Gottes Allgegenwart
Unser Vater, wir wissen, Du bist bei uns. Aber unser
Wissen ist nur ein Abbild und ein Schatten der Wahrheit
und besitzt nur wenig von dem geistlichen Wohlgeschmack
und der Süße, die ein solches Wissen mit sich bringen
sollte. Das ist für uns von großem Schaden und die
Ursache innerer Schwachheit. Hilf uns, daß unser Leben
schon hier unverzüglich die notwendige Korrektur erhält,
bevor wir die wahre Bedeutung der Worte: »Vor Deinem
Angesicht ist Freude die Fülle« erfahren können. Amen.
Das Wort gegenwärtig bedeutet in unserem Sprachgebrauch
hier, nahe, und die Vorsilbe «//-verleiht ihm Universalität. Gott
ist überall und nahe bei allen und allem.
Nicht jede Lehre wird in der Heiligen Schrift mit einer solchen
Klarheit gelehrt wie die der göttlichen Allgegenwart. Die sich
darauf beziehenden Bibelstellen sind so eindeutig, daß man sich
schon ziemlich Mühe geben müßte, sie mißzuverstehen. Die Bibel
lehrt, daß Gott in seiner Schöpfung wohnt, und es gibt keinen Ort
im Himmel oder auf Erden, an dem sich der Mensch vor der
Gegenwart Gottes verbergen könnte. Sie lehrt, daß Gott zur
gleichen Zeit weit entfernt und dennoch nahe ist und daß die
Menschen in ihm leben, weben und sind. Was gleichermaßen
überzeugt, sind die Bibelstellen, die uns überall zu der Auffassung
zwingen, daß die Allgegenwart Gottes auch in anderen Tatsachen
zu finden ist.
Zum Beispiel lehrt uns die Bibel, daß Gott unendlich ist. Das
bedeutet, daß sein Wesen keine Grenzen kennt. Darum kann
auch seine Gegenwart nicht begrenzt werden; er ist allgegenwärtig. In seiner Unendlichkeit umgibt und umfaßt er die endliche
Schöpfung. Außer in ihm gibt es keinen Ort, wo etwas sein
könnte. Gott umgibt uns wie das Wasser die Fische und die Luft
die Vögel. »Gott ist über allen Dingen«, schrieb Hildebert von
Lavardin, »unter allen Dingen, außerhalb aller Dinge; er ist
87
innerhalb, aber nicht eingeschlossen; außerhalb, aber nicht ausgeschlossen ; er ist oben, aber nicht emporgehoben ; unten, aber nicht
erniedrigt; er ist gänzlich unter allem, indem er trägt; gänzlich in
allem, indem er erfüllt.«22
Der Glaube, daß Gott in seinem Universum gegenwärtig ist,
kann nicht isoliert dastehen. Er bringt praktische Auswirkungen
auf vielen Gebieten des theologischen Denkens mit sich und steht
in direkter Beziehung zu bestimmten religiösen Problemen wie
zum Beispiel der Natur der Welt. Denkende Menschen aller
Zeiten und jeder Kultur haben sich mit der Frage, welcher Art die
Welt ist, beschäftigt: Leben wir in einer materiellen Welt, die von
selbst funktioniert? Oder in einer geistigen Welt, die von unsichtbaren Mächten regiert wird? Erklärt sich dies ineinander verwobene System selbst, oder liegt alles in einem Geheimnis verborgen? Beginnt und endet der Strom des Seins in sich selbst oder gibt
es eine Quelle hoch oben in den Bergen?
Die christliche Theologie erhebt den Anspruch, die Antwort
auf diese Fragen zu besitzen. Sie hält sich nicht mit Spekulationen
oder verschiedenen Meinungen auf, sondern sieht ihre Autorität
in dem So-spricht-der Herr. Sie erklärt mit Entschiedenheit, daß
die Welt geistigen Charakters ist, daß sie dem Geist entsprang, aus
dem Geist lebt, in ihrem Wesen geistig ist und ohne den Geist, der
ihr innewohnt, bedeutungslos wäre.
Die Lehre der göttlichen Allgegenwart verdeutlicht die Beziehungen des Menschen zum Universum, in dem er sich befindet.
Diese große, zentrale Lehre verleiht allen anderen Wahrheiten
Bedeutung und dem Leben des Menschen Wert. Gott ist gegenwärtig, er ist uns nahe, er ist bei uns. Dieser Gott sieht uns und
kennt uns durch und durch. An diesem Punkt beginnt der Glaube*
und wenn er auch tausend andere wunderbare Wahrheiten umfaßt, so gehen diese alle auf die eine Wahrheit zurück, nämlich:
daß Gott ist und daß Gott hier ist. »Wer zu Gott kommen will«,
heißt es im Hebräerbrief (11,6), »der muß glauben, daß er ist.«
Und Jesus Christus selbst sagt: »Glaubt an Gott und glaubt an
mich...« (Joh 14,1). Alles, was diesem grundlegenden Glauben
an Gott hinzugefügt wird, ist nur ein Überbau und ruht immer
noch fest auf dem ursprünglichen Fundament.
Das Neue Testament lehrt, daß Gott die Welt durch den Logos,
das Wort, erschaffen hat, und das Wort wird mit der zweiten
Person der Gottheit identifiziert, die schon in der Welt war, ehe
sie in der Fleischwerdung menschliche Gestalt annahm. Durch das
Wort wurden alle Dinge gemacht, und das Wort blieb in dieser
Welt, um sie zu tragen und zu erhalten und um gleichzeitig ein
moralisch-sittliches Licht zu sein, durch das jeder Mensch das
Gute vom Bösen unterscheiden kann. Das geordnete System des
Universums funktioniert nicht durch unpersönliche Gesetze, sondern durch die schöpferische Stimme der immanenten und universalen Gegenwart, durch den Logos.
Canon W. G. H. Holmes aus Indien erzählte, daß er einst
Hindu-Gläubige dabei beobachtet habe, wie sie an Bäume schlugen und dabei flüsterten: »Bist du da? Bist du da?« Sie riefen nach
einem Gott, den sie in den Bäumen zu finden hofften. In echter
Demut kann jeder Christ auf diese Frage Antwort geben. Gott ist
tatsächlich da. Er ist da, so wie er hier und überall ist, nicht an
einen Baum oder einen Stein gebunden, sondern frei im Universum, allen, die ihn lieben, sofort durch Jesus Christus zugänglich.
Diese entscheidende Wahrheit und Lehre der Allgegenwart
Gottes bedeutet für den überzeugten Christ eine Quelle tiefen
Trostes im Leid und eine gewisse Zuversicht in mancherlei
Erfahrungen seines Lebens. Für ihn bedeutet »die Praxis der
Gegenwart Gottes« nicht ein aus sich selbst heraus projiziertes
Objekt, dessen Gegenwart er zu realisieren versucht. Sie besteht
vielmehr im Erkennen der tatsächlichen Gegenwart des Einen, der
nach dem übereinstimmenden Zeugnis jeder gesunden Theologie
bereits da ist-als objektive Ganzheit, die unabhängig davon, obsie
von seinen Geschöpfen erkannt wird oder nicht, existiert. Die
daraus resultierende Erfahrung ist nicht eingebildet, sondern real.
Die Gewißheit, daß Gott uns immer nahe ist, gegenwärtig in
allen Teilen seiner Welt, noch näher als unsere Gedanken, sollte
uns die meiste Zeit über in einen erhebenden Glückszustand versetzen; jedoch nicht die ganze Zeit. Es wäre nicht ehrlich, jedem
Gläubigen einen ständigen Jubel zu verheißen, und es wäre nicht
realistisch, ihn zu erwarten. Wie ein Kind vor Schmerzen weint,
auch wenn es in den Mutterarmen geborgen ist, so weiß auch der
Gläubige manchmal, was es heißt, sogar in der ihm bewußten Gegenwart Gottes zu leiden. Obwohl »allezeit fröhlich«
89
(2 Kor 6,10), gibt Paulus doch zu, manchmal auch betrübt zu sein.
Und Christus hat um unseretwillen »starkes Geschrei und Tränen« gekannt, obwohl er nie den Schoß des Vaters verlassen hatte
(Joh 1,18).
Aber genau so soll es auch sein. In einer Welt wie dieser haben
Tränen therapeutische Wirkung. Die sich offenbarende göttliche
Gegenwart spendet einen heilsamen Balsam, der unsere Leiden
heilt, bevor sie tödlich werden. Das Wissen, daß wir nie allein
sind, glättet die unruhigen Wogen unseres Lebens und läßt den
Frieden in unsere Herzen einziehen.
Daß Gott da ist, bezeugt uns sowohl die Bibel wie auch die
Vernunft. Es ist an uns, dies in bewußter Erfahrung erkennen zu
lernen. Ein Satz aus einem Brief von Dr. Allen Fleece steht für das
Zeugnis von vielen anderen Gläubigen: »Das Wissen um die
Gegenwart Gottes ist ein Segen; aber seine Gegenwart zu fühlen,
das ist echtes Glück.«
Gott ist gegenwärtig.
Lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor Ihn treten.
Du allein sollst es sein,
Unser Gott und Herre,
Dir gebührt die Ehre.
Gott ist gegenwärtig,
Dem die Cherubinen
Tag und Nacht gebücket dienen.
GERHARD TERSTEEGEN......https://info1.sermon-online.com/german/AidenWilsonTozer/Das_Wesen_Gottes_1996.pdf
Allgegenwart,Allwissenheit und Allmacht,...
25.08.2021 18:21
Allgegenwart,Allwissenheit und Allmacht,...
25.08.2021 18:21
Allgegenwart,Allwissenheit und Allmacht,...
...drei Tatsachen die der Teufel,die Welt und mein Fleisch hasst wie die Pest,...
Die Allmacht Gottes
Unser himmlischer Vater, wir haben Dich sagen hören:
»Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei
fromm.« Aber es sei denn, daß Du uns durch Deine
überragende Kraft dazu befähigst, wie können wir, die wir
von Natur aus schwach und sündig sind, untadelig vor Dir
wandeln? Hilf, daß wir lernen, das Wirken der mächtigen
Kraft zu erfassen, die in Christus wirksam wurde, als Du
ihn von den Toten auferwecktest und zu Deiner Rechten
im Himmel setztest. Amen.
In seiner Vision hörte Johannes eine Stimme, und es war wie
eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer
Wasser und wie eine Stimme starker Donner im ganzen All, und
die Botschaft, die die Stimme verkündigte, war die Souveränität
und Allmacht Gottes: »Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der
Allmächtige, hat das Reich eingenommen!« (Offb 19,6).
Souveränität und Allmacht gehören unbedingt zueinander; das
eine kann nicht ohne das andere sein. Um zu regieren, muß Gott
Macht zu haben, und um souverän zu regieren, muß er alle Macht
haben. Und genau das ist es, was allmächtig bedeutet, nämlich,
alle Macht zu haben. Dieses Wort kommt in der Bibel häufig vor,
aber nur in Verbindung mit Gott. Er allein ist allmächtig.
Gott besitzt, was kein Geschöpf je hatte: eine unbegreifliche
Machtfülle, eine Macht, die absolut ist. Das wissen wir durch
göttliche Offenbarung. Aber sobald man dies weiß, erkennt man
auch, daß es mit der Vernunft in Übereinstimmung steht. Ist Gott
unendlich und unbedingt, so folgern wir daraus sofort, daß er auch
allmächtig sein muß, und der Verstand kniet nieder und betet vor
der göttlichen Allmacht an.
»Gott allein ist mächtig«, sagt der Psalmist (Ps 62,12), und
der Apostel Paulus erklärt, daß die Natur selbst Zeugnis gibt von
der unvergänglichen Macht der Gottheit (Rom 1,20). Aufgrund
dieses Wissens schließen wir auf die Allmacht Gottes. Dies
78
geschieht in folgenden Schritten: Gott besitzt Macht. Da er
unendlich ist, muß auch alle Macht, die er hat, grenzenlos sein.
Darum hat Gott unbegrenzte Macht, er ist allmächtig. Wir sehen
weiter, daß Gott, der in sich selbst bestehende Schöpfer, die
Quelle aller bestehenden Macht ist. Und weil eine Quelle zumindest all dem, was aus ihr entspringt, gleich ist, ist Gott logischerweise aller Macht gleich, die es gibt, und das heißt wiederum,
daß er allmächtig ist.
Gott hat seinen Geschöpfen Macht übertragen, doch weil er
sich selbst genügt, kann er keine seiner Vollkommenheiten aufgeben. Weil seine Macht vollkommen ist, hat er nie auch nur den
kleinsten Teil davon aufgegeben. Er gibt, aber er gibt nicht weg.
Alles, was er gibt, bleibt sein Eigentum und kehrt wieder zu ihm
zurück. Auf ewig muß er bleiben, was er ewig gewesen ist: Gott,
der allmächtige Herr.
Man kann nicht lange aufmerksam in der Bibel lesen, ohne den
gravierenden Unterschied in der Einstellung der biblischen Gestalten und jener der heutigen Menschen zu sehen.
Wir leiden heute unter einer Verweltlichung; wo die Bibelverfasser von Gott sprachen, sprechen wir von Naturgesetzen. Ihre
Welt war ausgefüllt, unsre dagegen ist leer. Ihre Welt war
lebendig und persönlich, unsre ist unpersönlich und tot. Damals
regierte Gott; wir lassen uns von Naturgesetzen regieren, und die
Gegenwart Gottes kennen wir gar nicht mehr.
Was sind diese Naturgesetze, die in den Köpfen von Millionen
Menschen zum Ersatz für Gott geworden sind? Das Wort Gesetz
hat eine doppelte Bedeutung. Einmal bedeutet es ein behördliches Gebot oder Verbot, zum Beispiel zur Abwehr von Kriminalität. Im anderen Fall bezeichnet man damit das immer gleichbleibende Verhalten der Dinge im Universum. Doch dieser
zweite Wortgebrauch beruht auf einem Irrtum. Was wir in der
Natur beobachten, sind ganz einfach die Fußspuren der Macht
und Weisheit Gottes in der Schöpfung. Eigentlich sind es Phänomene und nicht Gesetze. Aber wir nennen sie Gesetze wegen
ihrer Ähnlichkeit mit den willkürlichen Gesetzen der Gesellschaft.
Die Wissenschaft beobachtet, wie die Kraft Gottes wirkt. Sie
stellt ein regelmäßiges Verhaltensmuster fest und fixiert dieses
79
als Gesetz. Die Gleichförmigkeit des göttlichen Wirkens in der
Schöpfung ermöglicht es dem Wissenschaftler, den Verlauf eines
natürlichen Phänomens vorauszusagen. Darauf gründet der Wissenschaftler seinen Glauben; dies ist sein Ausgangspunkt, um
bedeutende und nützliche Dinge in der Navigation, der Chemie,
der Landwirtschaft und den medizinischen Wissenschaften zu
erreichen.
Religion dagegen geht auf das Wesen Gottes zurück, sie befaßt
sich nicht mit den Fußspuren Gottes, die in der Schöpfung zu
erkennen sind, sondern mit dem Schöpfer selbst. Religion ist in
erster Linie an dem interessiert, der die Quelle aller Dinge, der
Herr eines jeden dieser Phänomene ist. Die Philosophie hat für
Gott verschiedene Namen bereit. Der fürchterlichste, den ich je
zu hören bekam, stammt von Rudolf Otto: »Der absolute, gigantische, nie erlahmende, aktive Welt-Streß.«20
Da erinnert sich der
gläubige Christ lieber daran, daß dieser »Welt-Streß« sich selbst
ICH BIN nannte und daß der größte aller Lehrer seine Jünger
unterwies, Gott als Person anzureden: »Wenn ihr betet, so
sprecht: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt«
(Lk 11,2). Die Menschen der Bibel verkehrten mit diesem »gigantischen Absoluten« in einer so persönlichen Weise, wie es ihnen
die Sprache ermöglichte. Propheten und Heilige wandelten mit
ihm, erfüllt von einer Hingabe, die beglückend und zutiefst
befriedigend für sie war.
Allmacht bedeutet nicht nur die Summe aller Macht, sondern
sie ist eine Eigenschaft des persönlichen Gottes, der für uns
Christen der Vater unseres Herrn Jesus Christus und all derer ist,
die an ihn glauben. Für den Menschen, der glaubt und anbetet, ist
diese Erkenntnis eine wunderbare Kraftquelle seines Glaubenslebens. Sein Glaube schwingt sich zur Gemeinschaft mit dem
empor, der tun kann, was immer er tun will, und für den nichts zu
schwer ist, weil er absolute Macht besitzt.
Da ihm alle Macht des Universums zur Verfügung steht, kann
Gott, der allmächtige Herr, alles mit größter Leichtigkeit tun.
Keine seiner Taten kostet ihn auch nur die kleinste Anstrengung.
Er verbraucht keine Energie, die ersetzt werden müßte. In seiner
Selbstgenügsamkeit hat er es nicht nötig, von außen eine Erneuerang seiner Kraft zu erwarten. Alle Kraft, die erforderlich ist, um
80
das, was er will, tun zu können, liegt in der unverminderten Fülle
seines eigenen unwandelbaren Wesens.
Ein in den mittleren Jahren stehender Pfarrer, A. B. Simpson,
der schwer erkrankt und tief niedergeschlagen, jedoch zur Aufgabe seines Dienstes bereit war, hörte zufällig den einfachen NegroSpiritual:
Nothing is too hard for Jesus,
No man can work like Him.
Nichts ist für Jesus zu schwer,
Niemand kann so wirken wie er.
Diese Botschaft drang wie ein Pfeil in sein Herz und verlieh ihm
Glaube und Hoffnung für Geist, Seele und Leib. Er zog sich an
einen stillen Ort zurück und erhob sich, nachdem er eine Zeitlang
allein mit Gott gewesen war, vollständig geheilt. Mit großer
Freude fuhr er in seinem Dienst fort und gründete eine der
größten Missionsgesellschaften der Welt. Auch in den folgenden
35 Jahren nach dieser Begegnung mit Gott wirkte er auf wunderbare Weise im Dienste Jesu Christi. Sein Glaube an den Gott
unbegrenzter Macht gab ihm all die nötige Kraft, um weiterzumachen.
Allmächtiger! Ich beuge mich im Staub vor Dir;
Ebenso beugen sich verschleierte Cherubim;
In ruhiger und stiller Andacht bete ich Dich an,
Allwissender, allgegenwärtiger Freund.
Der Erde hast Du ihr smaragdgrünes Gewand gegeben
Und sie in Schnee gehüllt.
Und die helle Sonne und der sanfte Mond am Himmel
Beugen sich vor Deiner Erscheinung.
SIR JOHN BOWRING
Die Allmacht Gottes
Unser himmlischer Vater, wir haben Dich sagen hören:
»Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei
fromm.« Aber es sei denn, daß Du uns durch Deine
überragende Kraft dazu befähigst, wie können wir, die wir
von Natur aus schwach und sündig sind, untadelig vor Dir
wandeln? Hilf, daß wir lernen, das Wirken der mächtigen
Kraft zu erfassen, die in Christus wirksam wurde, als Du
ihn von den Toten auferwecktest und zu Deiner Rechten
im Himmel setztest. Amen.
In seiner Vision hörte Johannes eine Stimme, und es war wie
eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer
Wasser und wie eine Stimme starker Donner im ganzen All, und
die Botschaft, die die Stimme verkündigte, war die Souveränität
und Allmacht Gottes: »Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der
Allmächtige, hat das Reich eingenommen!« (Offb 19,6).
Souveränität und Allmacht gehören unbedingt zueinander; das
eine kann nicht ohne das andere sein. Um zu regieren, muß Gott
Macht zu haben, und um souverän zu regieren, muß er alle Macht
haben. Und genau das ist es, was allmächtig bedeutet, nämlich,
alle Macht zu haben. Dieses Wort kommt in der Bibel häufig vor,
aber nur in Verbindung mit Gott. Er allein ist allmächtig.
Gott besitzt, was kein Geschöpf je hatte: eine unbegreifliche
Machtfülle, eine Macht, die absolut ist. Das wissen wir durch
göttliche Offenbarung. Aber sobald man dies weiß, erkennt man
auch, daß es mit der Vernunft in Übereinstimmung steht. Ist Gott
unendlich und unbedingt, so folgern wir daraus sofort, daß er auch
allmächtig sein muß, und der Verstand kniet nieder und betet vor
der göttlichen Allmacht an.
»Gott allein ist mächtig«, sagt der Psalmist (Ps 62,12), und
der Apostel Paulus erklärt, daß die Natur selbst Zeugnis gibt von
der unvergänglichen Macht der Gottheit (Rom 1,20). Aufgrund
dieses Wissens schließen wir auf die Allmacht Gottes. Dies
78
geschieht in folgenden Schritten: Gott besitzt Macht. Da er
unendlich ist, muß auch alle Macht, die er hat, grenzenlos sein.
Darum hat Gott unbegrenzte Macht, er ist allmächtig. Wir sehen
weiter, daß Gott, der in sich selbst bestehende Schöpfer, die
Quelle aller bestehenden Macht ist. Und weil eine Quelle zumindest all dem, was aus ihr entspringt, gleich ist, ist Gott logischerweise aller Macht gleich, die es gibt, und das heißt wiederum,
daß er allmächtig ist.
Gott hat seinen Geschöpfen Macht übertragen, doch weil er
sich selbst genügt, kann er keine seiner Vollkommenheiten aufgeben. Weil seine Macht vollkommen ist, hat er nie auch nur den
kleinsten Teil davon aufgegeben. Er gibt, aber er gibt nicht weg.
Alles, was er gibt, bleibt sein Eigentum und kehrt wieder zu ihm
zurück. Auf ewig muß er bleiben, was er ewig gewesen ist: Gott,
der allmächtige Herr.
Man kann nicht lange aufmerksam in der Bibel lesen, ohne den
gravierenden Unterschied in der Einstellung der biblischen Gestalten und jener der heutigen Menschen zu sehen.
