Unser Sonntag: Heiliger Boden, heiliger Raum
03.11.2024 07:58
Unser Sonntag: Heiliger Boden, heiliger Raum
03.11.2024 07:58
Unser Sonntag: Heiliger Boden, heiliger Raum
In dieser ersten Betrachtung für den November zeigt sich Sr. Anna Schenck beeindruckt von dem „Flow“ zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten. Gottes Gegenwart wird in dieser Begegnung spürbar und man kann von „heiligem Boden“ sprechen.
M. Anna Schenck CJ
31. Sonntag im Jahreskreis (B) (Mk 12,28b-34)
Eigentlich eine normale Szene, so sollte man meinen: Zwei Glaubenslehrer unterhalten sich über religiöse Fragestellungen. Denn der Austausch über solche Fragen ist doch notwendig, um den Glauben noch besser zu verstehen – und ihn dann anderen gut vermitteln zu können.
Vielleicht entspannt sich ein Gespräch aber auch daran, dass die beiden von einer sehr spezifischen Frage gefesselt sind und Lust daran haben, diese Frage mit den Methoden, die sie gelernt haben, von allen Seiten zu beleuchten. Eigentlich ist es nichts Besonderes, jedenfalls in meiner Vorstellung von jüdischen Gelehrten, dass sie sich in einen Dialog über einen Aspekt des Glaubens vertiefen.
Gott ist der ganz Andere
In der Szene, die Sie gerade gehört haben, ist das jedoch anders. Sie mündet nicht in eine lebhafte Diskussion, an deren Ende sich die beiden Experten vielleicht schmunzelnd auf die Schulter klopfen und einander zusagen, dass GOTT ohnehin der ganz Andere ist, viel größer als alle menschlichen Vorstellungen. Diese Szene, dieser eher kurze Austausch, endet in einem ehrfurchtsvollen Schweigen – nicht nur der beiden Glaubenslehrer, sondern aller Anwesenden. Was nur ist an diesem Gespräch so ganz anders?
Tiefe Begegnung zweier Menschen
Zwei Elemente stechen mir ins Auge, die ich mit Ihnen teilen möchte:
Zum einen werden wir in diesem Evangelium Zeuginnen und Zeugen einer ganz tiefen Begegnung zweier Menschen. Durch die Berufsbezeichnung „Schriftgelehrter“ wird zwar zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei Jesu Gesprächspartner um einen Menschen handelt, der die Schrift und ihre Auslegung wirklich studiert, sich vertieft mit dem Glauben auseinandergesetzt hat, um einen Profi also. Und auch Jesus wird ja niemand absprechen, dass er als Rabbi ein vertieftes Glaubenswissen hat. Der kann ja bereits als 12-jähriger im Tempel in den Diskussionen der Gelehrten mithalten und gibt bemerkenswerte Antworten. Aber es geht hier nicht um einen intellektuellen Austausch.
Es geht nicht um eine Fangfrage
Und noch viel weniger verfolgt der Schriftgelehrte mit seiner Frage ein ganz anderes Ziel, wie es ja auch häufiger in den Evangelien berichtet wird: Jesus im Lagerkampf zwischen verschiedenen Gruppen auf die eigene Seite zu ziehen, so wie es im Abschnitt des Markusevangeliums der Fall ist, der dem heutigen Evangelium direkt vorausgeht. Erst recht geht es nicht um eine Fangfrage, um etwas gegen Jesus in der Hand zu haben und ihn letztlich als unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg schaffen zu können. Nein!
„Dieser Schriftgelehrte, der im Evangelium keinen Namen trägt, begegnet Jesus als Mensch“
Dieser Schriftgelehrte, der im Evangelium keinen Namen trägt, begegnet Jesus als Mensch, als Mensch, der ganz persönlich am Glauben interessiert ist, der sich von Gott hat berühren und berufen lassen. Er geht auf Jesus zu, aus echtem Interesse an ihm und mit einer wirklichen Frage. Es kommt zu einer bewegenden Begegnung zweier Menschen – und zwar auf Augenhöhe.
Es ist für mich immer wieder aufs Neue faszinierend, mich in dieses Hin und Her dieser Begegnung hinein zu begeben. Denn letztlich ist am Ende gar nicht mehr klar, wer hier der Experte ist, der auf die Frage des anderen reagiert. Vielmehr bewegt sich da etwas, es geht zwischen den beiden hin und her. Die beiden sind ganz „im Flow“, würden wir heute vielleicht sagen.
