ist nicht meine ganze Person – als Weinstock zu nehmen.

CH2006

Ich bekunde der zutreffenden und zuverlässigen Auslegung, die im Weinstock [des Gleichnisses bei Matthäus 20,15] die universale Kirche sieht, allen gebührenden Respekt: der Weinstock stellt Christus dar, die Reben die Christgläubigen, der Winzer und Eigentümer den Vater im Himmel, der Tag die Gesamtheit der Zeit oder die Lebenszeit des Menschen, die Stunden die Zeitalter der Welt oder die Lebensalter des Einzelnen, der Ort die Betriebsamkeit der Welt, die nach Geld giert.

Persönlich sehe ich jedoch gern meine Seele und auch meinen Leib – also meine ganze Person – als Weinstock. Ich darf ihn nicht vernachlässigen, ich muss das Erdreich aufhacken und ihn bearbeiten, damit ihn nicht fremde Zweige und Wurzeln ersticken oder eigene Schösslinge sein Wachstum beeinträchtigen. Ich muss ihn ausästen, damit er nicht zu viel Holz ansetzt, ihn zuschneiden, damit er mehr Frucht bringt. Ich muss unbedingt um ihn herum eine Hecke anlegen, damit Vorübergehende ihn nicht plündern können, vor allem dass der Eber aus dem Wald ihn nicht umwühlt (vgl. Ps 80,14). Ich muss ihn mit größter Sorgfalt kultivieren, damit der Rebstock selbst nicht entartet und so das Herz Gottes und der Menschen nicht mehr erfreuen kann (vgl. Ps 104,15) oder es gar betrübt. Ich muss ihn mit größter Wachsamkeit beschützen, damit der Ertrag, der so viel Mühe kostete und so lange auf sich warten ließ, nicht heimlich von denen entwendet wird, die „in ihrem Versteck den Armen fressen“ (Hab 3,14), damit also der Ertrag nicht plötzlich in einer unvorhergesehenen Verwüstung verlorengeht. Deshalb hat der erste Mensch den Befehl erhalten, zu arbeiten und das Paradies zu hüten, als wäre es sein Weinstock (Gen 2,15).

Isaak von Stella (? - um 1171), Zisterziensermönch
Das Gleichnis vom Weinstock