Wir leiden heute unter einer Verweltlichung; wo die Bibelverfasser von Gott sprachen, sprechen wir von Naturgesetzen. Ihre
Welt war ausgefüllt, unsre dagegen ist leer. Ihre Welt war
lebendig und persönlich, unsre ist unpersönlich und tot. Damals
regierte Gott; wir lassen uns von Naturgesetzen regieren, und die
Gegenwart Gottes kennen wir gar nicht mehr.
Was sind diese Naturgesetze, die in den Köpfen von Millionen
Menschen zum Ersatz für Gott geworden sind? Das Wort Gesetz
hat eine doppelte Bedeutung. Einmal bedeutet es ein behördliches Gebot oder Verbot, zum Beispiel zur Abwehr von Kriminalität. Im anderen Fall bezeichnet man damit das immer gleichbleibende Verhalten der Dinge im Universum. Doch dieser
zweite Wortgebrauch beruht auf einem Irrtum. Was wir in der
Natur beobachten, sind ganz einfach die Fußspuren der Macht
und Weisheit Gottes in der Schöpfung. Eigentlich sind es Phänomene und nicht Gesetze. Aber wir nennen sie Gesetze wegen
ihrer Ähnlichkeit mit den willkürlichen Gesetzen der Gesellschaft.
Die Wissenschaft beobachtet, wie die Kraft Gottes wirkt. Sie
stellt ein regelmäßiges Verhaltensmuster fest und fixiert dieses
79
als Gesetz. Die Gleichförmigkeit des göttlichen Wirkens in der
Schöpfung ermöglicht es dem Wissenschaftler, den Verlauf eines
natürlichen Phänomens vorauszusagen. Darauf gründet der Wissenschaftler seinen Glauben; dies ist sein Ausgangspunkt, um
bedeutende und nützliche Dinge in der Navigation, der Chemie,
der Landwirtschaft und den medizinischen Wissenschaften zu
erreichen.
Religion dagegen geht auf das Wesen Gottes zurück, sie befaßt
sich nicht mit den Fußspuren Gottes, die in der Schöpfung zu
erkennen sind, sondern mit dem Schöpfer selbst. Religion ist in
erster Linie an dem interessiert, der die Quelle aller Dinge, der
Herr eines jeden dieser Phänomene ist. Die Philosophie hat für
Gott verschiedene Namen bereit. Der fürchterlichste, den ich je
zu hören bekam, stammt von Rudolf Otto: »Der absolute, gigantische, nie erlahmende, aktive Welt-Streß.«20
Da erinnert sich der
gläubige Christ lieber daran, daß dieser »Welt-Streß« sich selbst
ICH BIN nannte und daß der größte aller Lehrer seine Jünger
unterwies, Gott als Person anzureden: »Wenn ihr betet, so
sprecht: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt«
(Lk 11,2). Die Menschen der Bibel verkehrten mit diesem »gigantischen Absoluten« in einer so persönlichen Weise, wie es ihnen
die Sprache ermöglichte. Propheten und Heilige wandelten mit
ihm, erfüllt von einer Hingabe, die beglückend und zutiefst
befriedigend für sie war.
Allmacht bedeutet nicht nur die Summe aller Macht, sondern
sie ist eine Eigenschaft des persönlichen Gottes, der für uns
Christen der Vater unseres Herrn Jesus Christus und all derer ist,
die an ihn glauben. Für den Menschen, der glaubt und anbetet, ist
diese Erkenntnis eine wunderbare Kraftquelle seines Glaubenslebens. Sein Glaube schwingt sich zur Gemeinschaft mit dem
empor, der tun kann, was immer er tun will, und für den nichts zu
schwer ist, weil er absolute Macht besitzt.
Da ihm alle Macht des Universums zur Verfügung steht, kann
Gott, der allmächtige Herr, alles mit größter Leichtigkeit tun.
Keine seiner Taten kostet ihn auch nur die kleinste Anstrengung.
Er verbraucht keine Energie, die ersetzt werden müßte. In seiner
Selbstgenügsamkeit hat er es nicht nötig, von außen eine Erneuerang seiner Kraft zu erwarten. Alle Kraft, die erforderlich ist, um
80
das, was er will, tun zu können, liegt in der unverminderten Fülle
seines eigenen unwandelbaren Wesens.
Ein in den mittleren Jahren stehender Pfarrer, A. B. Simpson,
der schwer erkrankt und tief niedergeschlagen, jedoch zur Aufgabe seines Dienstes bereit war, hörte zufällig den einfachen NegroSpiritual:
Nothing is too hard for Jesus,
No man can work like Him.
Nichts ist für Jesus zu schwer,
Niemand kann so wirken wie er.
Diese Botschaft drang wie ein Pfeil in sein Herz und verlieh ihm
Glaube und Hoffnung für Geist, Seele und Leib. Er zog sich an
einen stillen Ort zurück und erhob sich, nachdem er eine Zeitlang
allein mit Gott gewesen war, vollständig geheilt. Mit großer
Freude fuhr er in seinem Dienst fort und gründete eine der
größten Missionsgesellschaften der Welt. Auch in den folgenden
35 Jahren nach dieser Begegnung mit Gott wirkte er auf wunderbare Weise im Dienste Jesu Christi. Sein Glaube an den Gott
unbegrenzter Macht gab ihm all die nötige Kraft, um weiterzumachen.
Allmächtiger! Ich beuge mich im Staub vor Dir;
Ebenso beugen sich verschleierte Cherubim;
In ruhiger und stiller Andacht bete ich Dich an,
Allwissender, allgegenwärtiger Freund.
Der Erde hast Du ihr smaragdgrünes Gewand gegeben
Und sie in Schnee gehüllt.
Und die helle Sonne und der sanfte Mond am Himmel
Beugen sich vor Deiner Erscheinung.
SIR JOHN BOWRING
Kommentare
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Sulzbacher 27.08.2021 11:43
Die Heiligkeit Gottes
Ehre sei Gott in der Höhe! Wir preisen Dich, wir loben
Dich, wir beten Dich an um Deiner großen Herrlichkeit
willen. Herr, ich redete Dinge, die ich nicht verstand,
Dinge, zu wunderbar für mich, als daß ich sie begriff. Ich
hatte von Dir vom Hörensagen vernommen, nun aber
sieht mein Auge Dich, und ich tue Buße in Staub und
Asche. O Herr, ich will meine Hand auf meinen Mund
legen. Einmal habe ich geredet, ein zweites Mal und will's
nicht wieder tun. Aber während ich nachdachte, brannte
das Feuer. Ich muß von Dir reden, damit ich mit meinem
Schweigen nicht gegen diese Generation Deiner Kinder
sündige.
Siehe, was töricht ist vor der Welt, hast Du erwählt, damit
Du die Weisen zuschanden machst, und was schwach ist
vor der Welt, um das, was stark ist, zuschanden zu
machen. O Herr, vergiß mich nicht. Laß mich Deine
Stärke und Deine Macht dieser Generation und jeder
zukünftigen bezeugen. Erwecke Propheten und Seher in
Deiner Gemeinde, die Deine Herrlichkeit rühmen, und
stelle durch Deinen allmächtigen Geist die Erkenntnis des
Heiligen unter Deinem Volke wieder her. Amen.
Der Schock, den wir durch unsern furchtbaren Bruch mit dem
göttlichen Willen erlitten haben, hat in uns allen ein bleibendes
Trauma zurückgelassen, das jedes Teil unseres Seins berührt.
Sowohl in uns wie in unserer Umwelt sitzt eine Krankheit.
Das Bewußtsein seiner eigenen Verderbtheit kam wie ein Blitz
vom Himmel über den zitternden Jesaja in dem Moment, als er die
überwältigende Schau der Herrlichkeit Gottes empfing. Sein
schmerzerfüllter Schrei: »Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin
unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen
Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen
mit meinen Augen« (Jes 6,5), drückt die Gefühle eines jeden aus,
121
der sich selbst unter seiner Verkleidung erkannt hat und durch ein
inneres Schauen mit der heiligen Reinheit Gottes konfrontiert
worden ist. Es kann gar nicht anders sein, als daß eine solche
Erfahrung von einer heftigen Gefühlsregung begleitet wird.
Bevor wir uns selbst nicht gesehen haben, wie Gott uns sieht,
lassen wir uns nicht so leicht durch äußere Umstände aus der Ruhe
bringen; erst, wenn sie unseren bequemen Lebensstil bedrohen,
werden wir aktiv. Wir haben gelernt, mit Unheiligkeit zu leben,
und sind so weit gekommen, sie als etwas ganz Natürliches und
Alltägliches zu betrachten. Wir sind nicht darüber enttäuscht, daß
wir nicht die ganze Wahrheit bei den Lehrern, Gewissenhaftigkeit
bei den Politikern, Ehrlichkeit bei den Kaufleuten oder volle
Vertrauenswürdigkeit bei unsern Freunden finden. Um die Fortdauer unserer Existenz zu sichern, erfinden wir Gesetze, um uns
vor unsern Mitmenschen zu schützen, und lassen es dabei bewenden.
Weder der Verfasser noch der Leser dieses Buches ist von sich
aus fähig, die Heiligkeit Gottes zu würdigen. So etwas wie ein
neuer Kanal muß durch die Wüste unseres Sinnes gegraben
werden, damit das köstliche Wasser der Wahrheit, das unsere
schwere Krankheit heilen will, hineinfließen kann. Wir erfassen
den wahren Sinn göttlicher Heiligkeit nicht, indem wir einfach an
etwas oder jemand sehr Reinen denken und dann diese Vorstellung im höchsten Maße veredeln. Gottes Heiligkeit ist keine
unendliche Verbesserung des Besten, das wir kennen. Uns ist
etwas der göttlichen Heiligkeit Ähnliches gar nicht bekannt. Sie ist
etwas ganz Besonderes: einzigartig, unnahbar, unbegreiflich und
unerreichbar. Der natürliche Mensch ist blind dafür. Er fürchtet
vielleicht Gottes Macht und bestaunt seine Weisheit, doch seine
Heiligkeit kann er sich nicht einmal vorstellen.
Nur der Geist des Heiligen kann dem menschlichen Geist die
Erkenntnis des Heiligen vermitteln. Aber wie der elektrische
Strom nur durch eine Leitung fließt, so fließt der Geist Gottes
durch die Wahrheit. Er muß ein gewisses Maß an Wahrheit im
Geist eines Menschen vorfinden, ehe er das Herz erleuchten kann.
Glaube wird nur durch die Stimme der Wahrheit geweckt. »So
kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das
Wort Christi« (Rom 10,17). Theologisches Wissen ist gleichsam
122
das Medium, durch welches der Geist ins menschliche Herz
strömt; aber es setzt demütige Reue voraus, bevor die Wahrheit
Glauben wecken kann. Der Geist Gottes ist der Geist der
Wahrheit. Es ist möglich, etwas von der Wahrheit im Kopf zu
haben, ohne den Geist im Herzen zu haben. Aber es ist unmöglich, den Geist ohne die Wahrheit zu haben.
In seiner eingehenden Studie »Das Heilige« bringt Rudolf Otto
beachtenswerte Beweise für das Vorhandensein einer Ahnung im
menschlichen Geiste, daß es in der Welt ein unbestimmtes,
unfaßbares Etwas gibt, das Mysterium Tremendum, das furchteinflößende Geheimnisvolle, welches das Universum umfaßt und
durchdringt. Dieses ist ein Schrecken hervorbringendes Etwas,
das nie verstandesmäßig wahrgenommen, sondern nur in den
Tiefen des Menschengeistes erahnt und erfühlt werden kann. Es
besteht weiter als ein bleibender religiöser Instinkt, ein Gefühl für
jene namenlose, unauffindbare Gegenwart, die »quecksilbergleich in den Adern der Schöpfung pulst« und manchmal den
Verstand wie betäubt, indem es diesem mit einer übernatürlichen,
überverstandesmäßigen Kundgebung seiner selbst gegenübertritt.
Der von ihm überwältigte Mensch wird ganz klein und kann nur
zittern und schweigen.
Dieser nicht aus der Vernunft stammende Schrecken, diese
Ahnung eines nichtkreatürlichen Weltgeheimnisses, bildet den
Urgrund aller Religionen. Die reine Religion, wie wir sie in der
Bibel finden, existiert ebenso wie der niedrigste Animismus des
nackten Eingeborenen nur deshalb, weil der menschlichen Natur
dieser grundlegende Instinkt innewohnt. Der Unterschied zwischen der Religion eines Jesaja oder Paulus und der des Animisten
besteht natürlich darin, daß der eine die Wahrheit hat und der
andere nicht; letzterer besitzt lediglich den ahnungsvollen Instinkt. Er fühlt einen unbekannten Gott. Ein Jesaja aber und ein
Paulus haben den wahren Gott durch seine Selbstäußerung in der
Heiligen Schrift gefunden.
Das Erahnen des großen Mysteriums ist für die menschliche
Natur grundlegend und für den Glauben unentbehrlich, aber sie
genügt nicht. Wohl läßt sie die Menschen flüstern: »Dieses
fürchterliche Etwas!« Aber sie rufen nicht aus: »Du mein Heiliger!« In der jüdischen wie auch in der christlichen Bibel setzt Gott
123
seine Selbstoffenbarung fort und macht sich persönlich bekannt.
Seine Gegenwart wird nicht als ein Etwas, als ein Ding dargestellt,
sondern als ein persönliches Wesen mit allen Eigenschaften einer
echten Persönlichkeit. Ja, noch mehr: Dieses Wesen ist voll
Gerechtigkeit, Reinheit, Geradheit und unbegreiflicher Heiligkeit. Und in alledem ist er unerschaffen, genügt sich selbst und ist
weder mit dem menschlichen Denkvermögen zu erfassen noch mit
dem menschlichen Sprach vermögen auszudrücken.
Durch die Selbstoffenbarung Gottes in der Heiligen Schrift und
durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes gewinnt der Gläubige
alles und verliert nichts. Seiner Gottesvorstellung wird das Doppelkonzept von Persönlichkeit und sittlichem Charakter hinzugefügt. Das ursprüngliche Empfinden von Staunen und Ehrfurcht in
der Gegenwart des welterfüllten Mysteriums aber bleibt. Heute
hüpft vielleicht sein Herz, und er ruft vor lauter Freude: »Abba,
lieber Vater, mein Herr und mein Gott!« Morgen kniet er
vielleicht mit verzücktem Zittern nieder, um den Hohen und
Erhabenen, dessen Wohnung die Ewigkeit ist, zu bestaunen und
anzubeten.
Heiligkeit ist Gottes Art. Um heilig zu sein, richtet er sich nicht
nach einem Maßstab. Er selbst ist sich der Maßstab. Seine
absolute Heiligkeit ist von einer unendlichen, unfaßbaren Reinheitsfülle, die unfähig ist, etwas anderes zu sein, als sie ist. Weil er
heilig ist, sind auch alle seine Eigenschaften heilig. Das heißt,
alles, was wir Gott zuschreiben, müssen wir uns heilig vorstellen.
Gott ist heilig, und er hat Heiligkeit zur moralischen Bedingung
für das Wohl seines Universums gemacht. Die einstweilige Gegenwart der Sünde in der Welt betont dies nur. Was heilig ist, ist auch
gesund. Das Böse ist eine Krankheit, die schließlich zum Tode
führen muß. Auch im Sprachlichen kommt das zum Ausdruck, hat
doch das Wort heilig die gleiche sprachliche Wurzel wie das Wort
heil, das soviel wie gesund, ganz, bedeutet.
Da es Gott im Blick auf seine Welt in erster Linie um deren
Übereinstimmung mit seiner Lebensordnung, das heißt um Heiligkeit, geht, zieht alles, was im Gegensatz dazu steht, sein ewiges
Mißfallen auf sich. Um seine Schöpfung zu erhalten, muß Gott
alles zunichte machen, was diese zerstören würde. Wenn er sich
erhebt, um der Sünde entgegenzutreten und die Welt vor einem
124
nicht wiedergutzumachenden Zusammenbruch zu retten, dann
wird er in der Bibel als zornig beschrieben. Jedes Zorngericht in
der Weltgeschichte stellt einen heiligen Akt der Erhaltung dar.
Die Heiligkeit Gottes, der Zorn Gottes und das Wohl der
Schöpfung sind unzertrennbar vereint. Gottes Zorn ist seine
völlige Unduldsamkeit allem gegenüber, was verdirbt und zerstört. Er haßt die Sünde, wie eine Mutter die Krankheit haßt, die
das Leben ihres Kindes bedroht.
Gottes Heiligkeit ist absolut und kennt keine Abstufungen. Das
ist etwas, das er nicht auf seine Geschöpfe übertragen kann. Aber
es gibt eine relative und bedingte Heiligkeit, die er sowohl seinen
Engeln und Seraphim im Himmel wie auch erlösten Menschen auf
Erden schenkt, und zwar durch Zurechnung und Mitteilung. Weil
er sie ihnen zugänglich gemacht hat durch das Blut des Lammes,
fordert er sie auch von ihnen. Zuerst zu Israel und später zu seiner
Gemeinde sagte Gott: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig«
(3 Mo 19,2; 1 Petr 1,16). Er sagte nicht: »Seid heilig, wie ich heilig
bin«, denn das hieße, von uns absolute Heiligkeit zu verlangen,
die ja nur Gott allein besitzt. Vor dem unerschaffenen Feuer der
göttlichen Heiligkeit verhüllen die Engel ihr Antlitz. Nicht einmal
die Himmel und die Sterne sind rein vor seinem Angesicht. Kein
ehrlicher Mensch kann behaupten: »Ich bin heilig.« Aber ebensowenig ist ein ehrlicher Mensch bereit, die ernsten Worte des
inspirierten Schreibers zu ignorieren: »Jagt dem Frieden nach mit
jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen
wird« (Hebr 12,14).
Was sollen wir Gläubigen in diesem Dilemma, in dem wir uns
befinden, tun? Wir müssen uns, ähnlich wie Mose, mit Glaube und
Demut bedecken, während wir einen raschen Blick auf den Gott
werfen, den kein Mensch sehen und dabei am Leben bleiben
kann. Das zerbrochene und zerschlagene Herz wird er nicht
verachten. Wir müssen unsere Unheiligkeit in den Wunden
Christi verbergen, so wie Mose sich in der Felsenkluft verbarg,
während die Herrlichkeit Gottes an ihm vorüberzog. Wir müssen
von Gott zu Gott flüchten. Vor allem jedoch müssen wir glauben,
daß Gott in uns seinem Sohn als vollkommen ansieht. Daneben
züchtigt und reinigt er uns, damit wir Teilhaber seiner Heiligkeit
sind.
125
Durch Glauben und Gehorsam, durch anhaltendes Nachdenken über die Heiligkeit Gottes, durch Gerechtigkeitsliebe und
Sündenabscheu, durch wachsende Vertrautheit mit dem Geiste
der Heiligkeit können wir in der Gemeinschaft der Heiligen auf
Erden leben und uns für das ewige Leben vorbereiten. Auf diese
Weise haben die Gläubigen, wenn sie sich versammeln, sozusagen
einen Himmel, in dem sie sich auf den Himmel vorbereiten.
Wie erhaben ist Deine Allgegenwart,
Du ewiger Herr!
Von gebeugten Seelen wird sie Tag und Nacht
Ohne Unterlaß gepriesen.
Wie schön, wie schön
Muß es sein, Dich zu sehen,
Deine endlose Weisheit, grenzenlose Macht
Und ehrfurchterregende Reinheit!
Ach, wie ich Dich fürchte, lebendiger Gott!
Mit tiefsten Ängsten, mit zitternder Hoffnung
Und mit bußfertigen Tränen bete ich Dich an.
FREDERICK W. FABE
Ehre sei Gott in der Höhe! Wir preisen Dich, wir loben
Dich, wir beten Dich an um Deiner großen Herrlichkeit
willen. Herr, ich redete Dinge, die ich nicht verstand,
Dinge, zu wunderbar für mich, als daß ich sie begriff. Ich
hatte von Dir vom Hörensagen vernommen, nun aber
sieht mein Auge Dich, und ich tue Buße in Staub und
Asche. O Herr, ich will meine Hand auf meinen Mund
legen. Einmal habe ich geredet, ein zweites Mal und will's
nicht wieder tun. Aber während ich nachdachte, brannte
das Feuer. Ich muß von Dir reden, damit ich mit meinem
Schweigen nicht gegen diese Generation Deiner Kinder
sündige.
Siehe, was töricht ist vor der Welt, hast Du erwählt, damit
Du die Weisen zuschanden machst, und was schwach ist
vor der Welt, um das, was stark ist, zuschanden zu
machen. O Herr, vergiß mich nicht. Laß mich Deine
Stärke und Deine Macht dieser Generation und jeder
zukünftigen bezeugen. Erwecke Propheten und Seher in
Deiner Gemeinde, die Deine Herrlichkeit rühmen, und
stelle durch Deinen allmächtigen Geist die Erkenntnis des
Heiligen unter Deinem Volke wieder her. Amen.
Der Schock, den wir durch unsern furchtbaren Bruch mit dem
göttlichen Willen erlitten haben, hat in uns allen ein bleibendes
Trauma zurückgelassen, das jedes Teil unseres Seins berührt.
Sowohl in uns wie in unserer Umwelt sitzt eine Krankheit.
Das Bewußtsein seiner eigenen Verderbtheit kam wie ein Blitz
vom Himmel über den zitternden Jesaja in dem Moment, als er die
überwältigende Schau der Herrlichkeit Gottes empfing. Sein
schmerzerfüllter Schrei: »Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin
unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen
Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen
mit meinen Augen« (Jes 6,5), drückt die Gefühle eines jeden aus,
121
der sich selbst unter seiner Verkleidung erkannt hat und durch ein
inneres Schauen mit der heiligen Reinheit Gottes konfrontiert
worden ist. Es kann gar nicht anders sein, als daß eine solche
Erfahrung von einer heftigen Gefühlsregung begleitet wird.
