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Nähe als Mittel gegen Radikalisierung

Nähe als Mittel gegen Radikalisierung
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Ich fand den folgenden Artikel von Dana Buchzik so gut, dass ich ihn unbedingt ganz einstellen muss.
Zuwendung und - oft nur scheinbare - Liebe sind zunächst wichtige Mittel zur Verführung. Aber sie können ebenso auch wieder aus Verführung und Radikalisierung heraushelfen:

Nähe als Mittel gegen Radikalisierung

Wer Radikalisierte erreichen will, muss verstehen, dass sie sich nicht durch Argumente überzeugen lassen. Sondern durch Nähe.

Wir leben in einem Frühling der Verschwörungsideologien. Das ist spätestens deutlich geworden, seit Menschen zu Tausenden auf die Straßen ziehen, weil sie glauben, dass Bill Gates nicht nur schier endlos dauernde Windows-Updates, sondern auch eine globale Pandemie zu verantworten hätte. Seit katholische Bischöfe behaupten, es drohe sowohl eine Impfpflicht als auch eine sämtliche Bürgerrechte unterjochende "Weltregierung".

Trolle oder Sektenmitglieder, Verschwörungsgläubige, Islamisten oder Neonazis agitieren schon seit Langem, auch in unserer Mitte. Doch menschenfeindliche Ideologien werden oft erst dann als Problem erkannt, wenn sie nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlichen Frieden bedrohen. Wenn Menschen öffentlichkeitswirksam hetzen, Umsturz propagieren oder, im schlimmsten Fall, zu Attentätern werden.

Der Polizistenmord eines Reichsbürgers, der islamistische Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt oder das rechtsterroristische Attentat in Hanau sind tragische Beweise für die Gefahr dieser Ideologien. Die sich weiter aufheizende Stimmung in Deutschland, die vielen Drohungen gegen öffentliche Akteure, die demokratiefeindlichen Parolen bei Hygienedemos – sie verleihen der Frage eine neue, schmerzhafte Dringlichkeit: Wie schafft man es, Menschen zu erreichen, die in die Fänge des Extremismus geraten sind?

Ein Radikalisierungsprozess lässt sich mit einer Emulsion vergleichen: Es verbindet sich, was eigentlich nicht zusammenpasst. Daniel Köhler, Direktor des German Institute on Radicalization and De-radicalization Studies (Girds), beschreibt, dass negative Emotionen, etwa Trauer oder Angst, mit positiven Emotionen, etwa dem Versprechen von Gerechtigkeit oder Rettung, zu einer Heldengeschichte verknüpft werden, mit dem Radikalisierten als schillerndem Protagonisten, der den einzigen Grund aller Probleme dieser Welt kennt, der um die einzig mögliche Lösung weiß und der die einzige Zukunft gesehen hat, für die es sich zu leben (oder auch: zu sterben) lohnt.

Der Emulgator für dieses Gemisch ist Vertrauen. Radikale Gruppen, die sehr schnell gewachsen sind, wie der IS oder die Moonies (Vereinigungskirche), missionieren psychologisch fundiert. Ihre Anwerber sind darin geschult, die Persönlichkeit ihrer Gegenüber schnell einzuschätzen und ihre Gesprächsstrategie entsprechend anzupassen. Potenzielle Opfer werden in Sozialen Medien, Messenger-Gruppen und offenbar sogar auf Dating-Plattformen kontaktiert und mit Strategien wie Love Bombing in Scheinfreundschaften hinein manipuliert. Im Anfangsstadium geht es nicht um die Eliminierung von Feinden. Es geht um Katzenbilder. Um Gutenacht- und Gutenmorgengrüße, um harmlose Witze. Um eine glückliche, freie Welt, die am Horizont aufscheint und den Alltag überstrahlt.

Jede Radikalisierung ist die Geschichte einer Verführung. Zu einer Verführung gehört das Glück des Anfangs. Wer ehrlich überzeugt ist, die Lösung für die Probleme der Welt gefunden zu haben, wer glaubt, tiefe und unverbrüchliche Freundschaft zu erleben, ist glücklich. Deswegen erleben Familie und Freunde die frühen Phasen der Radikalisierung nicht als Warnzeichen, auch wenn sich schon erste Verhaltensänderungen zeigen, etwa in Form eines "züchtigeren" Kleidungsstils, einer Vernachlässigung alter Freundschaften, nächtelanger Computersessions, einer Fixierung auf religiöse Alltagsregeln oder ständige Verweise auf germanisch-heidnische Geschichte. Oft wird erst, wenn der Honeymoon vorbei ist, für das Umfeld sichtbar, was geschieht.

