein
begnadeter Evangelist. Aber sein Anliegen für das Evangelisieren war nicht auf seine Begabung zurückzuführen. Es entsprang
vielmehr seiner vertikalen Perspektive und seinem Wertesystem,
das sich an der Ewigkeit ausrichtete. Da ihm seine Beziehung
zu Gott so real geworden war, besaß er eine unerschütterliche
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Sicherheit im Hinblick auf das Leben danach. Das führte unweigerlich dazu, dass ihm die Verlorenen aufs Herz gelegt wurden.
In einem anderen Brief, der zur selben Zeit geschrieben
wurde, ermahnt Paulus die Kolosser, sich dem Gebet zu widmen:
Und betet zugleich auch für uns, damit Gott uns eine Tür des Wortes auftue, das Geheimnis des Christus zu reden, um dessentwillen
ich auch gebunden bin, damit ich es offenbare, wie ich es reden soll.
Wandelt in Weisheit gegenüber denen, die draußen sind, die gelegene Zeit auskaufend. Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz
gewürzt, sodass ihr wisst, wie ihr jedem Einzelnen antworten sollt
(Kol 4,3-6).
Zur Erinnerung: Paulus machte diese Aussage im Gefängnis. Es
scheint, als konnte er nie aufhören, an die Verlorenen zu denken. War dies auf seine neue, geistlich begründete Fähigkeit, sich
um andere zu kümmern, zurückzuführen? Oder lag es an seinem Wertesystem, das auf einer ewigen Perspektive beruhte? So
oder so – für Paulus lief es auf dasselbe hinaus. Sein Leben und
das Wirken anderer Christen sollten zur Verbreitung des Evangeliums dienen.
Reformierte Theologen glauben, dass Paulus an der bedingungslosen Erwählung festhielt. Doch selbst der überzeugteste Calvinist weiß, dass Gott nicht nur die Ziele, sondern auch
die Mittel zu diesen Zielen festgelegt hat. Eines ist klar: In Paulus’ Theologie gab es nichts, das ihm erlaubte, sich mit dem Meer
verlorener Menschen in seiner Nähe zufriedenzugeben. Wenn
wir ihm nacheifern wollen, muss unser Leben auch diese unaufhörliche Last für die Verlorenen widerspiegeln. Dieser Freund
Gottes war ebenso ein Freund der Verlorenen.
236
Ein weiteres Merkmal
Paulus’ Personen- und Charakterbeschreibung, wie man sie im
Philipperbrief und in anderen Briefen aus seinen letzten Lebensjahren findet, ist zugleich herausfordernd und anschaulich. Alle
Christen, die sich nach Gottes Nähe sehnen, müssen Paulus’
Leben mit Wehmut betrachten, wobei sie vielleicht auch die Verzweiflung packt. Es wäre jedoch ein großer Fehler, eine der wichtigsten autobiografischen Anmerkungen in diesem Brief zu übersehen.
In Philipper 3,12-14 sagt er:
Nicht, dass ich es [die Gleichgestaltung mit dem Tod und der Auferstehung Christi] schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich
jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, indem ich auch
von Christus Jesus ergriffen bin. Brüder, ich denke von mir selbst
nicht, es ergriffen zu haben; eins aber tue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das
Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach
oben in Christus Jesus.
Das rückt einiges zurecht. Nach fast drei Jahrzehnten geistlichen
Wachstums und einer ausgedehnten Zurüstungszeit (wozu auch
eine persönliche Begegnung mit dem verherrlichten Christus
und ein besonderes Geschehen gehörte, das ihn kurzzeitig in
den dritten Himmel versetzte [2Kor 12,3-4]) konnte Paulus noch
immer nicht sagen, es ergriffen zu haben. Obschon sein Fortschritt beeindruckend war, standen ihm seine eigenen Schwächen deutlich vor Augen. Es ist ein Zeichen des Wachstums in
der Gnade, wenn wir uns der eigenen Unwürdigkeit und Sünde
sowie des Versagens zunehmend bewusst werden, während wir
gleichzeitig lernen, Gott mehr zu vertrauen. Wir können unsere
Sünde und unser Versagen klar erkennen, ohne uns ständig darauf zu konzentrieren.
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Was bleibt für uns?