Bevor wir uns selbst nicht gesehen haben, wie Gott uns sieht,
lassen wir uns nicht so leicht durch äußere Umstände aus der Ruhe
bringen; erst, wenn sie unseren bequemen Lebensstil bedrohen,
werden wir aktiv. Wir haben gelernt, mit Unheiligkeit zu leben,
und sind so weit gekommen, sie als etwas ganz Natürliches und
Alltägliches zu betrachten. Wir sind nicht darüber enttäuscht, daß
wir nicht die ganze Wahrheit bei den Lehrern, Gewissenhaftigkeit
bei den Politikern, Ehrlichkeit bei den Kaufleuten oder volle
Vertrauenswürdigkeit bei unsern Freunden finden. Um die Fortdauer unserer Existenz zu sichern, erfinden wir Gesetze, um uns
vor unsern Mitmenschen zu schützen, und lassen es dabei bewenden.
Weder der Verfasser noch der Leser dieses Buches ist von sich
aus fähig, die Heiligkeit Gottes zu würdigen. So etwas wie ein
neuer Kanal muß durch die Wüste unseres Sinnes gegraben
werden, damit das köstliche Wasser der Wahrheit, das unsere
schwere Krankheit heilen will, hineinfließen kann. Wir erfassen
den wahren Sinn göttlicher Heiligkeit nicht, indem wir einfach an
etwas oder jemand sehr Reinen denken und dann diese Vorstellung im höchsten Maße veredeln. Gottes Heiligkeit ist keine
unendliche Verbesserung des Besten, das wir kennen. Uns ist
etwas der göttlichen Heiligkeit Ähnliches gar nicht bekannt. Sie ist
etwas ganz Besonderes: einzigartig, unnahbar, unbegreiflich und
unerreichbar. Der natürliche Mensch ist blind dafür. Er fürchtet
vielleicht Gottes Macht und bestaunt seine Weisheit, doch seine
Heiligkeit kann er sich nicht einmal vorstellen.
Nur der Geist des Heiligen kann dem menschlichen Geist die
Erkenntnis des Heiligen vermitteln. Aber wie der elektrische
Strom nur durch eine Leitung fließt, so fließt der Geist Gottes
durch die Wahrheit. Er muß ein gewisses Maß an Wahrheit im
Geist eines Menschen vorfinden, ehe er das Herz erleuchten kann.
Glaube wird nur durch die Stimme der Wahrheit geweckt. »So
kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das
Wort Christi« (Rom 10,17). Theologisches Wissen ist gleichsam
122
das Medium, durch welches der Geist ins menschliche Herz
strömt; aber es setzt demütige Reue voraus, bevor die Wahrheit
Glauben wecken kann. Der Geist Gottes ist der Geist der
Wahrheit. Es ist möglich, etwas von der Wahrheit im Kopf zu
haben, ohne den Geist im Herzen zu haben. Aber es ist unmöglich, den Geist ohne die Wahrheit zu haben.
In seiner eingehenden Studie »Das Heilige« bringt Rudolf Otto
beachtenswerte Beweise für das Vorhandensein einer Ahnung im
menschlichen Geiste, daß es in der Welt ein unbestimmtes,
unfaßbares Etwas gibt, das Mysterium Tremendum, das furchteinflößende Geheimnisvolle, welches das Universum umfaßt und
durchdringt. Dieses ist ein Schrecken hervorbringendes Etwas,
das nie verstandesmäßig wahrgenommen, sondern nur in den
Tiefen des Menschengeistes erahnt und erfühlt werden kann. Es
besteht weiter als ein bleibender religiöser Instinkt, ein Gefühl für
jene namenlose, unauffindbare Gegenwart, die »quecksilbergleich in den Adern der Schöpfung pulst« und manchmal den
Verstand wie betäubt, indem es diesem mit einer übernatürlichen,
überverstandesmäßigen Kundgebung seiner selbst gegenübertritt.
Der von ihm überwältigte Mensch wird ganz klein und kann nur
zittern und schweigen.
Dieser nicht aus der Vernunft stammende Schrecken, diese
Ahnung eines nichtkreatürlichen Weltgeheimnisses, bildet den
Urgrund aller Religionen. Die reine Religion, wie wir sie in der
Bibel finden, existiert ebenso wie der niedrigste Animismus des
nackten Eingeborenen nur deshalb, weil der menschlichen Natur
dieser grundlegende Instinkt innewohnt. Der Unterschied zwischen der Religion eines Jesaja oder Paulus und der des Animisten
besteht natürlich darin, daß der eine die Wahrheit hat und der
andere nicht; letzterer besitzt lediglich den ahnungsvollen Instinkt. Er fühlt einen unbekannten Gott. Ein Jesaja aber und ein
Paulus haben den wahren Gott durch seine Selbstäußerung in der
Heiligen Schrift gefunden.
Das Erahnen des großen Mysteriums ist für die menschliche
Natur grundlegend und für den Glauben unentbehrlich, aber sie
genügt nicht. Wohl läßt sie die Menschen flüstern: »Dieses
fürchterliche Etwas!« Aber sie rufen nicht aus: »Du mein Heiliger!« In der jüdischen wie auch in der christlichen Bibel setzt Gott
123
seine Selbstoffenbarung fort und macht sich persönlich bekannt.
Seine Gegenwart wird nicht als ein Etwas, als ein Ding dargestellt,
sondern als ein persönliches Wesen mit allen Eigenschaften einer
echten Persönlichkeit. Ja, noch mehr: Dieses Wesen ist voll
Gerechtigkeit, Reinheit, Geradheit und unbegreiflicher Heiligkeit. Und in alledem ist er unerschaffen, genügt sich selbst und ist
weder mit dem menschlichen Denkvermögen zu erfassen noch mit
dem menschlichen Sprach vermögen auszudrücken.
Durch die Selbstoffenbarung Gottes in der Heiligen Schrift und
durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes gewinnt der Gläubige
alles und verliert nichts. Seiner Gottesvorstellung wird das Doppelkonzept von Persönlichkeit und sittlichem Charakter hinzugefügt. Das ursprüngliche Empfinden von Staunen und Ehrfurcht in
der Gegenwart des welterfüllten Mysteriums aber bleibt. Heute
hüpft vielleicht sein Herz, und er ruft vor lauter Freude: »Abba,
lieber Vater, mein Herr und mein Gott!« Morgen kniet er
vielleicht mit verzücktem Zittern nieder, um den Hohen und
Erhabenen, dessen Wohnung die Ewigkeit ist, zu bestaunen und
anzubeten.
Heiligkeit ist Gottes Art. Um heilig zu sein, richtet er sich nicht
nach einem Maßstab. Er selbst ist sich der Maßstab. Seine
absolute Heiligkeit ist von einer unendlichen, unfaßbaren Reinheitsfülle, die unfähig ist, etwas anderes zu sein, als sie ist. Weil er
heilig ist, sind auch alle seine Eigenschaften heilig. Das heißt,
alles, was wir Gott zuschreiben, müssen wir uns heilig vorstellen.
Gott ist heilig, und er hat Heiligkeit zur moralischen Bedingung
für das Wohl seines Universums gemacht. Die einstweilige Gegenwart der Sünde in der Welt betont dies nur. Was heilig ist, ist auch
gesund. Das Böse ist eine Krankheit, die schließlich zum Tode
führen muß. Auch im Sprachlichen kommt das zum Ausdruck, hat
doch das Wort heilig die gleiche sprachliche Wurzel wie das Wort
heil, das soviel wie gesund, ganz, bedeutet.
Da es Gott im Blick auf seine Welt in erster Linie um deren
Übereinstimmung mit seiner Lebensordnung, das heißt um Heiligkeit, geht, zieht alles, was im Gegensatz dazu steht, sein ewiges
Mißfallen auf sich. Um seine Schöpfung zu erhalten, muß Gott
alles zunichte machen, was diese zerstören würde. Wenn er sich
erhebt, um der Sünde entgegenzutreten und die Welt vor einem
124
nicht wiedergutzumachenden Zusammenbruch zu retten, dann
wird er in der Bibel als zornig beschrieben. Jedes Zorngericht in
der Weltgeschichte stellt einen heiligen Akt der Erhaltung dar.
Die Heiligkeit Gottes, der Zorn Gottes und das Wohl der
Schöpfung sind unzertrennbar vereint. Gottes Zorn ist seine
völlige Unduldsamkeit allem gegenüber, was verdirbt und zerstört. Er haßt die Sünde, wie eine Mutter die Krankheit haßt, die
das Leben ihres Kindes bedroht.
Gottes Heiligkeit ist absolut und kennt keine Abstufungen. Das
ist etwas, das er nicht auf seine Geschöpfe übertragen kann. Aber
es gibt eine relative und bedingte Heiligkeit, die er sowohl seinen
Engeln und Seraphim im Himmel wie auch erlösten Menschen auf
Erden schenkt, und zwar durch Zurechnung und Mitteilung. Weil
er sie ihnen zugänglich gemacht hat durch das Blut des Lammes,
fordert er sie auch von ihnen. Zuerst zu Israel und später zu seiner
Gemeinde sagte Gott: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig«
(3 Mo 19,2; 1 Petr 1,16). Er sagte nicht: »Seid heilig, wie ich heilig
bin«, denn das hieße, von uns absolute Heiligkeit zu verlangen,
die ja nur Gott allein besitzt. Vor dem unerschaffenen Feuer der
göttlichen Heiligkeit verhüllen die Engel ihr Antlitz. Nicht einmal
die Himmel und die Sterne sind rein vor seinem Angesicht. Kein
ehrlicher Mensch kann behaupten: »Ich bin heilig.« Aber ebensowenig ist ein ehrlicher Mensch bereit, die ernsten Worte des
inspirierten Schreibers zu ignorieren: »Jagt dem Frieden nach mit
jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen
wird« (Hebr 12,14).
Was sollen wir Gläubigen in diesem Dilemma, in dem wir uns
befinden, tun? Wir müssen uns, ähnlich wie Mose, mit Glaube und
Demut bedecken, während wir einen raschen Blick auf den Gott
werfen, den kein Mensch sehen und dabei am Leben bleiben
kann. Das zerbrochene und zerschlagene Herz wird er nicht
verachten. Wir müssen unsere Unheiligkeit in den Wunden
Christi verbergen, so wie Mose sich in der Felsenkluft verbarg,
während die Herrlichkeit Gottes an ihm vorüberzog. Wir müssen
von Gott zu Gott flüchten. Vor allem jedoch müssen wir glauben,
daß Gott in uns seinem Sohn als vollkommen ansieht. Daneben
züchtigt und reinigt er uns, damit wir Teilhaber seiner Heiligkeit
sind.
125
Durch Glauben und Gehorsam, durch anhaltendes Nachdenken über die Heiligkeit Gottes, durch Gerechtigkeitsliebe und
Sündenabscheu, durch wachsende Vertrautheit mit dem Geiste
der Heiligkeit können wir in der Gemeinschaft der Heiligen auf
Erden leben und uns für das ewige Leben vorbereiten. Auf diese
Weise haben die Gläubigen, wenn sie sich versammeln, sozusagen
einen Himmel, in dem sie sich auf den Himmel vorbereiten.
Wie erhaben ist Deine Allgegenwart,
Du ewiger Herr!
Von gebeugten Seelen wird sie Tag und Nacht
Ohne Unterlaß gepriesen.
Wie schön, wie schön
Muß es sein, Dich zu sehen,
Deine endlose Weisheit, grenzenlose Macht
Und ehrfurchterregende Reinheit!
Ach, wie ich Dich fürchte, lebendiger Gott!
Mit tiefsten Ängsten, mit zitternder Hoffnung
Und mit bußfertigen Tränen bete ich Dich an.
FREDERICK W. FABE
Sulzbacher 27.08.2021 11:44
Die Gerechtigkeit Gottes
Unser Vater, wir lieben Dich wegen Deiner Gerechtigkeit.
Wir erkennen, daß Deine Gerichte durch und durch wahr
und gerecht sind. Deine Gerechtigkeit erhält die Ordnung
im All aufrecht und gewährleistet die Sicherheit aller, die
ihr Vertrauen in Dich setzen. Wir leben, weil Du gerecht
bist und barmherzig. Heilig, heilig, heilig, Herr, allmächtiger Gott, gerecht in all Deinen Wegen und heilig in all
Deinen Werken. Amen.
Das Alte Testament spricht klar und eingehend von der Gerechtigkeit Gottes, und dies in einer so schönen Weise, wie es sonst in
der Literatur nie zu finden ist. Als die Zerstörung Sodoms
angekündigt wurde, trat Abraham für die Gerechten in der Stadt
ein und erinnerte Gott daran, daß er in einer solchen menschlichen Notlage ebenso handeln würde. »Das sei ferne von dir, daß
du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß
der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir!
Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« (1 Mo 18,25).
Die Psalmisten und Propheten Israels erkannten in Gott einen
allmächtigen, hoch erhöhten und unparteiisch regierenden Herrscher. »Wolken und Dunkel sind um ihn her, Gerechtigkeit und
Gericht sind seines Thrones Stütze« (Ps 97,2). Über den langersehnten Messias wurde prophezeit, er werde bei seinem Erscheinen das Volk mit Gerechtigkeit richten. Heilige Menschen,
sonst voll zarten Mitgefühls, beteten, erzürnt über die Ungerechtigkeit der in der Welt Herrschenden: »Herr, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, du Richter
der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen! Herr, wie
lange sollen die Gottlosen, wie lange sollen die Gottlosen prahlen?« (Ps 94,1-3). Und diese Bitte ist nicht etwa als Ausdruck eines
persönlichen Rachegefühls zu verstehen, sondern als Ausdruck der
Sehnsucht nach Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft.
Männer wie David und Daniel bekannten angesichts der Ge100
rechtigkeit Gottes ihre eigene Ungerechtigkeit, und dadurch
gewannen ihre bußfertigen Gebete große Vollmacht und Wirksamkeit. »Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns alle heute
schämen« (Dan 9,7). Als das lange zurückgehaltene Gericht
Gottes über die Welt kommt, sieht Johannes die Schar der
Überwinder am gläsernen, mit Feuer vermengten Meer stehen. In
ihren Händen halten sie die Harfen Gottes. Sie singen das Lied des
Moses und das Lied des Lammes, und das Thema ihres Gesanges
ist die göttliche Gerechtigkeit: »Groß und wunderbar sind deine
Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind
deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht
fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist
heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn
deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden« (Offb 15,3 f.).
Gerechtigkeit verkörpert die Idee moralischer Unparteilichkeit,
und Ungerechtigkeit ist das genaue Gegenteil davon. So ist
f/ngerechtigkeit menschliches Denken und Tun ohne Gerechtigkeit. Gericht bedeutet die Ausführung der Gerechtigkeit in
bestimmten Situationen und kann vorteilhaft oder unvorteilhaft
ausfallen, je nachdem ob der Betroffene in seinem Herzen und
Wandel gerecht oder ungerecht gewesen ist.
Manchmal heißt es: »Die Gerechtigkeit fordert von Gott, so zu
handeln.« Das ist eine falsche Denk- und Ausdrucksweise; denn
dies würde bedeuten, daß es neben Gott noch andere Rechtsgrundsätze gäbe, die ihn zu einer bestimmten Handlungsweise
zwingen. Solche Grundsätze gibt es natürlich nicht. Und wenn es
sie gäbe, würden sie über Gott stehen, denn nur eine höhere
Macht kann Gehorsam fordern. In Wahrheit kann es nie etwas
neben Gottes Natur geben, das ihn in irgendeiner Weise nötigen
könnte. All seine Beweggründe entspringen seinem göttlichen
Wesen. Nichts ist in Ewigkeit zum Wesen Gottes hinzugetan
worden, nichts ist davon entfernt worden, und nichts hat sich
verändert.
Wenn wir das Wort Gerechtigkeit in bezug auf Gott gebrauchen, so nennen wir damit eine göttliche Eigenschaft. Und wenn
Gott gerecht handelt, so tut er es nicht, um einem objektiven
Maßstab gerecht zu werden, sondern er verhält sich einfach
seinem Wesen gemäß. So wie Gold nie in einer anderen Form als
101
Gold gefunden werden kann und sich nie verändert, so ist Gott
Gott - immer, ausschließlich, völlig Gott. Er kann nie etwas
anderes sein als das, was er ist. Alles im Universum ist nur so gut,
wie es auf die Natur Gottes ausgerichtet ist, und es ist böse, wenn
diese Ausrichtung nicht vorhanden ist. Gott ist sich selbst ein
Gerechtigkeitsmaßstab, und wenn er böse Menschen richtet oder
die Gerechten belohnt, handelt er nur seinem innersten Wesen
entsprechend und ohne jegliche Beeinflussung von außen.
Alles dies scheint die Hoffnung auf Rechtfertigung des umkehrenden Sünders zunichte zu machen. Der christliche Philosoph
und Theologe Anselm von Canterbury versuchte, den scheinbaren Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit und dem Erbarmen
Gottes aufzulösen. »Jedoch wie schonst du die Bösen«, will er von
Gott wissen, »wenn du ganz gerecht und höchst gerecht bist?«24
Dann blickte er in Erwartung einer Antwort direkt auf Gott; denn
er wußte, daß er sie im Wesen Gottes finden konnte. Anselms
Erkenntnisse können wie folgt umschrieben werden: Gottes Wesen ist eins. Es besteht nicht aus einer Anzahl von Teilen und
Gliedern, die harmonisch zusammenwirken, sondern aus einem.
Seine Gerechtigkeit schließt in keiner Weise sein Erbarmen aus.
Von Gott so zu denken, wie wir uns manchmal einen freundlichen
Richter vorstellen, der, durch das Gesetz gezwungen, unter
Tränen und sich halb entschuldigend einen Menschen zum Tode
verurteilt, ist des wahren Gottes gänzlich unwürdig. Gott kennt
keinen inneren Zwiespalt. Keine Eigenschaft Gottes steht im
Konflikt mit einer anderen.
Gottes Mitleid liegt in seiner Güte begründet, und Güte ohne
Gerechtigkeit ist keine Güte. Gott verschont uns, weil er gütig ist,
aber er könnte nicht gütig sein, wenn er nicht gerecht wäre. Wenn
Gott die Bösen bestraft, so folgert Anselm, dann deshalb, weil es
ihrer Bosheit entspricht; und wenn er die Bösen verschont, dann
deshalb, weil es mit seiner Güte vereinbar ist. So tut Gott also, was
ihm als dem in höchstem Grade gütigen Gott zusteht. Hier sucht
der Verstand zu verstehen, nicht um zu glauben, sondern weil er
schon glaubt.
Eine einfachere und vertrautere Lösung des Problems, wie Gott
gerecht sein kann und dennoch den Ungerechten gerechtspricht,
findet sich in der christlichen Erlösungslehre. Hier heißt es, daß
102
aufgrund des Sühnewerkes Christi die Gerechtigkeit nicht vergewaltigt wird, wenn Gott einen Sünder verschont, sondern daß ihr
Genüge getan wird. Die Theologie der Erlösung lehrt, daß das
Erbarmen über den Menschen nicht wirksam wird, bis die Gerechtigkeit ihr Werk getan hat. Die gerechte Strafe für die Sünde
wurde vollzogen, als Christus, unser Stellvertreter, für uns am
Kreuz starb. So unangenehm das in den Ohren des natürlichen
Menschen klingen mag, so lieblich ist es für die Ohren des
Glaubenden. Millionen von Menschen sind durch diese Botschaft
moralisch und geistlich umgewandelt worden, haben ein von
großer sittlicher Kraft getragenes Leben geführt und sind schließlich im Vertrauen darauf im Frieden gestorben.
Daß der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und nun das
Erbarmen handelt, ist mehr als willkommene theologische Theorie. Es bedeutet vielmehr die Verkündigung einer Tatsache, die
aufgrund unserer großen menschlichen Not zu einer Notwendigkeit geworden ist. Durch unsere Sünde schwebt über uns allen ein
Todesurteil; wir sind unter einem Gericht, das herbeigeführt
wurde, als die Gerechtigkeit mit unserer moralischen Situation
konfrontiert wurde. Als die unendliche Gerechtigkeit mit unserer
chronischen und willentlichen Ungerechtigkeit zusammenstieß,
kam es zwischen den beiden zu einem heftigen Kampf, den Gott
gewann und immer gewinnen muß. Doch wenn der reuige Sünder
sich auf Christus und sein Heil stützt, wird die moralische Situation umgekehrt. Die Gerechtigkeit wird mit der veränderten
Situation konfrontiert und spricht den glaubenden Menschen
gerecht. Auf diese Weise tritt die Gerechtigkeit tatsächlich auf
die Seite derer, die auf Gott als seine Kinder vertrauen. Das ist
der Sinn jener kühnen Worte des Apostels Johannes: »Wenn wir
aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er
uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit« (1 Jo 1,9).
Aber Gottes Gerechtigkeit wird gegen den Sünder immer in
äußerster Strenge Stellung nehmen. Die vage und klägliche
Hoffnung, daß Gott zu gütig sei, um die Gottlosen zu strafen, ist
zu einem tödlichen Betäubungsmittel für das Gewissen von Millionen von Menschen geworden. Sie beschwichtigt ihre Befürchtungen und gestattet ihnen, alle Schlechtigkeit zu praktizieren,
103
während der Tod jeden Tag näher rückt und der Befehl zur Buße
unbeachtet verhallt. Als verantwortliche sittliche Wesen dürften
wir es nicht wagen, so mit unserem ewigen Schicksal zu spielen!
Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich zum Himmel werd eingehn.
Drum soll auch dieses Blut allein
Mein Trost und meine Hoffnung sein;
Ich bau im Leben und im Tod
Allein auf Jesu Wunden rot.
Strophe I: GRAF N. L. VON ZINZENDORF
Strophe II: CHRISTIAN GREGOR
Unser Vater, wir lieben Dich wegen Deiner Gerechtigkeit.
Wir erkennen, daß Deine Gerichte durch und durch wahr
und gerecht sind. Deine Gerechtigkeit erhält die Ordnung
im All aufrecht und gewährleistet die Sicherheit aller, die
ihr Vertrauen in Dich setzen. Wir leben, weil Du gerecht
bist und barmherzig. Heilig, heilig, heilig, Herr, allmächtiger Gott, gerecht in all Deinen Wegen und heilig in all
Deinen Werken. Amen.