Eine radikale Ideologie bedeutet nur kurzzeitig psychische Entlastung. Eine Heldengeschichte funktioniert auf Dauer nur, wenn ihr Protagonist auch Heldentaten vollbringt. Eine Einzelperson aber, die in einem demokratischen System lebt, kann nicht auf die Schnelle ein Germanisches Reich, das Kalifat oder den Himmel auf Erden einläuten. Sobald die radikalisierte Person ihr Heldennarrativ als gefährdet erlebt, baut sich psychischer Druck auf. Es folgen häufig Versuche, das direkte Umfeld zu missionieren, inklusive aggressiver Ausbrüche, sobald jemand zu widersprechen wagt. Nach dem unvermeidlichen Scheitern der Missionierungsbemühungen wird die Frustration oft online ausagiert: Bei Twitter, in Kommentarspalten oder als Drohmails an Politiker oder Journalisten. Wenn jetzt nicht interveniert wird, droht der Betroffene in einen Teufelskreis abzurutschen. Er wird immer radikalere Maßnahmen in Betracht zu ziehen, um sein erklärtes Ziel zu erreichen.

Bloß nichts über QAnon anlesen

Wie lässt sich mit solcher Wut umgehen? Online werden meist zwei Strategien propagiert; beide aber verschlimmern eher das Problem. Die erste Strategie kann man als Rhetorikpingpong bezeichnen. In dem lebhaft diskutierten Werk Mit Rechten reden etwa behaupteten Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn, es seien vor allem pointierte Rückfragen nötig, um rechtsradikale Weltsichten in sich zusammenfallen zu lassen. Auch NGOs plädieren gern für "Gegenrede" und bewerben Argumentationsworkshops. Einer radikalisierten Person aber geht es oft gar nicht um die Inhalte, die sie permanent propagiert. Es gibt zahlreiche Beispiele von Menschen, die von einer Sekte in die nächste geschlittert, vom Links- zum Rechtsextremismus oder auch vom Rechtsextremismus in den Islamismus gewechselt sind. Ideologien sind Vehikel, um das eigene Leben als Heldengeschichte erzählen zu können; ihre Inhalte sind austauschbar.

Wer also mit Verschwörungstheoretikern konfrontiert ist, muss sich nicht über QAnon und Adrenochrom einlesen. Mehr noch: Er sollte es lassen. Sich mit solchen Inhalten auseinanderzusetzen, löst im besten Fall Unverständnis, im schlechtesten Fall Wut aus, die ein konstruktives Gespräch erschweren können. Der Versuch rein faktenbasierter Entkräftung ist fast immer Zeit- und Energievergeudung: Selbst nicht radikalisierte Menschen verarbeiten Informationen nicht objektiv und wehren unbewusst Fakten ab, die ihr Weltbild ins Wanken bringen könnten. Bei radikalisierten Personen ist die jeweilige Ideologie so stark mit dem persönlichen Lebenssinn verwoben, dass jede inhaltliche Entkräftung wie ein lebensbedrohlicher Angriff wahrgenommen wird. Das kann gerade online, wenn sich der Radikalisierungsgrad des Gegenübers nicht einschätzen lässt, sehr gefährlich werden.

Die zweite Strategie wählen die meisten: blockieren (online) oder Kontaktvermeidung (offline). Online mag das ratsam sein, offline aber gilt es, eines zu bedenken: Angehörige und Freunde sind die mächtigste Allianz gegen Radikalisierung. Ihr Rückhalt kann Menschen am besten dabei helfen, gewalttätige Gangs, Sekten oder terroristische Vereinigungen hinter sich zu lassen. Akteure wie Women without Borders oder Girds arbeiten seit Jahren mit Angehörigen, im Speziellen Müttern, von radikalisieren Personen. Im Fokus stehen hier nicht Argumente, sondern persönliche Bindung und deeskalierende Kommunikation.

Psychologisch fundierte Unterstützung wird in Deutschland vor allem im Bereich Islamismus und Rechtsextremismus angeboten. Angesichts der Scham, die Angehörige und Freunde oft empfinden – wer gibt schon gern zu, dass der eigene Partner gerade zum Reichsbürger wird oder die eigene Mutter bei Hygienedemos mitläuft? –, bräuchte es mehr professionelle Beratungsangebote auch für andere Formen der Radikalisierung.

Wer mit einer radikalisierten Person konfrontiert ist, erlebt Abwertung und Aggression. Er muss in Betracht ziehen, eine Beratungsstelle oder auch die Polizei zu kontaktieren, sobald Gewaltfantasien geäußert werden. Er muss Zeit und Kraft aufbringen, ohne zu wissen, ob seine Mühe irgendwann Früchte tragen wird. Es ist niemandem vorzuwerfen, sich schützen zu wollen und den Kontakt zu einer radikalisierten Person abzubrechen. Man muss sich aber bewusst sein, dass damit das Problem nicht gelöst wird.