Warum tun wir es Paulus nicht gleich? Erstens sagt er, dass er
vergisst, was hinter ihm liegt. Das bedeutet in negativer Hinsicht, dass uns die Vergangenheit niederdrücken kann, weil wir
unsere Identität auf sie gründen. Viele Christen werden von
Misserfolgen gequält, weil sie ihre augenblickliche Erfahrung
ständig mit irgendeiner goldenen Zeit aus der Vergangenheit
vergleichen, als sie scheinbar nahe bei Gott waren. Verglichen
mit dieser Zeit wirkt alles andere grau. Paulus sagt aber, er vergisst, was hinter ihm liegt. Die einst erlebten Freuden und Siege
hatten nur damals Bedeutung. Doch heute zählt etwas anderes.
Jetzt hat Gott einen neuen Weg für uns, und wir sollten ihn finden und gehen. Es wäre falsch, uns nach etwas zu sehnen, was
längst vorbei ist.
Das gilt natürlich auch für negative Erfahrungen. Manche
Christen können sich nicht von Sünden befreien, die sie in der
Vergangenheit begangen haben. Ich habe in der Seelsorge mit
Frauen gesprochen, die den Schuldkomplex nach einer vorgenommenen Abtreibung nicht loswerden können. Manche
Männer, die Ehebruch begangen haben und in der Seelsorge gewesen sind, werden nicht frei von Schuldgefühlen. Durch ihre
Selbstanklage kann der Teufel sie jahrelang in einem Zustand
permanenter Niederlage halten. Wiederum andere können nicht
aufhören, daran zu denken, wie sie von anderen schikaniert
wurden. Wenn wir unsere Vergangenheit nicht hinter uns lassen,
können uns einstige Enttäuschungen und Sünden dafür blind
machen, was Gott uns zeigen will.
Heute würden wir Paulus wahrscheinlich irgendeiner Art von
Verdrängungshaltung beschuldigen. Aber das ist alles andere
als Verdrängung. Paulus wusste, was er getan hatte. Er wusste,
dass er an der Ermordung von Christen beteiligt gewesen war.
Er wusste, dass er als politisch privilegierter und reicher Mann
gegolten hatte. Aber er entschied sich, diese Dinge dort zu belassen, wo sie hingehörten – in der Vergangenheit. Jetzt, wo er
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eine neue Schöpfung in Christus war, konnten sie ihm weder
helfen noch ihn aufhalten.
Statt sich auf die Vergangenheit zu konzentrieren, sagt er,
dass er sich ausstrecken würde »nach dem, was vorn ist«. Was
ist das? Das ist die vertikale Perspektive! Paulus schaut auf seine
Identität in Christus und auf Christus selbst.
Paulus fordert uns auf, demselben Weg zu folgen. In Philipper 3,15-16 schreibt er: »So viele nun vollkommen [d. h. geistlich
gereift] sind, lasst uns so gesinnt sein; und wenn ihr etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dies offenbaren. Doch
wozu wir gelangt sind, lasst uns in denselben Fußstapfen wandeln.« In diesem Imperativ liegt eine herrliche Sicherheit und
Gnade. Paulus fordert uns zu einer Haltung auf, die im Verhältnis zu dem bisher Erreichten steht. Gott verlangt von uns nicht
etwas, wozu wir außerstande sind.
Wenn wir uns jedoch hartnäckig weigern, Gott zu folgen und
negative Einstellungen abzulegen, finden wir in dieser Stelle eine
der wertvollsten Verheißungen im Neuen Testament: »Wenn ihr
etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dies offenbaren.« Sogar gelegentlich ungehorsamen Menschen wie mir
wird hier zugesichert, dass Gott uns nicht verlässt. Er wird uns
unsere problematische Haltung zeigen. Dann bekommen wir die
Chance, von Herzen Buße zu tun und ihm wieder nachzufolgen.
Paulus ruft uns heute zu: »Seid zusammen meine Nachahmer,
Brüder, und seht hin auf die, die so wandeln, wie ihr uns zum
Vorbild habt« (Phil 3,17).
 
Sulzbacher 30.11.2021 21:05
in diesem Sinn,guts Nächtle❤lichst,Ralf😘
 
(Nutzer gelöscht) 30.11.2021 21:10
Dir auch gut's Nächtle,lieber Ralf
 
Sulzbacher 30.11.2021 21:19
🙂😘
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