Das Alte Testament spricht klar und eingehend von der Gerechtigkeit Gottes, und dies in einer so schönen Weise, wie es sonst in
der Literatur nie zu finden ist. Als die Zerstörung Sodoms
angekündigt wurde, trat Abraham für die Gerechten in der Stadt
ein und erinnerte Gott daran, daß er in einer solchen menschlichen Notlage ebenso handeln würde. »Das sei ferne von dir, daß
du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß
der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir!
Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« (1 Mo 18,25).
Die Psalmisten und Propheten Israels erkannten in Gott einen
allmächtigen, hoch erhöhten und unparteiisch regierenden Herrscher. »Wolken und Dunkel sind um ihn her, Gerechtigkeit und
Gericht sind seines Thrones Stütze« (Ps 97,2). Über den langersehnten Messias wurde prophezeit, er werde bei seinem Erscheinen das Volk mit Gerechtigkeit richten. Heilige Menschen,
sonst voll zarten Mitgefühls, beteten, erzürnt über die Ungerechtigkeit der in der Welt Herrschenden: »Herr, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, du Richter
der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen! Herr, wie
lange sollen die Gottlosen, wie lange sollen die Gottlosen prahlen?« (Ps 94,1-3). Und diese Bitte ist nicht etwa als Ausdruck eines
persönlichen Rachegefühls zu verstehen, sondern als Ausdruck der
Sehnsucht nach Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft.
Männer wie David und Daniel bekannten angesichts der Ge100
rechtigkeit Gottes ihre eigene Ungerechtigkeit, und dadurch
gewannen ihre bußfertigen Gebete große Vollmacht und Wirksamkeit. »Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns alle heute
schämen« (Dan 9,7). Als das lange zurückgehaltene Gericht
Gottes über die Welt kommt, sieht Johannes die Schar der
Überwinder am gläsernen, mit Feuer vermengten Meer stehen. In
ihren Händen halten sie die Harfen Gottes. Sie singen das Lied des
Moses und das Lied des Lammes, und das Thema ihres Gesanges
ist die göttliche Gerechtigkeit: »Groß und wunderbar sind deine
Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind
deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht
fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist
heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn
deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden« (Offb 15,3 f.).
Gerechtigkeit verkörpert die Idee moralischer Unparteilichkeit,
und Ungerechtigkeit ist das genaue Gegenteil davon. So ist
f/ngerechtigkeit menschliches Denken und Tun ohne Gerechtigkeit. Gericht bedeutet die Ausführung der Gerechtigkeit in
bestimmten Situationen und kann vorteilhaft oder unvorteilhaft
ausfallen, je nachdem ob der Betroffene in seinem Herzen und
Wandel gerecht oder ungerecht gewesen ist.
Manchmal heißt es: »Die Gerechtigkeit fordert von Gott, so zu
handeln.« Das ist eine falsche Denk- und Ausdrucksweise; denn
dies würde bedeuten, daß es neben Gott noch andere Rechtsgrundsätze gäbe, die ihn zu einer bestimmten Handlungsweise
zwingen. Solche Grundsätze gibt es natürlich nicht. Und wenn es
sie gäbe, würden sie über Gott stehen, denn nur eine höhere
Macht kann Gehorsam fordern. In Wahrheit kann es nie etwas
neben Gottes Natur geben, das ihn in irgendeiner Weise nötigen
könnte. All seine Beweggründe entspringen seinem göttlichen
Wesen. Nichts ist in Ewigkeit zum Wesen Gottes hinzugetan
worden, nichts ist davon entfernt worden, und nichts hat sich
verändert.
Wenn wir das Wort Gerechtigkeit in bezug auf Gott gebrauchen, so nennen wir damit eine göttliche Eigenschaft. Und wenn
Gott gerecht handelt, so tut er es nicht, um einem objektiven
Maßstab gerecht zu werden, sondern er verhält sich einfach
seinem Wesen gemäß. So wie Gold nie in einer anderen Form als
101
Gold gefunden werden kann und sich nie verändert, so ist Gott
Gott - immer, ausschließlich, völlig Gott. Er kann nie etwas
anderes sein als das, was er ist. Alles im Universum ist nur so gut,
wie es auf die Natur Gottes ausgerichtet ist, und es ist böse, wenn
diese Ausrichtung nicht vorhanden ist. Gott ist sich selbst ein
Gerechtigkeitsmaßstab, und wenn er böse Menschen richtet oder
die Gerechten belohnt, handelt er nur seinem innersten Wesen
entsprechend und ohne jegliche Beeinflussung von außen.
Alles dies scheint die Hoffnung auf Rechtfertigung des umkehrenden Sünders zunichte zu machen. Der christliche Philosoph
und Theologe Anselm von Canterbury versuchte, den scheinbaren Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit und dem Erbarmen
Gottes aufzulösen. »Jedoch wie schonst du die Bösen«, will er von
Gott wissen, »wenn du ganz gerecht und höchst gerecht bist?«24
Dann blickte er in Erwartung einer Antwort direkt auf Gott; denn
er wußte, daß er sie im Wesen Gottes finden konnte. Anselms
Erkenntnisse können wie folgt umschrieben werden: Gottes Wesen ist eins. Es besteht nicht aus einer Anzahl von Teilen und
Gliedern, die harmonisch zusammenwirken, sondern aus einem.
Seine Gerechtigkeit schließt in keiner Weise sein Erbarmen aus.
Von Gott so zu denken, wie wir uns manchmal einen freundlichen
Richter vorstellen, der, durch das Gesetz gezwungen, unter
Tränen und sich halb entschuldigend einen Menschen zum Tode
verurteilt, ist des wahren Gottes gänzlich unwürdig. Gott kennt
keinen inneren Zwiespalt. Keine Eigenschaft Gottes steht im
Konflikt mit einer anderen.
Gottes Mitleid liegt in seiner Güte begründet, und Güte ohne
Gerechtigkeit ist keine Güte. Gott verschont uns, weil er gütig ist,
aber er könnte nicht gütig sein, wenn er nicht gerecht wäre. Wenn
Gott die Bösen bestraft, so folgert Anselm, dann deshalb, weil es
ihrer Bosheit entspricht; und wenn er die Bösen verschont, dann
deshalb, weil es mit seiner Güte vereinbar ist. So tut Gott also, was
ihm als dem in höchstem Grade gütigen Gott zusteht. Hier sucht
der Verstand zu verstehen, nicht um zu glauben, sondern weil er
schon glaubt.
Eine einfachere und vertrautere Lösung des Problems, wie Gott
gerecht sein kann und dennoch den Ungerechten gerechtspricht,
findet sich in der christlichen Erlösungslehre. Hier heißt es, daß
102
aufgrund des Sühnewerkes Christi die Gerechtigkeit nicht vergewaltigt wird, wenn Gott einen Sünder verschont, sondern daß ihr
Genüge getan wird. Die Theologie der Erlösung lehrt, daß das
Erbarmen über den Menschen nicht wirksam wird, bis die Gerechtigkeit ihr Werk getan hat. Die gerechte Strafe für die Sünde
wurde vollzogen, als Christus, unser Stellvertreter, für uns am
Kreuz starb. So unangenehm das in den Ohren des natürlichen
Menschen klingen mag, so lieblich ist es für die Ohren des
Glaubenden. Millionen von Menschen sind durch diese Botschaft
moralisch und geistlich umgewandelt worden, haben ein von
großer sittlicher Kraft getragenes Leben geführt und sind schließlich im Vertrauen darauf im Frieden gestorben.
Daß der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und nun das
Erbarmen handelt, ist mehr als willkommene theologische Theorie. Es bedeutet vielmehr die Verkündigung einer Tatsache, die
aufgrund unserer großen menschlichen Not zu einer Notwendigkeit geworden ist. Durch unsere Sünde schwebt über uns allen ein
Todesurteil; wir sind unter einem Gericht, das herbeigeführt
wurde, als die Gerechtigkeit mit unserer moralischen Situation
konfrontiert wurde. Als die unendliche Gerechtigkeit mit unserer
chronischen und willentlichen Ungerechtigkeit zusammenstieß,
kam es zwischen den beiden zu einem heftigen Kampf, den Gott
gewann und immer gewinnen muß. Doch wenn der reuige Sünder
sich auf Christus und sein Heil stützt, wird die moralische Situation umgekehrt. Die Gerechtigkeit wird mit der veränderten
Situation konfrontiert und spricht den glaubenden Menschen
gerecht. Auf diese Weise tritt die Gerechtigkeit tatsächlich auf
die Seite derer, die auf Gott als seine Kinder vertrauen. Das ist
der Sinn jener kühnen Worte des Apostels Johannes: »Wenn wir
aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er
uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit« (1 Jo 1,9).
Aber Gottes Gerechtigkeit wird gegen den Sünder immer in
äußerster Strenge Stellung nehmen. Die vage und klägliche
Hoffnung, daß Gott zu gütig sei, um die Gottlosen zu strafen, ist
zu einem tödlichen Betäubungsmittel für das Gewissen von Millionen von Menschen geworden. Sie beschwichtigt ihre Befürchtungen und gestattet ihnen, alle Schlechtigkeit zu praktizieren,
103
während der Tod jeden Tag näher rückt und der Befehl zur Buße
unbeachtet verhallt. Als verantwortliche sittliche Wesen dürften
wir es nicht wagen, so mit unserem ewigen Schicksal zu spielen!
Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich zum Himmel werd eingehn.
Drum soll auch dieses Blut allein
Mein Trost und meine Hoffnung sein;
Ich bau im Leben und im Tod
Allein auf Jesu Wunden rot.
Strophe I: GRAF N. L. VON ZINZENDORF
Strophe II: CHRISTIAN GREGOR
Sulzbacher 27.08.2021 11:45
Die Güte Gottes
Tue uns Gutes nach Deinem Wohlgefallen, o Herr. Handle mit uns nicht nach unserm Verdienst, sondern wie es
Dir, dem Gott, der Du bist, entspricht. So werden wir
weder in dieser noch in der zukünftigen Welt etwas zu
fürchten haben. Amen.
Das Wort gut ist für viele Menschen von so unterschiedlicher
Bedeutung, daß wir dieses kurze Studium der Güte Gottes mit
einer Definition beginnen müssen. Um die eigentliche Bedeutung
des Wortes herauskristallisieren zu können, geht man am besten
von einer Reihe sinnverwandter Wörter aus und kehrt auf verschiedenen Wegen wieder zum Ausgangspunkt zurück.
Wenn die christliche Theologie sagt, daß Gott gütig ist, so meint
sie damit nicht dasselbe wie mit seiner Gerechtigkeit oder Heiligkeit. Die Heiligkeit Gottes wird vom Himmel herab wie mit
Posaunenschall verkündigt und auf der Erde überall da, wo Gott
sich den Menschen offenbart hat, von Heiligen und Weisen
bestätigt. Doch wir befassen uns jetzt nicht mit seiner Heiligkeit,
sondern mit seiner Güte, die etwas ganz anderes ist.
Die Güte Gottes ist das, was ihn freundlich, herzlich, wohlwollend und guten Willens den Menschen gegenüber macht. Er ist
weichherzig und voller Mitgefühl und ist zu allen sittlichen Wesen
offen und freundlich. Von Natur aus neigt er dazu, Segen zu
schenken, und hat ein heiliges Wohlgefallen am Glück seines
Volkes.
Daß Gott gütig ist, wird auf jeder Seite der Bibel gelehrt, das
heißt zum Ausdruck gebracht, und muß als Glaubensgrundsatz
akzeptiert werden, der ebenso unerschütterlich ist wie der Thron
Gottes. Die Güte Gottes ist ein Grundstein, auf den sich jedes
gesunde Denken über Gott und alle moralische Gesundheit
gründet. Die Möglichkeit zuzulassen, daß Gott nicht gütig ist,
würde heißen, die Gütigkeit allen Denkens zu leugnen und zur
Verneinung jeglichen moralischen Urteils führen. Wenn Gott
96
nicht gütig ist, kann es auch keine Unterscheidung zwischen
Freundlichkeit und Grausamkeit geben, und Himmel könnte
Hölle und Hölle könnte Himmel sein.
Die Güte Gottes ist die treibende Kraft hinter all den Segnungen, mit denen er uns täglich überschüttet. Gott erschuf uns, weil
es seinem Herzen wohltat, und aus dem gleichen Grunde hat er
uns auch erlöst.
Juliana von Norwich, die vor 600 Jahren lebte, hatte deutlich
erkannt, daß die Grundlage für alles Glück die Güte Gottes ist.
Das sechste Kapitel ihres unbeschreiblich schönen und scharfsinnigen kleinen Klassikers »Revelations of Divine Love« beginnt mit dem Satz: »Diese Darstellung dient dazu, unsere Herzen zu lehren, sich wohlweislich an die Güte Gottes zu klammern.« Sie erkannte, daß all unsere religiösen Aktivitäten und
jedes Mittel, Gnade zu erlangen, so richtig und nützlich sie auch
sein mögen, nichts wert sind, bis wir begreifen, daß der Hintergrund aller Taten Gottes eine spontane Güte ist, die wir nicht
verdienen.
Die Güte Gottes ist wie all seine Eigenschaften selbstgewollt,
unendlich, vollkommen und ewig. Weil Gott unwandelbar ist,
verändert sich auch die Intensität seiner Herzensgüte nie. Er ist
nie freundlicher gewesen, als er es jetzt ist, und er wird auch nie
freundlicher sein. Bei ihm gilt kein Ansehen der Person, sondern
er läßt seine Sonne über Böse und Gute scheinen, und er sendet
seinen Regen auf die Gerechten wie auf die Ungerechten. Die
Ursache seiner Güte liegt in ihm selbst. Alle, die diese Güte
empfangen, haben ihren Anteil daran, ohne ihn verdient zu
haben.
Der Verstand muß dem zustimmen, und alle moralische Einsicht und Weisheit anerkennt ohne weiteres, daß nicht einmal das
reinste und beste menschliche Verhalten sich ein Verdienst erwerben kann. Die Güte Gottes ist stets unsere grundlegende Erwartung. Buße, obwohl notwendig, bringt keinen Verdienst, sondern
ist eine Voraussetzung für den Empfang der Vergebung, die Gott
in seiner Güte schenkt. Sie kann Gott keinerlei Verpflichtung
auferlegen und macht ihn auch niemand gegenüber zum Schuldner. Er erhört Gebet, weil er gütig ist, und aus keinem anderen
Grunde. Ebensowenig bringt uns der Glaube einen Verdienst. Er
97
ist einfach das Vertrauen in die Güte Gottes, und Mangel an
Glauben ist eine falsche Einstellung gegenüber dem heiligen
Charakter Gottes.
Die ganze Einstellung der Menschheit würde sich verändern,
könnten wir alle glauben, daß wir unter einem gnädigen Himmel
wohnen, und daß Gott, obwohl hoch erhöht in Macht und
Majestät, gerne unser Freund sein möchte.
Aber die Sünde hat uns furchtsam und zugleich selbstbewußt
gemacht. Jahre der Auflehnung gegen Gott haben in uns eine
Furcht hervorgerufen, die nicht an einem Tag überwunden werden kann. Der gefangengenommene Rebell tritt nur ungern in die
Gegenwart des Königs, für dessen Sturz er lange gekämpft hat.
Aber wenn es ihn aufrichtig gereut, darf er hinzutreten und auf die
Güte des Herrn zählen, ohne daß ihm die Vergangenheit vorgehalten wird. Meister Eckhart ermutigt uns, daran zu denken, daß
Gott, wenn wir zu ihm zurückkehren, uns unsere Sünden nicht
anrechnet, und wären ihrer so viele wie die der ganzen Menschheit
zusammen, sondern uns soviel Vertrauen schenkt, als hätten wir
nie gesündigt.
Nun fragt aber ein vorsichtiger Mensch, der trotz seiner vergangenen Sünden mit Gott versöhnt werden möchte: »Wenn ich zu
Gott komme, was wird er dann mit mir machen? Welche Einstellung wird er mir gegenüber haben, wie sich verhalten?«
Die Antwort darauf lautet: Er wird genau wie Jesus sein. »Wer
mich sieht, der sieht den Vater«, sagte Jesus (Joh 14,9). Jesus
Christus wandelte unter den Menschen auf Erden, um einem
Geschlecht, das sich Gott ganz falsch vorstellte, zu zeigen, wie die
wahre Natur des Vaters im Himmel ist. Das war nur eine seiner
Taten, die er auf Erden vollbrachte, und er tat sie vollkommen.
Durch ihn erfahren wir, wie Gott sich den Menschen gegenüber
verhält. Die Heuchler, die Unaufrichtigen, werden ihn kalt und
abweisend finden, so wie sie es einst bei Jesus erlebten; aber die
Bußfertigen werden in ihm einen gnädigen Gott finden. Wer sich
selbst verurteilt, wird ihn großmütig und freundlich erleben. Den
Furchtsamen gegenüber ist er freundlich, den Armen im Geiste
vergibt er gerne, den Unwissenden gegenüber ist er nachsichtig.
Die Schwachen behandelt er schonungsvoll, die Fremden gastfreundlich.
98
Wir können die Art, wie er uns aufnimmt, durch unsere eigene
Haltung bestimmen. Obwohl die Freundlichkeit Gottes ein
unendlicher, überfließender Quell der Herzlichkeit ist, zwingt
Gott uns seine Aufmerksamkeit nicht auf. Wollen wir, daß er uns
willkommen heißt wie den verlorenen Sohn, so müssen wir auch
wie der verlorene Sohn kommen. Und wenn wir so kommen, wird
es drinnen ein Willkommensfest mit Musik und Tanz geben,
während es die Pharisäer und Gesetzesspezialisten draußen verdrießt, und der Vater wird sein Kind wieder an sein Herz drücken.
Die Größe Gottes löst in uns Furcht aus, seine Güte aber
ermutigt uns, keine Angst vor ihm zu haben. Ihn zu fürchten, aber
keine Angst zu haben - das ist das Paradoxon des Glaubens.
Du Gott, meine Hoffnung, meine himmlische Ruhe,
Meine ganze Freude hier auf Erden,
Erhöre meine dringliche Bitte;
Zeige mir Deine Güte;
Offenbare Dein seligmachendes Angesicht,
Den Glanz des Ewigen Tages.
Laß vor meinen, durch den Glauben erleuchteten Augen
Deine ganze gnadenvolle Güte vorbeiziehen.
Deine Güte rühme ich hoch;
Laß mich Dein freundliches Antlitz sehen:
Verkündige Deine Natur in meiner Seele,
Offenbare Deine Liebe und Deinen glorreichen Namen.
CHARLES WESLEY
Tue uns Gutes nach Deinem Wohlgefallen, o Herr. Handle mit uns nicht nach unserm Verdienst, sondern wie es
Dir, dem Gott, der Du bist, entspricht. So werden wir
weder in dieser noch in der zukünftigen Welt etwas zu
fürchten haben. Amen.
Das Wort gut ist für viele Menschen von so unterschiedlicher
Bedeutung, daß wir dieses kurze Studium der Güte Gottes mit
einer Definition beginnen müssen. Um die eigentliche Bedeutung
des Wortes herauskristallisieren zu können, geht man am besten
von einer Reihe sinnverwandter Wörter aus und kehrt auf verschiedenen Wegen wieder zum Ausgangspunkt zurück.
Wenn die christliche Theologie sagt, daß Gott gütig ist, so meint
sie damit nicht dasselbe wie mit seiner Gerechtigkeit oder Heiligkeit. Die Heiligkeit Gottes wird vom Himmel herab wie mit
Posaunenschall verkündigt und auf der Erde überall da, wo Gott
sich den Menschen offenbart hat, von Heiligen und Weisen
bestätigt. Doch wir befassen uns jetzt nicht mit seiner Heiligkeit,
sondern mit seiner Güte, die etwas ganz anderes ist.
Die Güte Gottes ist das, was ihn freundlich, herzlich, wohlwollend und guten Willens den Menschen gegenüber macht. Er ist
weichherzig und voller Mitgefühl und ist zu allen sittlichen Wesen
offen und freundlich. Von Natur aus neigt er dazu, Segen zu
schenken, und hat ein heiliges Wohlgefallen am Glück seines
Volkes.
Daß Gott gütig ist, wird auf jeder Seite der Bibel gelehrt, das
heißt zum Ausdruck gebracht, und muß als Glaubensgrundsatz
akzeptiert werden, der ebenso unerschütterlich ist wie der Thron
Gottes. Die Güte Gottes ist ein Grundstein, auf den sich jedes
gesunde Denken über Gott und alle moralische Gesundheit
gründet. Die Möglichkeit zuzulassen, daß Gott nicht gütig ist,
würde heißen, die Gütigkeit allen Denkens zu leugnen und zur
Verneinung jeglichen moralischen Urteils führen. Wenn Gott
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nicht gütig ist, kann es auch keine Unterscheidung zwischen
Freundlichkeit und Grausamkeit geben, und Himmel könnte
Hölle und Hölle könnte Himmel sein.
Die Güte Gottes ist die treibende Kraft hinter all den Segnungen, mit denen er uns täglich überschüttet. Gott erschuf uns, weil
es seinem Herzen wohltat, und aus dem gleichen Grunde hat er
uns auch erlöst.
Juliana von Norwich, die vor 600 Jahren lebte, hatte deutlich
erkannt, daß die Grundlage für alles Glück die Güte Gottes ist.
Das sechste Kapitel ihres unbeschreiblich schönen und scharfsinnigen kleinen Klassikers »Revelations of Divine Love« beginnt mit dem Satz: »Diese Darstellung dient dazu, unsere Herzen zu lehren, sich wohlweislich an die Güte Gottes zu klammern.« Sie erkannte, daß all unsere religiösen Aktivitäten und
jedes Mittel, Gnade zu erlangen, so richtig und nützlich sie auch
sein mögen, nichts wert sind, bis wir begreifen, daß der Hintergrund aller Taten Gottes eine spontane Güte ist, die wir nicht
verdienen.
Die Güte Gottes ist wie all seine Eigenschaften selbstgewollt,
unendlich, vollkommen und ewig. Weil Gott unwandelbar ist,
verändert sich auch die Intensität seiner Herzensgüte nie. Er ist
nie freundlicher gewesen, als er es jetzt ist, und er wird auch nie
freundlicher sein. Bei ihm gilt kein Ansehen der Person, sondern
er läßt seine Sonne über Böse und Gute scheinen, und er sendet
seinen Regen auf die Gerechten wie auf die Ungerechten. Die
Ursache seiner Güte liegt in ihm selbst. Alle, die diese Güte
empfangen, haben ihren Anteil daran, ohne ihn verdient zu
haben.