Der Psychologe Ahmad Mansour erklärte den Erfolg der islamistischen Ideologie bei Jugendlichen einmal folgendermaßen: "Salafisten sind die besseren Sozialarbeiter." Familien sind, um es mit den Worten Daniel Köhlers zu sagen, "lebende Gegenerzählungen". Sie kennen die radikalisierte Person besser als jeder Menschenfänger. Aus ihrem Wissen über Stärken, Wünsche, Verletzlichkeiten, Werte und Lebensziele einer Person kann die Geschichte einer Heldenreise entstehen, für die der Held oder die Heldin nicht den Boden humanistischer Werte verlassen muss.

Quelle:
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/umgang-mit-verschwoerungstheoretikern-deradikalisieung-rechtsextremisten-strategien-verhalten/komplettansich

Kommentare

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(Nutzer gelöscht) 06.06.2020 11:17
Interessante Denkansätze. Danke fürs teilen. 👍
 
RolfK 06.06.2020 11:25
Es ist wie beim Arzt: Wenn man nicht durchblickt, neigt man dazu, den sympathischeren Arzt auszuwählen. Der ist aber nicht unbedingt der fachkundigste. Und wenn man sich ihm ausliefert, kann man womöglich an den falschen geraten sein.

So ist es auch bei den Welterklärern: Wer selbst nicht ausreichend informiert ist, sucht sich den sympathischsten und scheinbar vertrauenswürdigsten Erklärer. Und kann dann damit ziemlich bös danebenliegen.
 
(Nutzer gelöscht) 06.06.2020 11:32
@Rolf - Es ist allerdings auch so, das manches garnicht so einfach zu durchschauen ist. Oft mus man richtig suchen, um nicht falsch informiert zu sein. Ob der Arzt gut war, weißt du auch erst im Nachgang...
 
RolfK 06.06.2020 11:42
power,
du hast leider recht.
 
(Nutzer gelöscht) 06.06.2020 12:37
Ganz nett der Artikel. Leider wird Radikalisierung immer noch mit Rechts gleichgesetzt. Das jemand durch Kapitalismuskritik, Hass auf Amerika, Israel zu einem radikalen Sozialisten wird, geht medial total unter. 
 
(Nutzer gelöscht) 06.06.2020 12:48
Das ist ein sehr interessanter Beitrag. Danke dafür. Was mir mittlerweile auch klar geworden ist, dass die intellektuelle Auseinandersetzung mit Gegenargumenten keinen Sinn macht. Zumal die VTler ja selbst nicht argumentieren, sondern die emotionale Schiene fahren. Bei Rückfragen bekommt man auch keine Auskünfte, sondern nur Aggression und Hass zu spüren. Deshalb lasse ich mich hier bei CsC auch nicht auf solche sinnfreien Diskussionen ein. Ich sperre diese Menschen aus! Auch um mich zu schützen.

Im privaten Bereich, habe ich mit einer Person vereinbart dieses Thema auszuklammern. Das klappt verhältnismäßig gut. Und natürlich ist das Gebet nach wie vor eine Waffe.
 
(Nutzer gelöscht) 06.06.2020 12:57
Definition Ideologie laut Duden:

https://www.duden.de/rechtschreibung/Ideologie

Laut Wikipedia:
"Ideologie steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für Weltanschauung. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf Karl Marx zurückgehend das „falsche Bewusstsein" einer Gesellschaft bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen Wissenssoziologie jedes System von Normen als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden. Seit Marx und Engels bezieht sich der Ideologiebegriff auf „Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern". Der Ideologiebegriff nach Marx, der im westlichen Marxismus eine zentrale Rolle spielt, geht davon aus, dass das herrschende Selbstbild vom objektiv möglichen Selbstbild der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verschieden ist." Äh, ja. VT sind ganz klar Ideologien. Man schaue nur auf die gewaltsamen Proteste für die Grundrechte und gegen eine vermeintliche Diktatur. Wie in der Weimarer Republik: Dort sahen Linke und Rechte auch die Demokratie gefährdet- jeder aus seiner eigenen Perspektive. Was kam raus: Hitler, der dieses Machtvakuum geschickt ausnutzen konnte.
 
RolfK 06.06.2020 14:08
Es geht um Radikalisierung im Artikel. Jede Ideologie treibt einen vielleicht zunächst guten Gedanken auf die Spitze und macht ihn damit praxis- und weltfremd.
Das gibt es auf der linken und auf der rechten Seite, wobei im Moment die rechte Seite dominierender und schlagkräftiger wirkt.
Verschwörungstheorien haben insofern auch mit Radikalisierung zu tun, dass sie bestimmte Problemkonstellationen vereinfachen, übertreiben und allzu simple Lösungen anbieten, die dann sehr radikal sein können.
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