Der Verstand muß dem zustimmen, und alle moralische Einsicht und Weisheit anerkennt ohne weiteres, daß nicht einmal das
reinste und beste menschliche Verhalten sich ein Verdienst erwerben kann. Die Güte Gottes ist stets unsere grundlegende Erwartung. Buße, obwohl notwendig, bringt keinen Verdienst, sondern
ist eine Voraussetzung für den Empfang der Vergebung, die Gott
in seiner Güte schenkt. Sie kann Gott keinerlei Verpflichtung
auferlegen und macht ihn auch niemand gegenüber zum Schuldner. Er erhört Gebet, weil er gütig ist, und aus keinem anderen
Grunde. Ebensowenig bringt uns der Glaube einen Verdienst. Er
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ist einfach das Vertrauen in die Güte Gottes, und Mangel an
Glauben ist eine falsche Einstellung gegenüber dem heiligen
Charakter Gottes.
Die ganze Einstellung der Menschheit würde sich verändern,
könnten wir alle glauben, daß wir unter einem gnädigen Himmel
wohnen, und daß Gott, obwohl hoch erhöht in Macht und
Majestät, gerne unser Freund sein möchte.
Aber die Sünde hat uns furchtsam und zugleich selbstbewußt
gemacht. Jahre der Auflehnung gegen Gott haben in uns eine
Furcht hervorgerufen, die nicht an einem Tag überwunden werden kann. Der gefangengenommene Rebell tritt nur ungern in die
Gegenwart des Königs, für dessen Sturz er lange gekämpft hat.
Aber wenn es ihn aufrichtig gereut, darf er hinzutreten und auf die
Güte des Herrn zählen, ohne daß ihm die Vergangenheit vorgehalten wird. Meister Eckhart ermutigt uns, daran zu denken, daß
Gott, wenn wir zu ihm zurückkehren, uns unsere Sünden nicht
anrechnet, und wären ihrer so viele wie die der ganzen Menschheit
zusammen, sondern uns soviel Vertrauen schenkt, als hätten wir
nie gesündigt.
Nun fragt aber ein vorsichtiger Mensch, der trotz seiner vergangenen Sünden mit Gott versöhnt werden möchte: »Wenn ich zu
Gott komme, was wird er dann mit mir machen? Welche Einstellung wird er mir gegenüber haben, wie sich verhalten?«
Die Antwort darauf lautet: Er wird genau wie Jesus sein. »Wer
mich sieht, der sieht den Vater«, sagte Jesus (Joh 14,9). Jesus
Christus wandelte unter den Menschen auf Erden, um einem
Geschlecht, das sich Gott ganz falsch vorstellte, zu zeigen, wie die
wahre Natur des Vaters im Himmel ist. Das war nur eine seiner
Taten, die er auf Erden vollbrachte, und er tat sie vollkommen.
Durch ihn erfahren wir, wie Gott sich den Menschen gegenüber
verhält. Die Heuchler, die Unaufrichtigen, werden ihn kalt und
abweisend finden, so wie sie es einst bei Jesus erlebten; aber die
Bußfertigen werden in ihm einen gnädigen Gott finden. Wer sich
selbst verurteilt, wird ihn großmütig und freundlich erleben. Den
Furchtsamen gegenüber ist er freundlich, den Armen im Geiste
vergibt er gerne, den Unwissenden gegenüber ist er nachsichtig.
Die Schwachen behandelt er schonungsvoll, die Fremden gastfreundlich.
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Wir können die Art, wie er uns aufnimmt, durch unsere eigene
Haltung bestimmen. Obwohl die Freundlichkeit Gottes ein
unendlicher, überfließender Quell der Herzlichkeit ist, zwingt
Gott uns seine Aufmerksamkeit nicht auf. Wollen wir, daß er uns
willkommen heißt wie den verlorenen Sohn, so müssen wir auch
wie der verlorene Sohn kommen. Und wenn wir so kommen, wird
es drinnen ein Willkommensfest mit Musik und Tanz geben,
während es die Pharisäer und Gesetzesspezialisten draußen verdrießt, und der Vater wird sein Kind wieder an sein Herz drücken.
Die Größe Gottes löst in uns Furcht aus, seine Güte aber
ermutigt uns, keine Angst vor ihm zu haben. Ihn zu fürchten, aber
keine Angst zu haben - das ist das Paradoxon des Glaubens.
Du Gott, meine Hoffnung, meine himmlische Ruhe,
Meine ganze Freude hier auf Erden,
Erhöre meine dringliche Bitte;
Zeige mir Deine Güte;
Offenbare Dein seligmachendes Angesicht,
Den Glanz des Ewigen Tages.
Laß vor meinen, durch den Glauben erleuchteten Augen
Deine ganze gnadenvolle Güte vorbeiziehen.
Deine Güte rühme ich hoch;
Laß mich Dein freundliches Antlitz sehen:
Verkündige Deine Natur in meiner Seele,
Offenbare Deine Liebe und Deinen glorreichen Namen.
CHARLES WESLEY
Sulzbacher 28.08.2021 12:10
Die Gnade Gottes
Gott aller Gnade, der Du uns gegenüber nur Gedanken
des Friedens und nicht des Leidens hast, gib uns ein Herz
voller Glauben, daß wir angenommen sind in dem Geliebten, und gib uns den Sinn, jene Vollkommenheit Deiner
Weisheit zu bewundern, die einen Weg gefunden hat, die
Reinheit des Himmels zu bewahren und uns dennoch darin
aufzunehmen. Wir können nur staunen, daß ein so heiliger
und gewaltiger Gott wie Du uns in seinen Festsaal einlädt
s
und uns mit dem Banner der Liebe bedeckt. Wir vermögen
die Dankbarkeit, die wir empfinden, nicht auszudrücken.
Sieh Du darum in unsere Herzen hinein, um sie dort zu
erkennen. Amen.
In Gott sind Barmherzigkeit und Gnade eins. Doch in unsern
Augen erscheinen sie als zwei Dinge, die verwandt, aber nicht
identisch sind.
So wie Barmherzigkeit die Güte Gottes gegenüber dem Elend
und der Schuld des Menschen ist, so ist Gnade seine Güte
gegenüber menschlichem Verschulden und mangelndem Verdienst. Es geschieht durch Gnade, daß Gott da Verdienst beimißt,
wo vorher keiner bestand, und Freiheit von Schuld ermöglicht, wo
früher Schuld bestand.
Gnade ist das Wohlgefallen Gottes, das ihn bewegt, dem
Wohltaten zu erweisen, der sie nicht verdient hat. Sie ist ein der
göttlichen Natur innewohnender Grundsatz und erscheint uns als
eine Neigung, sich des Elenden zu erbarmen, den Schuldigen zu
schonen, den Ausgestoßenen aufzunehmen und denjenigen wohlgefällig und angenehm zu machen, der sich eine berechtigte
Mißbilligung zugezogen hat. Ihr Nutzen für uns sündige Menschen
besteht darin, daß wir gerettet und in das himmlische Wesen in
Christus Jesus versetzt werden, damit er in den kommenden
Zeiten den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch
seine Güte gegen uns in Christus Jesus erzeigt (Eph 2,7).
109
Wir tragen aus dieser Tatsache, daß Gott gerade das ist, was er
ist, ewigen Nutzen. Weil er ist, was er ist, öffnet er uns die
Gefängnistür, vertauscht unser Sträflingskleid mit einem königlichen Gewand und läßt uns alle Tage unseres Lebens an seinem
Tische essen.
Die Gnade hat ihren Ursprung im Herzen Gottes, in der
unfaßbaren Tiefe seines heiligen Seins, aber der Kanal, durch den
sie zu den Menschen fließt, ist der Gekreuzigte und Auferstandene, Jesus Christus. Der Apostel Paulus, der wie kein anderer die
Erlösungsgnade beschrieben hat, trennt Gottes Gnade nie vom
gekreuzigten Sohn Gottes. In seiner Lehre gehören die beiden
immer zusammen, organisch eins und unzertrennbar.
Eine umfassende, klare Zusammenfassung der Lehre des Paulus über dieses Thema findet man in seinem Brief an die Epheser:
»... in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder
zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines
Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns
begnadet hat in dem Geliebten. In ihm haben wir die Erlösung
durch sein Blut, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum
seiner Gnade« (Eph l,4b-7).
Auch Johannes identifiziert in seinem Evangelium Christus als
das Werkzeug, durch welches die Gnade zu den Menschen
gelangt: »Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade
und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden« (Joh 1,17).
Aber gerade hier verfehlt man leicht den Weg und irrt von der
Wahrheit ab, was schon so manche getan haben. Sie isolierten
diesen Vers von den anderen Bibelstellen, die sich auf die Gnade
Gottes beziehen, und haben daraus eine Lehre abgeleitet, die
besagt, daß Mose nur das Gesetz kannte und Christus nur die
Gnade. So wird aus dem Alten Testament ein Gesetzbuch und aus
dem Neuen Testament ein Gnadenbuch.
Ein Blick in die Zehn Gebote (2 Mo 20; 5 Mo 5) zeigt aber, daß
das Gesetz, das Gott durch Mose dem Volk Israel gab, im Grunde
mit dem Evangelium, mit der Botschaft von der Rettung durch
Gott beginnt - und somit mit der Gnade. »Ich bin der Herr, dein
Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt
habe« (2 Mo 20,2) lautet der Auftakt, die Überschrift der Zehn
Gebote. Dieses Wort verweist auf das Geschehen bei Israels
110
Durchzug durch das Schilfmeer (2 Mo 14), bei dem sich Gott als
rettender Gott erwies. Gott ist Gott für Israel; vor seinem
Anspruch, den er in seinen Geboten diesem Volk vor Augen
führte, erfolgte sein Zuspruch, sein gnädiges Handeln an Israel.
Der gnädig rettende Gott ist zugleich der heilige, beanspruchende
Gott, der die Erretteten in eine - in seine - Ordnung hineinnimmt
- in eine Ordnung, die schon vor Grundlegung der Welt bestand
und die jetzt für die, die Gott gehören, Weisung und Lebenshilfe
ist. Ähnlich zeigt dies Paulus im Römerbrief: Während er in den
ersten Kapiteln die voraussetzungslose Gnade Gottes, die »ohne
Verdienst gerecht« macht (Rom 3,24), vor Augen führt, stellt er
ab Römer 12 den Anspruch Gottes heraus, der diejenigen, die die
freie Gnade umsonst empfangen haben, in den Gehorsam gegenüber Gott nimmt. Die Gnade Gottes ist keine »billige Gnade«, mit
der die Beschenkten umgehen könnten, wie sie wollten, sondern
diese Gnade befreit und nimmt in Anspruch zugleich. Nach keiner
von diesen beiden Seiten hin darf Gottes Gnade vereinseitigt
werden, sonst wird sie entweder zur »billigen Gnade« oder zum
»tötenden Gesetz«. Bereits die Zehn Gebote mit ihrem vielfachen
»Du sollst/du sollst nicht« und ihrem »Vorwort« weisen darauf
hin.
Wären die alttestamentlichen Zeiten nur Zeiten unbeugsamer
Gesetzesstrenge gewesen, so wäre die ganze damalige Welt bei
weitem weniger heiter gewesen, als wir sie in den alten Schriften
beschrieben finden. Es hätte keinen Abraham, den Freund Gottes, gegeben; keinen David, den Mann nach dem Herzen Gottes;
keinen Samuel, keinen Jesaja, keinen Daniel. Das elfte Kapitel
des Hebräerbriefes, diese Aufzählung der Glaubenshelden des
Alten Testamentes, würde dunkel und leer dastehen. Die Gnade
machte den Glauben in alttestamentlichen Tagen ebenso möglich,
wie sie es heute tut.
Angefangen bei Abel ist bis zum heutigen Tage keiner auf eine
andere Weise gerettet worden als durch Gnade. Seit die Menschheit aus dem Garten Eden vertrieben wurde, konnte kein Mensch
Gottes Wohlgefallen wiedererlangen, außer durch die reine Güte
Gottes. Wo immer einem Menschen Gnade widerfuhr, geschah es
durch Jesus Christus. Die Gnade kam durch ihn, aber sie wartete
nicht auf seine Geburt in der Krippe oder auf seinen Tod
111
am Kreuz, bevor sie zu wirken anfing. Christus ist ein Lamm, das
von Grundlegung der Welt an geschlagen wurde. Der allererste
Mensch, der wieder in die Gemeinschaft mit Gott gelangte, kam
zu ihm durch den Glauben an Jesus. In früheren Zeiten blickten
die Menschen auf das zukünftige Erlösungswerk Christi, später
blickten sie darauf zurück. Doch immer kamen und kommen sie
im Glauben durch Gnade.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die Gnade Gottes unendlich
und ewig ist. So wie sie keinen Anfang hat, kann sie auch kein
Ende nehmen, und da sie eine Eigenschaft Gottes ist, ist sie so
grenzenlos wie die Unendlichkeit.
Statt sich anzustrengen, dies als eine theologische Tatsache
erfassen zu können, wäre es besser und einfacher, die Gnade,
Gottes mit unserem Bedürfnis zu vergleichen. Wir werden nie die
ganze Ungeheuerlichkeit unserer Sünde erkennen, und das ist
auch nicht nötig. Was wir aber erkennen können, ist, daß da, »wo
die Sünde mächtig geworden ist, die Gnade noch viel mächtiger
geworden« ist (Rom 5,20).
So zu sündigen, daß »die Sünde mächtig« wird, ist das Schlimmste, was wir tun können. Aber obwohl wir spüren, daß sich unsere
Sünden wie ein Riesenberg auftürmen, hat dieser Berg doch seine
Grenze, indem er so hoch ist und nicht höher. Aber wer wollte die
grenzenlose Gnade Gottes definieren? Ihr »viel mächtiger« führt
unsere Vorstellung in die Unendlichkeit, und hier hört unser
Verstehen auf. Hier können wir Gott nur noch danken für die
Gnade, die mächtiger ist als all unsere Sünde!
Wir, die wir uns der Gemeinschaft mit Gott entfremdet fühlen,
dürfen zu unserer Ermutigung nunmehr das Haupt emporheben
und aufblicken. Durch den Opfertod Jesu Christi ist die Ursache
unserer Vertreibung beseitigt worden. Wir dürfen als verlorene
Söhne zurückkehren und finden bei Gott eine offene Türe. Wenn
wir uns dem Garten Eden, unserem Zuhause vor dem Sündenfall,
nähern, stellen wir fest, daß das flammende Schwert nicht mehr da
ist. Die Hüter des Lebensbaumes treten vor einem Sohn der
Gnade zur Seite.
Kehre zurück, du Wanderer, kehre nun zurück
Und suche deines Vaters Angesicht;
112
Jene neuen Verlangen, die in dir brennen,
Wurden durch Seine Gnade entzündet.
Kehre zurück, du Wanderer, kehre nun zurück,
Und wische die fallende Träne weg.
Dein Vater ruft - trauere nicht länger;
Liebe lädt dich ein.
WILLIAM BENCO COLLYER
Gott aller Gnade, der Du uns gegenüber nur Gedanken
des Friedens und nicht des Leidens hast, gib uns ein Herz
voller Glauben, daß wir angenommen sind in dem Geliebten, und gib uns den Sinn, jene Vollkommenheit Deiner
Weisheit zu bewundern, die einen Weg gefunden hat, die
Reinheit des Himmels zu bewahren und uns dennoch darin
aufzunehmen. Wir können nur staunen, daß ein so heiliger
und gewaltiger Gott wie Du uns in seinen Festsaal einlädt
s
und uns mit dem Banner der Liebe bedeckt. Wir vermögen
die Dankbarkeit, die wir empfinden, nicht auszudrücken.
Sieh Du darum in unsere Herzen hinein, um sie dort zu
erkennen. Amen.
In Gott sind Barmherzigkeit und Gnade eins. Doch in unsern
Augen erscheinen sie als zwei Dinge, die verwandt, aber nicht
identisch sind.
So wie Barmherzigkeit die Güte Gottes gegenüber dem Elend
und der Schuld des Menschen ist, so ist Gnade seine Güte
gegenüber menschlichem Verschulden und mangelndem Verdienst. Es geschieht durch Gnade, daß Gott da Verdienst beimißt,
wo vorher keiner bestand, und Freiheit von Schuld ermöglicht, wo
früher Schuld bestand.
Gnade ist das Wohlgefallen Gottes, das ihn bewegt, dem
Wohltaten zu erweisen, der sie nicht verdient hat. Sie ist ein der
göttlichen Natur innewohnender Grundsatz und erscheint uns als
eine Neigung, sich des Elenden zu erbarmen, den Schuldigen zu
schonen, den Ausgestoßenen aufzunehmen und denjenigen wohlgefällig und angenehm zu machen, der sich eine berechtigte
Mißbilligung zugezogen hat. Ihr Nutzen für uns sündige Menschen
besteht darin, daß wir gerettet und in das himmlische Wesen in
Christus Jesus versetzt werden, damit er in den kommenden
Zeiten den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch
seine Güte gegen uns in Christus Jesus erzeigt (Eph 2,7).
109
Wir tragen aus dieser Tatsache, daß Gott gerade das ist, was er
ist, ewigen Nutzen. Weil er ist, was er ist, öffnet er uns die
Gefängnistür, vertauscht unser Sträflingskleid mit einem königlichen Gewand und läßt uns alle Tage unseres Lebens an seinem
Tische essen.
Die Gnade hat ihren Ursprung im Herzen Gottes, in der
unfaßbaren Tiefe seines heiligen Seins, aber der Kanal, durch den
sie zu den Menschen fließt, ist der Gekreuzigte und Auferstandene, Jesus Christus. Der Apostel Paulus, der wie kein anderer die
Erlösungsgnade beschrieben hat, trennt Gottes Gnade nie vom
gekreuzigten Sohn Gottes. In seiner Lehre gehören die beiden
immer zusammen, organisch eins und unzertrennbar.
Eine umfassende, klare Zusammenfassung der Lehre des Paulus über dieses Thema findet man in seinem Brief an die Epheser:
»... in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder
zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines
Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns
begnadet hat in dem Geliebten. In ihm haben wir die Erlösung
durch sein Blut, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum
seiner Gnade« (Eph l,4b-7).
Auch Johannes identifiziert in seinem Evangelium Christus als
das Werkzeug, durch welches die Gnade zu den Menschen
gelangt: »Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade
und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden« (Joh 1,17).
Aber gerade hier verfehlt man leicht den Weg und irrt von der
Wahrheit ab, was schon so manche getan haben. Sie isolierten
diesen Vers von den anderen Bibelstellen, die sich auf die Gnade
Gottes beziehen, und haben daraus eine Lehre abgeleitet, die
besagt, daß Mose nur das Gesetz kannte und Christus nur die
Gnade. So wird aus dem Alten Testament ein Gesetzbuch und aus
dem Neuen Testament ein Gnadenbuch.
Ein Blick in die Zehn Gebote (2 Mo 20; 5 Mo 5) zeigt aber, daß
das Gesetz, das Gott durch Mose dem Volk Israel gab, im Grunde
mit dem Evangelium, mit der Botschaft von der Rettung durch
Gott beginnt - und somit mit der Gnade. »Ich bin der Herr, dein
Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt
habe« (2 Mo 20,2) lautet der Auftakt, die Überschrift der Zehn
Gebote. Dieses Wort verweist auf das Geschehen bei Israels
110
Durchzug durch das Schilfmeer (2 Mo 14), bei dem sich Gott als
rettender Gott erwies. Gott ist Gott für Israel; vor seinem
Anspruch, den er in seinen Geboten diesem Volk vor Augen
führte, erfolgte sein Zuspruch, sein gnädiges Handeln an Israel.
Der gnädig rettende Gott ist zugleich der heilige, beanspruchende
Gott, der die Erretteten in eine - in seine - Ordnung hineinnimmt
- in eine Ordnung, die schon vor Grundlegung der Welt bestand
und die jetzt für die, die Gott gehören, Weisung und Lebenshilfe
ist. Ähnlich zeigt dies Paulus im Römerbrief: Während er in den
ersten Kapiteln die voraussetzungslose Gnade Gottes, die »ohne
Verdienst gerecht« macht (Rom 3,24), vor Augen führt, stellt er
ab Römer 12 den Anspruch Gottes heraus, der diejenigen, die die
freie Gnade umsonst empfangen haben, in den Gehorsam gegenüber Gott nimmt. Die Gnade Gottes ist keine »billige Gnade«, mit
der die Beschenkten umgehen könnten, wie sie wollten, sondern
diese Gnade befreit und nimmt in Anspruch zugleich. Nach keiner
von diesen beiden Seiten hin darf Gottes Gnade vereinseitigt
werden, sonst wird sie entweder zur »billigen Gnade« oder zum
»tötenden Gesetz«. Bereits die Zehn Gebote mit ihrem vielfachen
»Du sollst/du sollst nicht« und ihrem »Vorwort« weisen darauf
hin.
Wären die alttestamentlichen Zeiten nur Zeiten unbeugsamer
Gesetzesstrenge gewesen, so wäre die ganze damalige Welt bei
weitem weniger heiter gewesen, als wir sie in den alten Schriften
beschrieben finden. Es hätte keinen Abraham, den Freund Gottes, gegeben; keinen David, den Mann nach dem Herzen Gottes;
keinen Samuel, keinen Jesaja, keinen Daniel. Das elfte Kapitel
des Hebräerbriefes, diese Aufzählung der Glaubenshelden des
Alten Testamentes, würde dunkel und leer dastehen. Die Gnade
machte den Glauben in alttestamentlichen Tagen ebenso möglich,
wie sie es heute tut.
Angefangen bei Abel ist bis zum heutigen Tage keiner auf eine
andere Weise gerettet worden als durch Gnade. Seit die Menschheit aus dem Garten Eden vertrieben wurde, konnte kein Mensch
Gottes Wohlgefallen wiedererlangen, außer durch die reine Güte
Gottes. Wo immer einem Menschen Gnade widerfuhr, geschah es
durch Jesus Christus. Die Gnade kam durch ihn, aber sie wartete
nicht auf seine Geburt in der Krippe oder auf seinen Tod
111
am Kreuz, bevor sie zu wirken anfing. Christus ist ein Lamm, das
von Grundlegung der Welt an geschlagen wurde. Der allererste
Mensch, der wieder in die Gemeinschaft mit Gott gelangte, kam
zu ihm durch den Glauben an Jesus. In früheren Zeiten blickten
die Menschen auf das zukünftige Erlösungswerk Christi, später
blickten sie darauf zurück. Doch immer kamen und kommen sie
im Glauben durch Gnade.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die Gnade Gottes unendlich
und ewig ist. So wie sie keinen Anfang hat, kann sie auch kein
Ende nehmen, und da sie eine Eigenschaft Gottes ist, ist sie so
grenzenlos wie die Unendlichkeit.
Statt sich anzustrengen, dies als eine theologische Tatsache
erfassen zu können, wäre es besser und einfacher, die Gnade,
Gottes mit unserem Bedürfnis zu vergleichen. Wir werden nie die
ganze Ungeheuerlichkeit unserer Sünde erkennen, und das ist
auch nicht nötig. Was wir aber erkennen können, ist, daß da, »wo
die Sünde mächtig geworden ist, die Gnade noch viel mächtiger
geworden« ist (Rom 5,20).
So zu sündigen, daß »die Sünde mächtig« wird, ist das Schlimmste, was wir tun können. Aber obwohl wir spüren, daß sich unsere
Sünden wie ein Riesenberg auftürmen, hat dieser Berg doch seine
Grenze, indem er so hoch ist und nicht höher. Aber wer wollte die
grenzenlose Gnade Gottes definieren? Ihr »viel mächtiger« führt
unsere Vorstellung in die Unendlichkeit, und hier hört unser
Verstehen auf. Hier können wir Gott nur noch danken für die
Gnade, die mächtiger ist als all unsere Sünde!
Wir, die wir uns der Gemeinschaft mit Gott entfremdet fühlen,
dürfen zu unserer Ermutigung nunmehr das Haupt emporheben
und aufblicken. Durch den Opfertod Jesu Christi ist die Ursache
unserer Vertreibung beseitigt worden. Wir dürfen als verlorene
Söhne zurückkehren und finden bei Gott eine offene Türe. Wenn
wir uns dem Garten Eden, unserem Zuhause vor dem Sündenfall,
nähern, stellen wir fest, daß das flammende Schwert nicht mehr da
ist. Die Hüter des Lebensbaumes treten vor einem Sohn der
Gnade zur Seite.
Kehre zurück, du Wanderer, kehre nun zurück
Und suche deines Vaters Angesicht;
112
Jene neuen Verlangen, die in dir brennen,
Wurden durch Seine Gnade entzündet.
Kehre zurück, du Wanderer, kehre nun zurück,
Und wische die fallende Träne weg.
Dein Vater ruft - trauere nicht länger;
Liebe lädt dich ein.
WILLIAM BENCO COLLYER
Sulzbacher 28.08.2021 12:22
Die Liebe Gottes
Unser Vater, der Du bist im Himmel! Wir, Deine Kinder,
sind oft bekümmert, weil wir in uns zur gleichen Zeit den
Zuspruch des Glaubens und die Anklage des Gewissens
hören. Wir wissen nur zu gut, daß in uns nichts ist, was die
Liebe eines so Heiligen und Gerechten, wie Du es bist,
gewinnen könnte. Doch Du hast Deine unwandelbare
Liebe zu uns in Christus Jesus bezeugt. Wenn nichts in uns
Deine Liebe gewinnen kann, so kann auch nichts im
Universum Dich daran hindern, uns zu lieben. Deine
Liebe ist unverdient und kommt aus freien Stücken. Du
selbst bist der Grund für die Liebe, mit der wir geliebt
werden. Hilf uns, an die Intensität und die Ewigkeit der
Liebe zu glauben, die uns gefunden hat. Dann wird die
Liebe die Furcht vertreiben, und unsere bekümmerten
Herzen werden zum Frieden erhalten, indem wir nicht
darauf vertrauen, was wir sind, sondern darauf, was Du
über Dich selbst gesagt hast. Amen.
Der Apostel Johannes schrieb vom Geist getrieben: »Gott ist
Liebe«, und manche haben seine Worte als eine definitive Aussage über das Wesen Gottes aufgefaßt. Das ist ein großer Irrtum.
Johannes hat mit seinen Worten eine Tatsache bezeugt, aber
niemals eine Definition angeboten.
Die Liebe mit Gott gleichsetzen zu wollen, ist absolut falsch,
und dieser Fehler wurde zum Ursprung ungesunder Religionsphilosophie und einer Flut von nebelhafter Poesie, die überhaupt
nicht mit der Heiligen Schrift übereinstimmen und aus einem
anderen Klima stammen als das historische Christentum.
Hätte der Apostel gesagt, daß Liebe das ist, was Gott ist, wären
wir zu der Annahme gezwungen, daß Gott das ist, was Liebe ist.
Wenn Gott buchstäblich Liebe ist, dann ist Liebe buchstäblich
Gott, und wir müßten die Liebe als den einzigen Gott anbeten,
den es gibt. Wenn Liebe mit Gott gleich ist, dann ist Gott nur mit
114
Liebe gleich, und Liebe und Gott wären identisch. Auf diese
Weise aber zerstören wir das Konzept der Persönlichkeit Gottes
und leugnen alle seine Eigenschaften - mit einer Ausnahme, und
diese Ausnahme setzen wir an Gottes Stelle. Der Gott, den wir
damit verlassen haben, ist nicht der Gott Israels. Er ist nicht der
Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Er ist nicht der Gott
der Propheten und der Apostel. Er ist nicht der Gott der Heiligen,
der Reformatoren und der Märtyrer. Und er ist auch nicht der
Gott der Theologen und der Liederdichter der Gemeinde Jesu.
Wir müssen um der eigenen Seele willen lernen, die Heilige
Schrift zu verstehen. Wir müssen der Sklaverei der Worte entfliehen und uns statt dessen treu an ihre Bedeutung halten. Worte
sollen Gedanken zum Ausdruck bringen, aber nicht erzeugen.
Wir sagen, daß Gott Liebe ist. Wir sagen, daß Gott Licht ist. Wir
sagen, daß Christus die Wahrheit ist. Und wir wollen solche Worte
in ähnlicher Weise verstanden wissen, wie wenn man von einem
Mann sagt: »Er ist die Freundlichkeit selbst.« Damit stellen wir
keinesfalls fest, daß Freundlichkeit und dieser Mann identisch
sind, und niemand würde unsere Worte in diesem Sinne verstehen.
Die Worte »Gott ist Liebe« bedeuten, daß Liebe eine wesentliche Eigenschaft Gottes ist. Liebe ist etwas, das auf Gott zutrifft,
aber sie ist nicht Gott. Sie drückt die Art aus, wie Gott in seinem
Wesen ist, ebenso wie die Worte Heiligkeit, Gerechtigkeit, Treue
und Wahrheit. Weil Gott unwandelbar ist, handelt er immer sich
selbst entsprechend, und weil er eine Wesenseinheit ist, stellt er
nie eine seiner Eigenschaften zurück, um eine andere zum Zuge
kommen zu lassen.
Von den anderen uns bekannten göttlichen Eigenschaften
können wir viel über Gottes Liebe lernen. Aus der Unbedingtheit
Gottes zum Beispiel können wir schließen, daß seine Liebe keinen
Anfang hat. Weil er ewig ist, kann seine Liebe auch kein Ende
haben. Weil er unendlich ist, kennt sie keine Grenzen. Weil er
heilig ist, ist sie die Quintessenz aller makellosen Reinheit. Weiler
unermeßlich ist, ist seine Liebe ein unbegreiflich großer, grundund uferloser Ozean, vor dem wir in beglücktem Schweigen
niederknien und vor dem sich die schönsten Worte verwirrt und
beschämt zurückziehen müssen.
115
Doch wenn wir Gott kennen und um anderer willen von ihm
sprechen, so müssen wir versuchen, von seiner Liebe zu reden.
Alle Gläubigen haben das schon versucht, aber noch keiner hat es
wirklich sehr gut gemacht. Ich vermag diesem gewaltigen und
wundervollen Thema ebensowenig gerecht zu werden, wie ein
Kind nach Sternen fassen kann. Aber es kann, indem es nach
einem Stern greifen will, die Aufmerksamkeit auf ihn lenken und
die Richtung angeben, in welche man schauen muß, um ihn zu
sehen. Wenn ich also von der herrlichen, leuchtenden Liebe
Gottes rede, wird vielleicht irgendjemand, der vorher noch nichts
von ihr wußte, dadurch ermutigt, nach oben zu blicken und
Hoffnung zu schöpfen!
Wir wissen es nicht und werden vielleicht auch nie richtig
wissen, was Liebe ist. Aber wir können wissen, wie sie sich
kundtut, und das ist für uns in diesem Zusammenhang genug.
Zunächst einmal tut sie sich als Wohlwollen kund. Liebe will für
alle das Gute, nie das Schlechte. Das erklärt die Worte des
Apostels Johannes: »Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die
vollkommene Liebe treibt die Furcht aus« (1 Jo 4,17b-18a). Furcht
ist das schmerzhafte Gefühl, das bei dem Gedanken, wir könnten
Schaden nehmen oder müßten leiden, entsteht. Diese Furcht
dauert so lange an, wie wir dem Willen einer Person unterworfen
sind, die uns nicht wohlgesinnt ist. Sobald wir jedoch unter dem
Schutz eines Menschen, der uns positiv gesinnt ist, stehen, weicht
die Furcht. Ein in einem Warenhaus verlorengegangenes Kind ist
voller Furcht, weil es die fremden Menschen um sich als Feinde
betrachtet. In den Armen der Mutter ist alle Angst vergessen. Das
Wissen um das Wohlwollen der Mutter vertreibt die Furcht.
Die Welt ist voller Feinde, und solange wir der Möglichkeit
ausgesetzt sind, durch sie Schaden zu erleiden, ist Furcht unvermeidlich. Der Versuch, sie zu besiegen, ohne die Gründe zu
beseitigen, ist ein nutzloses Unterfangen. Das Herz ist weiser als
die Apostel der Gelassenheit. Solange wir in den Händen des
Zufalls sind; solange wir mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen rechnen müssen; solange wir im Bestreben um das Überleben auf
unsere Fähigkeiten vertrauen müssen - so lange haben wir allen
Grund, uns zu fürchten. Und Furcht bringt Pein.
Zu wissen, daß Gott Liebe ist, sich zu ihm zu flüchten und sich
116
auf den Arm des Geliebten zu stützen - das und nichts anderes
kann die Furcht vertreiben. Man überzeuge einen Menschen, daß
für ihn gar keine Gefahr besteht und ihm nichts schaden kann, so
wird er augenblicklich alle Furcht vergessen. Wohl mag manchmal
noch eine natürliche Reaktion auf physischen Schmerz auftreten,
aber das quälende Angstgefühl ist für immer verschwunden. Gott
ist Liebe, und Gott ist souverän. Seine Liebe läßt ihn unser ewiges
Wohlergehen wünschen, und seine Souveränität befähigt ihn, es
auch zu sichern.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib,
Laß fahren dahin!
Sie haben's kein Gewinn;
Das Reich muß uns doch bleiben.
MARTIN LUTHER
Gottes Liebe sagt uns, daß er freundlich ist, und sein Wort
versichert uns, daß er unser Freund ist und uns zu seinen Freunden
machen möchte. Kein Mensch, der auch nur eine Spur Demut
besitzt, würde von sich aus behaupten, ein Freund Gottes zu sein.
Der Gedanke daran stammt nicht von Menschen. Abraham hätte
nie gesagt: »Ich bin Gottes Freund«, sondern Gott selbst bezeichnet ihn als seinen Freund. Die Jünger hätten wahrscheinlich
gezögert, von einer Freundschaft zu Christus zu reden. Aber Jesus
sagte zu ihnen: »Ihr seid meine Freunde.« Während Bescheidenheit bei einer solchen Vorstellung Bedenken äußert, wagt es der
kühne Glaube, dem Wort zu vertrauen und auf die Freundschaft
Gottes einzugehen. Wir ehren Gott viel mehr, wenn wir glauben,
was er über sich selbst gesagt hat, und den Mut haben, kühn zum
Gnadenthron hinzutreten, als wenn wir uns in selbsterwählter
Demut hinter den Bäumen des Gartens verstecken.
Liebe ist auch eine gefühlsmäßige Identifikation. Sie betrachtet
nichts als ihr Eigentum, sondern verschenkt alles an den Gegenstand ihrer Zuneigung. Das beobachten wir in unserer Welt voll
Männer und Frauen ja immer wieder. Eine junge Mutter, abgemagert und müde, nährt an ihrer Brust ein pummeliges, gesundes
Baby. Ohne überhaupt daran zu denken, ihren eigenen Zustand
117
beklagen zu können, blickt die Mutter mit stolzen und glücklichen
Augen auf ihr Kind. Selbstlose Opfer sind für die Liebe nichts
Ungewöhnliches. Christus sagte von sich: »Niemand hat größere
Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde« (Joh
15,13).
Es ist eine seltsame und schöne Eigenart des freien Gottes, daß
er sich emotional mit den Menschen identifizieren läßt. Obwohl er
selbstgenügsam ist, will er unsere Liebe und ist nicht eher befriedigt, als bis er sie bekommt. Obwohl er frei ist, hat er sein Herz auf
immer mit uns verbunden. »Darin besteht die Liebe: nicht, daß
wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt
seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden« (1 Jo 4,10). »Unsere Seele wird in einer so besonderen Weise von ihm, dem
Allerhöchsten, geliebt«, sagt Julia von Norwich, »daß es die
Erkenntnis aller Kreaturen übersteigt. Das heißt: Es gibt kein
Geschöpf, das weiß, wie sehr und wie zärtlich uns unser Schöpfer
liebt. Und darum mögen wir mit seiner Gnade und Hilfe still
verharren in geistlichem Schauen, mit einem immerwährenden
Staunen über diese hohe, überragende, unschätzbare Liebe, die
der allmächtige Gott in seiner Güte zu uns hat.«26
Ein weiteres Merkmal der Liebe ist, daß sie sich am Gegenstand
ihrer Zuneigung freut. Gott freut sich an seiner Schöpfung. Der
Apostel Johannes sagt, daß Gottes Absicht mit der Schöpfung sein
eigenes Wohlgefallen war. Gott ist glücklich in seiner Liebe zu
allem, was er gemacht hat. Wir können das Freudengefühl in den
Aussagen Gottes über sein Werk nicht übersehen. Psalm 104 ist
ein göttlich inspiriertes, von Glück überfülltes Naturgedicht, das
immer wieder das Wohlgefallen Gottes zum Ausdruck bringt.
»Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich, der Herr freue sich
seiner Werke!« (Ps 104,31).
Ganz besonders freut sich der Herr an seinen Heiligen. Viele
stellen sich Gott etwa so vor: Er ist weit weg, schaut finster drein
und ist mit allem äußerst unzufrieden. In apathischer Stimmung
starrt er auf eine Erde nieder, an der er schon lange sein Interesse
verloren hat. Aber das ist eine irrige Vorstellung. Gewiß, Gott haßt
die Sünde und kann sich niemals mit ihr abfinden. Aber wo
Menschen danach trachten, Gottes Willen zu tun, antwortet er mit
echter Zuneigung. Christus hat durch sein Sühnopfer die Schranke
118
zur Gemeinschaft mit Gott beseitigt. Nunmehr sind alle an
Christus gläubigen Menschen Gegenstand der Freude Gottes.
»Denn der Herr, dein Gott, ist bei dir, ein starker Heiland. Er
wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir
vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich
sein« (Zeph 3,17).
Im Buche Hiob lesen wir, daß Gottes Schöpfungswerk unter
musikalischer Begleitung geschah. »Wo warst du«, fragt Gott, »als
ich die Erde gründete..., als mich die Morgensterne miteinander
lobten und jauchzten alle Gottessöhne?«
Aus Harmonie, aus himmlischer Harmonie
Begann dieses Universumsgefüge.
Als die Natur als ein Haufen
Rasselnder Atome dalag
Und ihr Haupt nicht erheben konnte,
Wurde die klangvolle Stimme aus der Höhe vernommen:
»Steht auf, ihr Ungeformten!«
Da stellten sich Kälte und Wärme, Nässe und Trockenheit
In ihren ordnungsgemäßen Platz
Und gehorchten der Kraft der Stimme.
Aus Harmonie, aus himmlischer Harmonie
Begann dieses Universumsgefüge:
Von Harmonie zu Harmonie,
So lief es um den ganzen Weltenkreis,
Um sich als harmonisches Ganzes im Menschen zu vollenden.
JOHN DRYDEN
Musik ist sowohl ein Ausdruck wie auch eine Quelle der
Freude. Und die Freude, die am reinsten ist und Gott am meisten
entspricht, ist die Freude der Liebe. Die Hölle ist ein Ort, an dem
es keine Freude gibt, weil es dort keine Liebe gibt. Der Himmel ist
voller Musik, weil er der Ort ist, an dem die Freuden heiliger
Liebe im Überfluß vorhanden sind. Die Erde ist der Ort, an dem
die Freuden mit Schmerz vermischt sind, weil es auf ihr Sünde,
Haß und Feindschaft gibt. In einer Welt wie der unsrigen muß
Liebe manchmal leiden, so wie Christus gelitten hat, als er sich für
119
die Seinen dahingab. Aber wir haben die gewisse Verheißung, daß
die Ursachen des Leidens letzten Endes beseitigt werden und daß
das neue Menschengeschlecht sich auf ewig einer Welt voller
selbstloser, vollkommener Liebe erfreuen wird.
Es liegt in der Natur der Liebe, daß sie nicht untätig bleiben
kann. Sie ist aktiv, schöpferisch und wohltätig. »Gott aber erweist
seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben ist, als wir
noch Sünder waren« (Rom 5,8). »Also hat Gott die Welt geliebt,
daß er seinen eingeborenen Sohn gab« (Joh 3,16). So muß es sein,
wo Liebe ist. Liebe muß geben, was immer es auch kostet. Die
Apostel tadelten die jungen Gemeinden scharf, weil einige ihrer
Glieder das vergessen hatten und nur an sich selbst dachten,
während ihre Brüder in Not waren. »Wenn aber jemand dieser
Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein
Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?« So schrieb
jener Johannes, der durch die Jahrhunderte hindurch als »der
Jünger, den Jesus liebte«, bekannt ist (1 Jo 3,17).
Die Liebe Gottes ist eine der großen Realitäten des Universums, ein Pfeiler, auf dem die Hoffnung der Welt ruht. Aber sie ist
auch etwas Persönliches, Intimes. Gott liebt nicht Bevölkerungen,
er liebt Völker. Er liebt nicht Massen, sondern Menschen. Er liebt
uns alle mit einer mächtigen Liebe, die keinen Anfang hat und
kein Ende haben kann.
Die christliche Glaubenserfahrung kennt einen höchst befriedigenden Liebesinhalt, der sie von allen anderen Religionen unterscheidet und weit über die reinsten und edelsten Philosophien
erhebt. Dieser Inhalt ihrer Liebe ist mehr als irgend etwas. Es ist
der inmitten seiner Gemeinde weilende und über sein Volk
singende Gott. Echte Glaubensfreude ist das harmonische Echo
des Herzens auf den Liebesgesang des Herrn.
Ich bete an die Macht der Liebe,
Die sich in Jesu offenbart;
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
Wodurch ich Wurm geliebet ward;
Ich will, anstatt an mich zu denken,
Ins Meer der Liebe mich versenken.
GERHARD TERSTEEGEN
Unser Vater, der Du bist im Himmel! Wir, Deine Kinder,
sind oft bekümmert, weil wir in uns zur gleichen Zeit den
Zuspruch des Glaubens und die Anklage des Gewissens
hören. Wir wissen nur zu gut, daß in uns nichts ist, was die
Liebe eines so Heiligen und Gerechten, wie Du es bist,
gewinnen könnte. Doch Du hast Deine unwandelbare
Liebe zu uns in Christus Jesus bezeugt. Wenn nichts in uns
Deine Liebe gewinnen kann, so kann auch nichts im
Universum Dich daran hindern, uns zu lieben. Deine
Liebe ist unverdient und kommt aus freien Stücken. Du
selbst bist der Grund für die Liebe, mit der wir geliebt
werden. Hilf uns, an die Intensität und die Ewigkeit der
Liebe zu glauben, die uns gefunden hat. Dann wird die
Liebe die Furcht vertreiben, und unsere bekümmerten
Herzen werden zum Frieden erhalten, indem wir nicht
darauf vertrauen, was wir sind, sondern darauf, was Du
über Dich selbst gesagt hast. Amen.
Der Apostel Johannes schrieb vom Geist getrieben: »Gott ist
Liebe«, und manche haben seine Worte als eine definitive Aussage über das Wesen Gottes aufgefaßt. Das ist ein großer Irrtum.
Johannes hat mit seinen Worten eine Tatsache bezeugt, aber
niemals eine Definition angeboten.
Die Liebe mit Gott gleichsetzen zu wollen, ist absolut falsch,
und dieser Fehler wurde zum Ursprung ungesunder Religionsphilosophie und einer Flut von nebelhafter Poesie, die überhaupt
nicht mit der Heiligen Schrift übereinstimmen und aus einem
anderen Klima stammen als das historische Christentum.
Hätte der Apostel gesagt, daß Liebe das ist, was Gott ist, wären
wir zu der Annahme gezwungen, daß Gott das ist, was Liebe ist.
Wenn Gott buchstäblich Liebe ist, dann ist Liebe buchstäblich
Gott, und wir müßten die Liebe als den einzigen Gott anbeten,
den es gibt. Wenn Liebe mit Gott gleich ist, dann ist Gott nur mit
114
Liebe gleich, und Liebe und Gott wären identisch. Auf diese
Weise aber zerstören wir das Konzept der Persönlichkeit Gottes
und leugnen alle seine Eigenschaften - mit einer Ausnahme, und
diese Ausnahme setzen wir an Gottes Stelle. Der Gott, den wir
damit verlassen haben, ist nicht der Gott Israels. Er ist nicht der
Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Er ist nicht der Gott
der Propheten und der Apostel. Er ist nicht der Gott der Heiligen,
der Reformatoren und der Märtyrer. Und er ist auch nicht der
Gott der Theologen und der Liederdichter der Gemeinde Jesu.
Wir müssen um der eigenen Seele willen lernen, die Heilige
Schrift zu verstehen. Wir müssen der Sklaverei der Worte entfliehen und uns statt dessen treu an ihre Bedeutung halten. Worte
sollen Gedanken zum Ausdruck bringen, aber nicht erzeugen.
Wir sagen, daß Gott Liebe ist. Wir sagen, daß Gott Licht ist. Wir
sagen, daß Christus die Wahrheit ist. Und wir wollen solche Worte
in ähnlicher Weise verstanden wissen, wie wenn man von einem
Mann sagt: »Er ist die Freundlichkeit selbst.« Damit stellen wir
keinesfalls fest, daß Freundlichkeit und dieser Mann identisch
sind, und niemand würde unsere Worte in diesem Sinne verstehen.
Die Worte »Gott ist Liebe« bedeuten, daß Liebe eine wesentliche Eigenschaft Gottes ist. Liebe ist etwas, das auf Gott zutrifft,
aber sie ist nicht Gott. Sie drückt die Art aus, wie Gott in seinem
Wesen ist, ebenso wie die Worte Heiligkeit, Gerechtigkeit, Treue
und Wahrheit. Weil Gott unwandelbar ist, handelt er immer sich
selbst entsprechend, und weil er eine Wesenseinheit ist, stellt er
nie eine seiner Eigenschaften zurück, um eine andere zum Zuge
kommen zu lassen.
Von den anderen uns bekannten göttlichen Eigenschaften
können wir viel über Gottes Liebe lernen. Aus der Unbedingtheit
Gottes zum Beispiel können wir schließen, daß seine Liebe keinen
Anfang hat. Weil er ewig ist, kann seine Liebe auch kein Ende
haben. Weil er unendlich ist, kennt sie keine Grenzen. Weil er
heilig ist, ist sie die Quintessenz aller makellosen Reinheit. Weiler
unermeßlich ist, ist seine Liebe ein unbegreiflich großer, grundund uferloser Ozean, vor dem wir in beglücktem Schweigen
niederknien und vor dem sich die schönsten Worte verwirrt und
beschämt zurückziehen müssen.
115
Doch wenn wir Gott kennen und um anderer willen von ihm
sprechen, so müssen wir versuchen, von seiner Liebe zu reden.
Alle Gläubigen haben das schon versucht, aber noch keiner hat es
wirklich sehr gut gemacht. Ich vermag diesem gewaltigen und
wundervollen Thema ebensowenig gerecht zu werden, wie ein
Kind nach Sternen fassen kann. Aber es kann, indem es nach
einem Stern greifen will, die Aufmerksamkeit auf ihn lenken und
die Richtung angeben, in welche man schauen muß, um ihn zu
sehen. Wenn ich also von der herrlichen, leuchtenden Liebe
Gottes rede, wird vielleicht irgendjemand, der vorher noch nichts
von ihr wußte, dadurch ermutigt, nach oben zu blicken und
Hoffnung zu schöpfen!
Wir wissen es nicht und werden vielleicht auch nie richtig
wissen, was Liebe ist. Aber wir können wissen, wie sie sich
kundtut, und das ist für uns in diesem Zusammenhang genug.
Zunächst einmal tut sie sich als Wohlwollen kund. Liebe will für
alle das Gute, nie das Schlechte. Das erklärt die Worte des
Apostels Johannes: »Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die
vollkommene Liebe treibt die Furcht aus« (1 Jo 4,17b-18a). Furcht
ist das schmerzhafte Gefühl, das bei dem Gedanken, wir könnten
Schaden nehmen oder müßten leiden, entsteht. Diese Furcht
dauert so lange an, wie wir dem Willen einer Person unterworfen
sind, die uns nicht wohlgesinnt ist. Sobald wir jedoch unter dem
Schutz eines Menschen, der uns positiv gesinnt ist, stehen, weicht
die Furcht. Ein in einem Warenhaus verlorengegangenes Kind ist
voller Furcht, weil es die fremden Menschen um sich als Feinde
betrachtet. In den Armen der Mutter ist alle Angst vergessen. Das
Wissen um das Wohlwollen der Mutter vertreibt die Furcht.
Die Welt ist voller Feinde, und solange wir der Möglichkeit
ausgesetzt sind, durch sie Schaden zu erleiden, ist Furcht unvermeidlich. Der Versuch, sie zu besiegen, ohne die Gründe zu
beseitigen, ist ein nutzloses Unterfangen. Das Herz ist weiser als
die Apostel der Gelassenheit. Solange wir in den Händen des
Zufalls sind; solange wir mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen rechnen müssen; solange wir im Bestreben um das Überleben auf
unsere Fähigkeiten vertrauen müssen - so lange haben wir allen
Grund, uns zu fürchten. Und Furcht bringt Pein.
Zu wissen, daß Gott Liebe ist, sich zu ihm zu flüchten und sich
116
auf den Arm des Geliebten zu stützen - das und nichts anderes
kann die Furcht vertreiben. Man überzeuge einen Menschen, daß
für ihn gar keine Gefahr besteht und ihm nichts schaden kann, so
wird er augenblicklich alle Furcht vergessen. Wohl mag manchmal
noch eine natürliche Reaktion auf physischen Schmerz auftreten,
aber das quälende Angstgefühl ist für immer verschwunden. Gott
ist Liebe, und Gott ist souverän. Seine Liebe läßt ihn unser ewiges
Wohlergehen wünschen, und seine Souveränität befähigt ihn, es
auch zu sichern.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib,
Laß fahren dahin!
Sie haben's kein Gewinn;
Das Reich muß uns doch bleiben.
MARTIN LUTHER
Gottes Liebe sagt uns, daß er freundlich ist, und sein Wort
versichert uns, daß er unser Freund ist und uns zu seinen Freunden
machen möchte. Kein Mensch, der auch nur eine Spur Demut
besitzt, würde von sich aus behaupten, ein Freund Gottes zu sein.
Der Gedanke daran stammt nicht von Menschen. Abraham hätte
nie gesagt: »Ich bin Gottes Freund«, sondern Gott selbst bezeichnet ihn als seinen Freund. Die Jünger hätten wahrscheinlich
gezögert, von einer Freundschaft zu Christus zu reden. Aber Jesus
sagte zu ihnen: »Ihr seid meine Freunde.« Während Bescheidenheit bei einer solchen Vorstellung Bedenken äußert, wagt es der
kühne Glaube, dem Wort zu vertrauen und auf die Freundschaft
Gottes einzugehen. Wir ehren Gott viel mehr, wenn wir glauben,
was er über sich selbst gesagt hat, und den Mut haben, kühn zum
Gnadenthron hinzutreten, als wenn wir uns in selbsterwählter
Demut hinter den Bäumen des Gartens verstecken.
Liebe ist auch eine gefühlsmäßige Identifikation. Sie betrachtet
nichts als ihr Eigentum, sondern verschenkt alles an den Gegenstand ihrer Zuneigung. Das beobachten wir in unserer Welt voll
Männer und Frauen ja immer wieder. Eine junge Mutter, abgemagert und müde, nährt an ihrer Brust ein pummeliges, gesundes
Baby. Ohne überhaupt daran zu denken, ihren eigenen Zustand
117
beklagen zu können, blickt die Mutter mit stolzen und glücklichen
Augen auf ihr Kind. Selbstlose Opfer sind für die Liebe nichts
Ungewöhnliches. Christus sagte von sich: »Niemand hat größere
Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde« (Joh
15,13).
Es ist eine seltsame und schöne Eigenart des freien Gottes, daß
er sich emotional mit den Menschen identifizieren läßt. Obwohl er
selbstgenügsam ist, will er unsere Liebe und ist nicht eher befriedigt, als bis er sie bekommt. Obwohl er frei ist, hat er sein Herz auf
immer mit uns verbunden. »Darin besteht die Liebe: nicht, daß
wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt
seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden« (1 Jo 4,10). »Unsere Seele wird in einer so besonderen Weise von ihm, dem
Allerhöchsten, geliebt«, sagt Julia von Norwich, »daß es die
Erkenntnis aller Kreaturen übersteigt. Das heißt: Es gibt kein
Geschöpf, das weiß, wie sehr und wie zärtlich uns unser Schöpfer
liebt. Und darum mögen wir mit seiner Gnade und Hilfe still
verharren in geistlichem Schauen, mit einem immerwährenden
Staunen über diese hohe, überragende, unschätzbare Liebe, die
der allmächtige Gott in seiner Güte zu uns hat.«26
Ein weiteres Merkmal der Liebe ist, daß sie sich am Gegenstand
ihrer Zuneigung freut. Gott freut sich an seiner Schöpfung. Der
Apostel Johannes sagt, daß Gottes Absicht mit der Schöpfung sein
eigenes Wohlgefallen war. Gott ist glücklich in seiner Liebe zu
allem, was er gemacht hat. Wir können das Freudengefühl in den
Aussagen Gottes über sein Werk nicht übersehen. Psalm 104 ist
ein göttlich inspiriertes, von Glück überfülltes Naturgedicht, das
immer wieder das Wohlgefallen Gottes zum Ausdruck bringt.
»Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich, der Herr freue sich
seiner Werke!« (Ps 104,31).
Ganz besonders freut sich der Herr an seinen Heiligen. Viele
stellen sich Gott etwa so vor: Er ist weit weg, schaut finster drein
und ist mit allem äußerst unzufrieden. In apathischer Stimmung
starrt er auf eine Erde nieder, an der er schon lange sein Interesse
verloren hat. Aber das ist eine irrige Vorstellung. Gewiß, Gott haßt
die Sünde und kann sich niemals mit ihr abfinden. Aber wo
Menschen danach trachten, Gottes Willen zu tun, antwortet er mit
echter Zuneigung. Christus hat durch sein Sühnopfer die Schranke
118
zur Gemeinschaft mit Gott beseitigt. Nunmehr sind alle an
Christus gläubigen Menschen Gegenstand der Freude Gottes.
»Denn der Herr, dein Gott, ist bei dir, ein starker Heiland. Er
wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir
vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich
sein« (Zeph 3,17).
Im Buche Hiob lesen wir, daß Gottes Schöpfungswerk unter
musikalischer Begleitung geschah. »Wo warst du«, fragt Gott, »als
ich die Erde gründete..., als mich die Morgensterne miteinander
lobten und jauchzten alle Gottessöhne?«
Aus Harmonie, aus himmlischer Harmonie
Begann dieses Universumsgefüge.
Als die Natur als ein Haufen
Rasselnder Atome dalag
Und ihr Haupt nicht erheben konnte,
Wurde die klangvolle Stimme aus der Höhe vernommen:
»Steht auf, ihr Ungeformten!«
Da stellten sich Kälte und Wärme, Nässe und Trockenheit
In ihren ordnungsgemäßen Platz
Und gehorchten der Kraft der Stimme.
Aus Harmonie, aus himmlischer Harmonie
Begann dieses Universumsgefüge:
Von Harmonie zu Harmonie,
So lief es um den ganzen Weltenkreis,
Um sich als harmonisches Ganzes im Menschen zu vollenden.
JOHN DRYDEN
Musik ist sowohl ein Ausdruck wie auch eine Quelle der
Freude. Und die Freude, die am reinsten ist und Gott am meisten
entspricht, ist die Freude der Liebe. Die Hölle ist ein Ort, an dem
es keine Freude gibt, weil es dort keine Liebe gibt. Der Himmel ist
voller Musik, weil er der Ort ist, an dem die Freuden heiliger
Liebe im Überfluß vorhanden sind. Die Erde ist der Ort, an dem
die Freuden mit Schmerz vermischt sind, weil es auf ihr Sünde,
Haß und Feindschaft gibt. In einer Welt wie der unsrigen muß
Liebe manchmal leiden, so wie Christus gelitten hat, als er sich für
119
die Seinen dahingab. Aber wir haben die gewisse Verheißung, daß
die Ursachen des Leidens letzten Endes beseitigt werden und daß
das neue Menschengeschlecht sich auf ewig einer Welt voller
selbstloser, vollkommener Liebe erfreuen wird.
Es liegt in der Natur der Liebe, daß sie nicht untätig bleiben
kann. Sie ist aktiv, schöpferisch und wohltätig. »Gott aber erweist
seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben ist, als wir
noch Sünder waren« (Rom 5,8). »Also hat Gott die Welt geliebt,
daß er seinen eingeborenen Sohn gab« (Joh 3,16). So muß es sein,
wo Liebe ist. Liebe muß geben, was immer es auch kostet. Die
Apostel tadelten die jungen Gemeinden scharf, weil einige ihrer
Glieder das vergessen hatten und nur an sich selbst dachten,
während ihre Brüder in Not waren. »Wenn aber jemand dieser
Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein
Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?« So schrieb
jener Johannes, der durch die Jahrhunderte hindurch als »der
Jünger, den Jesus liebte«, bekannt ist (1 Jo 3,17).
Die Liebe Gottes ist eine der großen Realitäten des Universums, ein Pfeiler, auf dem die Hoffnung der Welt ruht. Aber sie ist
auch etwas Persönliches, Intimes. Gott liebt nicht Bevölkerungen,
er liebt Völker. Er liebt nicht Massen, sondern Menschen. Er liebt
uns alle mit einer mächtigen Liebe, die keinen Anfang hat und
kein Ende haben kann.
Die christliche Glaubenserfahrung kennt einen höchst befriedigenden Liebesinhalt, der sie von allen anderen Religionen unterscheidet und weit über die reinsten und edelsten Philosophien
erhebt. Dieser Inhalt ihrer Liebe ist mehr als irgend etwas. Es ist
der inmitten seiner Gemeinde weilende und über sein Volk
singende Gott. Echte Glaubensfreude ist das harmonische Echo
des Herzens auf den Liebesgesang des Herrn.
Ich bete an die Macht der Liebe,
Die sich in Jesu offenbart;
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
Wodurch ich Wurm geliebet ward;
Ich will, anstatt an mich zu denken,
Ins Meer der Liebe mich versenken.
GERHARD TERSTEEGEN
Sulzbacher 28.08.2021 12:42
Die Treue Gottes
Das ist ein köstlich Ding, Dir danken und Deinem Namen
lobsingen, Du Höchster, des Morgens Deine Gnade und
des Nachts Deine Treue verkündigen. Wie Dein Sohn, als
er auf Erden weilte, Dir, seinem himmlischen Vater, treu
war, so steht er jetzt im Himmel treu zu uns, seinen
irdischen Brüdern. Und in diesem Wissen gehen wir
vorwärts und sehen voller Zuversicht und Hoffnung der
Zukunft entgegen. Amen.
Wie ich schon an anderen Stellen betonte, sind Gottes Eigenschaften nicht isolierte Charakterzüge, sondern Einzelteile seines
ganzheitlichen Wesens. Sie sind nicht etwas, das in sich selbst
besteht, sondern Gedanken, die wir über Gott haben, Aspekte
eines vollkommenen Ganzen, Namen, mit denen wir das bezeichnen, was wir als Wahrheit der Gottheit erkannt haben.
Um ein richtiges Verständnis von Gottes Eigenschaften zu
haben, ist es wichtig, daß wir sie als Einheit sehen. Wohl können
wir jede einzeln untersuchen, aber wir können sie nicht voneinander trennen. »Alle Gott zugeschriebenen Eigenschaften können
sich in Wirklichkeit - aufgrund der vollkommenen >Einheit<
Gottes - nicht voneinander unterscheiden, obgleich wir verschiedene Worte dafür gebrauchen«, sagt Nicolaus von Kues. »Deshalb, obwohl wir Gott Sehen, Hören, Schmecken, Riechen,
Berühren, Fühlen, Denken, Verstand usw. zuschreiben - und das
in jeder Bedeutung des jeweiligen Wortes -, ist doch bei ihm
Sehen nichts anderes als Hören oder Schmecken, Riechen oder
Berühren, Fühlen oder Verstehen. So formt alle Theologie sozusagen einen Kreis, da jede einzelne der Eigenschaften Gottes
durch die anderen bestätigt wird.«23
Beim Studium der einzelnen Eigenschaften wird die eigentliche
Einheit aller Eigenschaften bald ersichtlich. Zum Beispiel sehen
wir, daß, wenn Gott unbedingt, in sich selbst existierend ist, ersieh
auch selbst genügen muß; und wenn er Macht hat, dann muß
91
er - weil er unendlich ist - alle Macht haben. Wenn er Wissen
besitzt, dann bedingt seine Unendlichkeit, daß er alles Wissen
besitzt. Ähnlich ist von seiner Unveränderlichkeit auf seine Treue
zu schließen. Ist er unwandelbar, so folgt daraus, daß er nicht
untreu sein kann; denn das würde erfordern, daß er sich verändert. Eine Schwäche im göttlichen Wesen würde Unvollkommenheit bedeuten. Aber da Gott vollkommen ist, kann er keine
Schwäche kennen. So erklärt eine Eigenschaft die andere und
beweist, daß es lediglich flüchtige Eindrücke sind, die unser Sinn
von der absolut vollkommenen Gottheit erhascht.
Alle Taten Gottes stehen in Übereinstimmung mit seinen
Eigenschaften. Keine Eigenschaft widerspricht einer anderen,
sondern sie harmonisieren miteinander und gehen in der unendlichen Tiefe der Gottheit ineinander über. Alles, was Gott tut,
deckt sich mit dem, was Gott ist. Tun und Sein ist in ihm eins. Die
bekannte Vorstellung von einem Gott, der zwischen seiner Gerechtigkeit und seiner Gnade hin und her gerissen ist, entspricht
überhaupt nicht den Tatsachen; außerdem würde dies bedeuten,
sich einen Gott vorzustellen, der sich seiner selbst nicht sicher,
sondern frustriert und gefühlsmäßig unbeständig ist. Das hieße
natürlich, daß der, von dem wir in dieser Weise denken, nicht der
wahre Gott ist, sondern nur ein schwacher, vollkommen unscharfer geistiger Widerschein des lebendigen Gottes.
Gott kann aufgrund dessen, was er ist, nicht aufhören zu sein,
was er ist. Und weil er ist, was er ist, kann er nicht im Widerspruch
zu seinem Wesen handeln. Er ist gleichzeitig treu und unveränderlich, und so muß er auch in all seinen Worten und Taten treu sein
und treu bleiben. Menschen werden untreu aus Vorsatz, Angst,
Schwachheit, verlorengegangenem Interesse oder aufgrund eines
starken äußeren Einflusses. Es liegt auf der Hand, daß nichts von
alledem Gott auch nur im geringsten beeinflussen kann. Er ist sich
selbst Grund für alles, was er ist und tut. Er kann nicht von außen
her zu etwas gezwungen werden, sondern redet und handelt stets
aus eigenem Antrieb, seinem souveränen Willen und Wohlgefallen entsprechend.
Es kann meiner Meinung nach bewiesen werden, daß jede
Irrlehre, die der Gemeinde Jesu im Laufe der Jahre zu schaffen
gemacht hat, entweder durch falsche Gottesvorstellungen oder
92
durch Überbetonung bestimmter Lehren entstanden ist. Eine
Eigenschaft so hervorzuheben, daß dadurch eine andere verdunkelt oder gar ausgeschlossen wird, bedeutet, sich in einen betrüblichen theologischen Morast zu versenken. Und trotzdem sind wir
immer wieder versucht, genau das zu tun!
Zum Beispiel lehrt die Bibel, daß Gott Liebe ist. Durch die Art
und Weise, wie manche das ausgelegt haben, ist Gottes Gerechtigkeit, die von der Bibel ja auch gelehrt wird, so gut wie geleugnet
worden. Andere überspitzen die Lehre von der Güte Gottes so
sehr, daß sie in Widerspruch zu seiner Heiligkeit gesetzt wird.
Manche bringen es fertig, durch Überbetonung seines Erbarmens
seine Wahrheit aufzuheben. Wieder andere verstehen die
Souveränität Gottes in einer Weise, die seine Güte und Liebe
zerstört oder auf ein Minimum herabsetzt.
Nur dann stehen wir der Wahrheit korrekt gegenüber, wenn wir
all das zu glauben wagen, was Gott über sich selbst ausgesagt hat.
Der Mensch lädt sich eine schwere Verantwortung auf, wenn er
die Offenbarung Gottes um jene Teile zu verkürzen trachtet, die
ihm in seiner Unwissenheit als anfechtbar erscheinen.
Wenn jemand unter uns so vermessen ist, etwas Derartiges zu
versuchen, dann muß ja Blindheit auf ihn fallen. Dabei ist das
völlig unnötig. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, die
Wahrheit so stehenzulassen, wie sie geschrieben ist. Es gibt unter
den göttlichen Eigenschaften keine Konflikte. Gottes Wesen ist
unitär, das heißt, vollkommen eins in sich. Es kann sich nicht
spalten und zu gegebener Zeit der einen Eigenschaft entsprechend
handeln, während die übrigen untätig bleiben. Alles, was Gott ist,
muß mit all dem übereinstimmen, was Gott ist. Gerechtigkeit muß
in der Gnade gegenwärtig sein, und Liebe im Gericht. So verhält
es sich mit allen göttlichen Eigenschaften.
Für eine gesunde Theologie ist die Treue Gottes eine reine
Tatsache, aber für den Gläubigen ist sie weit mehr. Zuerst wird sie
vom Verstand erfaßt und wird dann zur Nahrung für die Seele.
Denn die Bibel lehrt nicht nur die Wahrheit, sie zeigt auch ihren
Nutzen für die Menschheit. Die inspirierten Schreiber standen
mitten im Leben und waren Menschen wie wir. Was sie über Gott
erfuhren, wurde für sie zu einem Schwert, zu einem Schild, zu
einem Hammer. Es wurde ihre Lebensmotivation, ihre Hoffnung
93
und ihre zuversichtliche Erwartung. Aus den objektiven theologischen Fakten leiteten ihre Herzen unzählige, beglückende persönliche Anwendungen ab ! Die Psalmen sind voll von frohem Dank für
die Treue Gottes. Das Neue Testament greift das Thema auf und
preist die Treue Gottes, des Vaters, und seines Sohnes Jesu Christi,
der vor Pontius Pilatus sein Zeugnis abgelegt hat. In der Offenbarung sehen wir Christus, wie er auf einem weißen Pferd seinem
Triumph entgegenreitet, und seine Namen sind Treue und Wahrhaftigkeit.
Auch das christliche Lied preist die Eigenschaften Gottes, und
unter diesen die göttliche Treue. In unsern Liederbüchern werden
sie zu einer Quelle, aus der Ströme fröhlicher Melodien entspringen. Hier und dort mag sich noch ein altes Gesangbuch finden,
dessen Lieder keinen Titel tragen. Dafür deutet eine in Schrägschrift vorangesetzte Zeile das Thema an, und das von Anbetung
erfüllte Herz kann sich über das, was es da findet, nur freuen: »Preis
der herrlichen Vollkommenheit Gottes«, »Weisheit, Majestät und
Güte«, »Allwissenheit«, »Allmacht und Unwandelbarkeit«,
»Herrlichkeit, Barmherzigkeit und Gnade« - das sind nur ein paar
Beispiele, die einem 1849 in England herausgegebenen Gesangbuch entnommen sind. Doch jeder, der die christlichen Lieder
kennt, weiß, daß die lange Reihe der geistlichen Lieder schon in der
Frühzeit der Gemeinde Jesu ihren Anfang nahm. Von Anfang an
weckte der Glaube an die Vollkommenheit Gottes in den Gläubigen frohe Zuversicht und lehrte sie zu allen Zeiten zu singen.
Gottes Treue ist der tragende Grund unserer Hoffnung auf die
zukünftige Glückseligkeit. Sein Bund und seine Verheißungen
stehen und fallen mit seiner Treue. Nur wenn wir die völlige
Gewißheit haben, daß er treu ist, können wir im Frieden leben und
zuversichtlich dem zukünftigen Leben entgegenblicken. Jeder von
uns kann diese Wahrheit und alles, was sich daraus ergibt, für sich
selbst und seine Bedürfnisse in Anspruch nehmen. Der Angefochtene, der Bekümmerte, der Furchtsame, der Niedergeschlagenesie alle können neue Hoffnung und neuen Mut schöpfen in dem
Wissen, daß unser Vater im Himmel treu ist. Er wird immer zu
seinem Wort stehen. Die hartbedrängten Söhne des Bundes dürfen
gewiß sein, daß er ihnen nie seine Barmherzigkeit entziehen und nie
seine Treue brechen wird!
94
Glücklich der Mann, dessen Hoffnung sich auf den Gott
Israels stützt;
Er schuf den Himmel und die Erde und die Meere mit
Ihrem ganzen Gefolge;
Seine Wahrheit steht immer fest;
Er rettet die Unterdrückten, Er speiset die Armen,
Und keiner wird Seine Verheißung unerfüllt finden.
ISAAC WATTS
Das ist ein köstlich Ding, Dir danken und Deinem Namen
lobsingen, Du Höchster, des Morgens Deine Gnade und
des Nachts Deine Treue verkündigen. Wie Dein Sohn, als
er auf Erden weilte, Dir, seinem himmlischen Vater, treu
war, so steht er jetzt im Himmel treu zu uns, seinen
irdischen Brüdern. Und in diesem Wissen gehen wir
vorwärts und sehen voller Zuversicht und Hoffnung der
Zukunft entgegen. Amen.
Wie ich schon an anderen Stellen betonte, sind Gottes Eigenschaften nicht isolierte Charakterzüge, sondern Einzelteile seines
ganzheitlichen Wesens. Sie sind nicht etwas, das in sich selbst
besteht, sondern Gedanken, die wir über Gott haben, Aspekte
eines vollkommenen Ganzen, Namen, mit denen wir das bezeichnen, was wir als Wahrheit der Gottheit erkannt haben.
Um ein richtiges Verständnis von Gottes Eigenschaften zu
haben, ist es wichtig, daß wir sie als Einheit sehen. Wohl können
wir jede einzeln untersuchen, aber wir können sie nicht voneinander trennen. »Alle Gott zugeschriebenen Eigenschaften können
sich in Wirklichkeit - aufgrund der vollkommenen >Einheit<
Gottes - nicht voneinander unterscheiden, obgleich wir verschiedene Worte dafür gebrauchen«, sagt Nicolaus von Kues. »Deshalb, obwohl wir Gott Sehen, Hören, Schmecken, Riechen,
Berühren, Fühlen, Denken, Verstand usw. zuschreiben - und das
in jeder Bedeutung des jeweiligen Wortes -, ist doch bei ihm
Sehen nichts anderes als Hören oder Schmecken, Riechen oder
Berühren, Fühlen oder Verstehen. So formt alle Theologie sozusagen einen Kreis, da jede einzelne der Eigenschaften Gottes
durch die anderen bestätigt wird.«23
Beim Studium der einzelnen Eigenschaften wird die eigentliche
Einheit aller Eigenschaften bald ersichtlich. Zum Beispiel sehen
wir, daß, wenn Gott unbedingt, in sich selbst existierend ist, ersieh
auch selbst genügen muß; und wenn er Macht hat, dann muß
91
er - weil er unendlich ist - alle Macht haben. Wenn er Wissen
besitzt, dann bedingt seine Unendlichkeit, daß er alles Wissen
besitzt. Ähnlich ist von seiner Unveränderlichkeit auf seine Treue
zu schließen. Ist er unwandelbar, so folgt daraus, daß er nicht
untreu sein kann; denn das würde erfordern, daß er sich verändert. Eine Schwäche im göttlichen Wesen würde Unvollkommenheit bedeuten. Aber da Gott vollkommen ist, kann er keine
Schwäche kennen. So erklärt eine Eigenschaft die andere und
beweist, daß es lediglich flüchtige Eindrücke sind, die unser Sinn
von der absolut vollkommenen Gottheit erhascht.
Alle Taten Gottes stehen in Übereinstimmung mit seinen
Eigenschaften. Keine Eigenschaft widerspricht einer anderen,
sondern sie harmonisieren miteinander und gehen in der unendlichen Tiefe der Gottheit ineinander über. Alles, was Gott tut,
deckt sich mit dem, was Gott ist. Tun und Sein ist in ihm eins. Die
bekannte Vorstellung von einem Gott, der zwischen seiner Gerechtigkeit und seiner Gnade hin und her gerissen ist, entspricht
überhaupt nicht den Tatsachen; außerdem würde dies bedeuten,
sich einen Gott vorzustellen, der sich seiner selbst nicht sicher,
sondern frustriert und gefühlsmäßig unbeständig ist. Das hieße
natürlich, daß der, von dem wir in dieser Weise denken, nicht der
wahre Gott ist, sondern nur ein schwacher, vollkommen unscharfer geistiger Widerschein des lebendigen Gottes.
Gott kann aufgrund dessen, was er ist, nicht aufhören zu sein,
was er ist. Und weil er ist, was er ist, kann er nicht im Widerspruch
zu seinem Wesen handeln. Er ist gleichzeitig treu und unveränderlich, und so muß er auch in all seinen Worten und Taten treu sein
und treu bleiben. Menschen werden untreu aus Vorsatz, Angst,
Schwachheit, verlorengegangenem Interesse oder aufgrund eines
starken äußeren Einflusses. Es liegt auf der Hand, daß nichts von
alledem Gott auch nur im geringsten beeinflussen kann. Er ist sich
selbst Grund für alles, was er ist und tut. Er kann nicht von außen
her zu etwas gezwungen werden, sondern redet und handelt stets
aus eigenem Antrieb, seinem souveränen Willen und Wohlgefallen entsprechend.
Es kann meiner Meinung nach bewiesen werden, daß jede
Irrlehre, die der Gemeinde Jesu im Laufe der Jahre zu schaffen
gemacht hat, entweder durch falsche Gottesvorstellungen oder
92
durch Überbetonung bestimmter Lehren entstanden ist. Eine
Eigenschaft so hervorzuheben, daß dadurch eine andere verdunkelt oder gar ausgeschlossen wird, bedeutet, sich in einen betrüblichen theologischen Morast zu versenken. Und trotzdem sind wir
immer wieder versucht, genau das zu tun!
Zum Beispiel lehrt die Bibel, daß Gott Liebe ist. Durch die Art
und Weise, wie manche das ausgelegt haben, ist Gottes Gerechtigkeit, die von der Bibel ja auch gelehrt wird, so gut wie geleugnet
worden. Andere überspitzen die Lehre von der Güte Gottes so
sehr, daß sie in Widerspruch zu seiner Heiligkeit gesetzt wird.
Manche bringen es fertig, durch Überbetonung seines Erbarmens
seine Wahrheit aufzuheben. Wieder andere verstehen die
Souveränität Gottes in einer Weise, die seine Güte und Liebe
zerstört oder auf ein Minimum herabsetzt.
Nur dann stehen wir der Wahrheit korrekt gegenüber, wenn wir
all das zu glauben wagen, was Gott über sich selbst ausgesagt hat.
Der Mensch lädt sich eine schwere Verantwortung auf, wenn er
die Offenbarung Gottes um jene Teile zu verkürzen trachtet, die
ihm in seiner Unwissenheit als anfechtbar erscheinen.
Wenn jemand unter uns so vermessen ist, etwas Derartiges zu
versuchen, dann muß ja Blindheit auf ihn fallen. Dabei ist das
völlig unnötig. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, die
Wahrheit so stehenzulassen, wie sie geschrieben ist. Es gibt unter
den göttlichen Eigenschaften keine Konflikte. Gottes Wesen ist
unitär, das heißt, vollkommen eins in sich. Es kann sich nicht
spalten und zu gegebener Zeit der einen Eigenschaft entsprechend
handeln, während die übrigen untätig bleiben. Alles, was Gott ist,
muß mit all dem übereinstimmen, was Gott ist. Gerechtigkeit muß
in der Gnade gegenwärtig sein, und Liebe im Gericht. So verhält
es sich mit allen göttlichen Eigenschaften.
Für eine gesunde Theologie ist die Treue Gottes eine reine
Tatsache, aber für den Gläubigen ist sie weit mehr. Zuerst wird sie
vom Verstand erfaßt und wird dann zur Nahrung für die Seele.
Denn die Bibel lehrt nicht nur die Wahrheit, sie zeigt auch ihren
Nutzen für die Menschheit. Die inspirierten Schreiber standen
mitten im Leben und waren Menschen wie wir. Was sie über Gott
erfuhren, wurde für sie zu einem Schwert, zu einem Schild, zu
einem Hammer. Es wurde ihre Lebensmotivation, ihre Hoffnung
93
und ihre zuversichtliche Erwartung. Aus den objektiven theologischen Fakten leiteten ihre Herzen unzählige, beglückende persönliche Anwendungen ab ! Die Psalmen sind voll von frohem Dank für
die Treue Gottes. Das Neue Testament greift das Thema auf und
preist die Treue Gottes, des Vaters, und seines Sohnes Jesu Christi,
der vor Pontius Pilatus sein Zeugnis abgelegt hat. In der Offenbarung sehen wir Christus, wie er auf einem weißen Pferd seinem
Triumph entgegenreitet, und seine Namen sind Treue und Wahrhaftigkeit.
Auch das christliche Lied preist die Eigenschaften Gottes, und
unter diesen die göttliche Treue. In unsern Liederbüchern werden
sie zu einer Quelle, aus der Ströme fröhlicher Melodien entspringen. Hier und dort mag sich noch ein altes Gesangbuch finden,
dessen Lieder keinen Titel tragen. Dafür deutet eine in Schrägschrift vorangesetzte Zeile das Thema an, und das von Anbetung
erfüllte Herz kann sich über das, was es da findet, nur freuen: »Preis
der herrlichen Vollkommenheit Gottes«, »Weisheit, Majestät und
Güte«, »Allwissenheit«, »Allmacht und Unwandelbarkeit«,
»Herrlichkeit, Barmherzigkeit und Gnade« - das sind nur ein paar
Beispiele, die einem 1849 in England herausgegebenen Gesangbuch entnommen sind. Doch jeder, der die christlichen Lieder
kennt, weiß, daß die lange Reihe der geistlichen Lieder schon in der
Frühzeit der Gemeinde Jesu ihren Anfang nahm. Von Anfang an
weckte der Glaube an die Vollkommenheit Gottes in den Gläubigen frohe Zuversicht und lehrte sie zu allen Zeiten zu singen.
Gottes Treue ist der tragende Grund unserer Hoffnung auf die
zukünftige Glückseligkeit. Sein Bund und seine Verheißungen
stehen und fallen mit seiner Treue. Nur wenn wir die völlige
Gewißheit haben, daß er treu ist, können wir im Frieden leben und
zuversichtlich dem zukünftigen Leben entgegenblicken. Jeder von
uns kann diese Wahrheit und alles, was sich daraus ergibt, für sich
selbst und seine Bedürfnisse in Anspruch nehmen. Der Angefochtene, der Bekümmerte, der Furchtsame, der Niedergeschlagenesie alle können neue Hoffnung und neuen Mut schöpfen in dem
Wissen, daß unser Vater im Himmel treu ist. Er wird immer zu
seinem Wort stehen. Die hartbedrängten Söhne des Bundes dürfen
gewiß sein, daß er ihnen nie seine Barmherzigkeit entziehen und nie
seine Treue brechen wird!
94
Glücklich der Mann, dessen Hoffnung sich auf den Gott
Israels stützt;
Er schuf den Himmel und die Erde und die Meere mit
Ihrem ganzen Gefolge;
Seine Wahrheit steht immer fest;
Er rettet die Unterdrückten, Er speiset die Armen,
Und keiner wird Seine Verheißung unerfüllt finden.
ISAAC WATTS
Herr, Du kennst alles; Du weißt, wann ich sitze und wann
ich aufstehe; alle meine Wege sind Dir bekannt. Ich kann
Dir nichts erzählen, was Dir neu wäre, und jeder Versuch,
etwas vor Dir verbergen zu wollen, ist umsonst. Im Lichte
Deines vollkommenen Wissens bin ich so unwissend wie
ein kleines Kind. Hilf mir, alle Sorge wegzutun; denn Du
kennst den Weg, den ich gehe, und aus Deiner Prüfung
werde ich wie geläutertes Gold hervorgehen. Amen.
Wenn wir von der Allwissenheit Gottes reden, so meinen wir
damit, daß er vollkommenes Wissen besitzt und darum nichts
hinzuzulernen braucht. Aber es bedeutet noch mehr. Es bedeutet,
daß Gott nie etwas gelernt hat, daß er gar nicht lernen kann.
Die Heilige Schrift sagt uns, daß Gott niemals etwas von einem
anderen gelernt hat. »Wer bestimmt den Geist des Herrn, und
welcher Ratgeber unterweist ihn? Wen fragt er um Rat, der ihm
Einsicht gebe und lehre ihn den Weg des Rechts und lehre ihn
Erkenntnis und weise ihm den Weg des Verstandes?« (Jes 40,13
bis 14). »Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein
Ratgeber gewesen?« (Rom 11,34). Diese schon beantworteten
Fragen des Propheten Jesaja sagen deutlich aus, daß Gott nie
etwas erlernen mußte.
Daraus zu schließen, daß Gott auch nichts hinzulernen kann, ist
nun ein kleiner Schritt. Könnte Gott irgendwann oder irgendwie
zusätzlich Wissen aufnehmen, so wäre er unvollkommen und nicht
Gott. Könnten wir uns Gott vorstellen, wie er zu Füßen eines
Lehrers - und wäre es ein Erzengel oder Seraph - säße, so würden
wir dabei keinesfalls an Gott, den Allerhöchsten und Schöpfer des
Himmels und der Erde, denken.
Daß ich das Thema der Allwissenheit Gottes damit einleite, zu
beschreiben, wie Gott nicht ist, halte ich dadurch für gerechtfertigt, daß ich es einfacher finde, uns, die wir noch nicht viel über
Gott wissen, diese Eigenschaft Gottes auf diesem Wege verständ67
licher zu machen. Von dieser Methode haben wir auch in den
bisherigen Betrachtungen schon öfters Gebrauch gemacht. Wir
haben gesehen, daß Gott keinen Ursprung und keinen Anfang
hat, daß er keine Helfer braucht, daß er keinen Veränderungen
unterworfen ist und daß sein Wesen keine Beschränkungen kennt.
Auch die inspirierten Verfasser der Heiligen Schrift haben sich
dieser Methode der Verneinung bedient. »Weißt du nicht? Hast
du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der
Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt« (Jes 40,28). Die
eindrückliche Feststellung, die Gott über sich selbst macht: »Ich,
der Herr, wandle mich nicht«, sagt mehr über die göttliche
Allwissenheit aus, als eine eingehende Abhandlung es zu tun
vermöchte. Gottes ewige Wahrhaftigkeit wird vom Apostel Paulus durch eine Verneinung bestätigt: »Gott, der nicht lügt« (Tit
1,2). Die Bestätigung des Engels, daß »bei Gott kein Ding
unmöglich« ist, fügt sich mit der obigen Verneinung zu etwas
unüberhörbar Positivem zusammen.
Daß Gott allwissend ist, wird nicht nur in der Bibel gelehrt,
sondern ist auch aus all dem zu schließen, was wir sonst über ihn
wissen. Gott weiß alles über seine eigene Person, und weil er selbst
Quelle und Ursprung aller Dinge ist, folgt daraus auch sein alles
umfassendes Wissen. Dieses Wissen hat er im gleichen Augenblick eines Geschehens und in absoluter Vollkommenheit. Er
kennt jede Einzelheit aller Dinge, die irgendwo im All irgendwann existiert haben, noch existieren oder erst existieren werden.
Gott kennt sofort, ausnahmslos und ohne Mühe, alle Dinge,
alle Gedanken, alle Geister, alle Wesen, alle Geschöpfe, alle
Gesetze, alle Beziehungen, alle Geheimnisse, alle Rätsel, alle
Gefühle, alle Wünsche, alles Verborgene, alle Throne und Reiche, alle Persönlichkeiten, alles Sichtbare und Unsichtbare im
Himmel und auf der Erde, Bewegung, Raum, Zeit, Leben, Tod,
Gut und Böse, Himmel und Hölle.
Weil Gott alle Dinge vollkommen durchschaut, kennt er das
eine nicht besser als das andere, entdeckt er nie etwas, ist nie
überrascht und nie erstaunt oder verwundert. Er sucht keine
Informationen und stellt keine Fragen, es sei denn, daß er einen
Menschen die Wahrheit zu dessen Wohl bekennen läßt.
Gott, der in sich selbst besteht und in sich alles enthält, kennt
68
das, was keine Kreatur kennen kann - sich selbst. »So weiß auch
niemand, was in Gott ist, als allein der Geist Gottes« (1 Kor 2,11).
Nur der Unendliche kann das Unendliche kennen.
Die göttliche Allwissenheit führt uns den Schrecken und die
Faszination der Gottheit vor Augen. Daß Gott jeden Menschen
durch und durch kennt, kann für einen, der etwas zu verbergen
hat, Grund zum Zittern und Fürchten sein. Ein Mensch, dereine
Sünde gegen andere oder Gott zu verstecken sucht, tut wohl
daran, vor Gott zu zittern, da dieser ja die Fadenscheinigkeit jeder
Ausrede und Entschuldigung für sündiges Verhalten genau kennt.
»Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte
Sünde ins Licht vor deinem Angesicht« (Ps 90,8). Welch ein
erschreckender Anblick ist es, zu sehen, wie sich die Söhne Adams
zwischen den Bäumen eines anderen Gartens verstecken. Doch
wo sollen sie sich verbergen? »Wohin soll ich gehen vor deinem
Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?...
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht
um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und
die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht«
(Ps 139,7.11-12).
Welch unaussprechlicher Trost liegt für uns, die wir bei ihm
Zuflucht haben und die im Evangelium dargebotene Hoffnung
ergreifen, in dem Wissen, daß unser himmlischer Vater uns durch
und durch kennt. Niemand kann uns bei ihm verleumden, kein
Feind kann uns anklagen, kein vergessener dunkler Punkt kann
plötzlich aus einem verborgenen Winkel hervorgeholt werden und
uns demütigen und unsere Vergangenheit offen darlegen. Keine
unerwartete Schwachheit unseres Charakters kann ans Licht
kommen und Gott dazu veranlassen, sich von uns abzuwenden;
denn er kannte uns schon, ehe wir ihn kannten, und rief uns zu sich
in voller Kenntnis dessen, was gegen uns stand. »Denn es sollen
wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll
nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht
hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer« (Jes 54,10).
Unser Vater im Himmel kennt unsere Art und weiß, daß wir
Staub sind. Er wußte um unsere angeborene Verderbtheit und
rettete uns um seinetwillen (Jes 48,8-11). Sein eingeborener Sohn
fühlte, als er unter uns wandelte, unsere Schmerzen und auch
69
intensive Angst. Christus kennt unsere Anfechtungen und Nöte
nicht nur theoretisch, sondern persönlich; er kann sie mitfühlen.
Was uns auch immer widerfahren mag, Gott weiß es und ist um
uns besorgt, wie kein anderer es sein kann.
Er gibt allen seine Freude;
Er wird zum kleinen Säugling;
Er wird ein Mann der Schmerzen;
Er spürt auch das Leid.
Denke nicht, Du könntest einen Seufzer seufzen,
Und Dein Schöpfer wäre nicht dabei;
Denke nicht, du könntest eine Träne weinen, und Dein
Schöpfer wäre nicht nahe.
Ach! Er gibt uns seine Freude,
Um unsere Schmerzen zu vernichten;
Bis unser Schmerz davongeflogen ist,
Sitzt er bei uns und stöhnt mit uns.
WILLIAM BLAKE