Dem Schriftgelehrten geht das Herz auf
Die Reaktion des Schriftgelehrten „Ganz richtig hast du gesagt“ verleitet uns vielleicht zur Annahme, dass der Schriftgelehrte die Antwort Jesu beurteilt. Aber dazu passt dann die Reaktion Jesu „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ – und letztlich auch der Umstehenden – so gar nicht. Nein, dem Schriftgelehrten scheint in diesem Moment etwas aufgegangen zu sein, weniger eine Erkenntnis, als sein Herz.
In dieser Begegnung, die auf Echtheit beruht, darauf, dass beide sich als Menschen zeigen und nicht hinter Masken verstecken, eröffnet sich ein tieferer Raum: Gottes Gegenwart wird spürbar. So spürbar, dass der Schriftgelehrte ganz überschwänglich reagiert, Jesus auch als „Meister“ bezeichnet.
Heiliger Boden, Heiliger Raum
Gott wird in dieser Begegnung aber auch für die Zeuginnen und Zeugen so erfahrbar, dass allen klar ist, dass ein weiteres Diskutieren unangemessen ist. Vielmehr werden sie ehrfurchtsvoll still. Manche würden in Anlehnung an die Erfahrung des Mose am Dornbusch vom „heiligen Boden“ sprechen. Ich hoffe und wünsche Ihnen, dass Sie die Erfahrung kennen und immer wieder machen dürfen, dass in einer echten, persönlichen Begegnung mit einem anderen Menschen plötzlich ein heiliger Raum entsteht und Gottes besondere Nähe für Sie spürbar wird.
„Die existentielle Frage: Welches Gebot ist das erste von allen?“
Zu meinem zweiten Punkt: Dieser Dialog von zwei Glaubenslehrern wird zu etwas ganz Besonderem, weil es auch um eine sehr tiefe Frage geht. Der Schriftgelehrte stellt keine Frage nach einem bestimmten „Fall“, wie also in einer speziellen Konstellation ein bestimmtes Gebot anzuwenden ist, auch keine ausgeklüngelte Spezialfrage zur Glaubenslehre. Nein, er konzentriert sich ganz auf die eine Frage, die ihn persönlich umtreibt, eine existenzielle Frage, die sein Leben betrifft, sein Herz berührt: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Ganz offensichtlich fällt es ihm im Dschungel der Gebote und Verbote schwer, sich von ihnen existenziell betreffen zu lassen und zum Kern durchzudringen.
Die Chance auf eine tragfähige Antwort
Er hat den Eindruck, dass es ihm als Menschen in seinem Leben helfen könnte, sich darauf zu fokussieren, was wirklich wichtig ist – und woraus dann so viel Anderes ganz natürlich folgt. Also, keine Fangfrage. Auch kein konstruiertes Gedankengebilde, wie sie in den Evangelien ebenfalls berichtet werden. Nein! Der Schriftgelehrte kommt mit einer echten Frage aus der Tiefe seines Herzens zu Jesus. Er sieht seine Chance, endlich eine echte, eine tragfähige Antwort zu finden. Was ist das Wichtigste im Glauben – und im Leben?
„Das wichtigste ist die Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, die auch die Selbstliebe nicht vergisst. Punkt.“
Auf diese Frage antwortet Jesus auch nicht mit einer Geschichte oder einem Gleichnis. Vielmehr gibt er eine klare, umfassende Antwort: Das wichtigste ist die Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, die auch die Selbstliebe nicht vergisst. Punkt.
Aus den Worten, die Jesus findet bzw. aus der Heiligen Schrift zitiert, wird auch klar, dass diese Liebe kein flüchtiges Gefühl ist, das eben auch schnell wieder verfliegt. Frei nach dem Motto: Die Liebe kommt und die Liebe geht, wir können die Liebe nicht machen. Doch! Wir können viel beitragen, um die Liebe zu erhalten und zu nähren, zu reinigen und mein ganzes Sein davon durchdringen zu lassen.
Die Liebe soll uns als ganze Menschen umfassen
Darum geht es: Die Liebe soll uns als ganze Menschen umfassen: Kopf und Herz, all mein Mühen und all mein Sehnen. So wichtig das Herz auch ist, die Liebe ist nicht nur eine Frage der Emotionalität, auch mein Verstand und mein Wollen sind gefragt. Es geht um mein ganzes Sein.
„Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – Diese Antwort erfüllt die beiden so sehr, dass dem auch nichts mehr hinzuzufügen ist.
„Meine Variante des „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“
In mir klingt da eine persönliche Erfahrung an: Nach einer längeren Suche nach meiner Berufung traf zu einem bestimmten Zeitpunkt die überwältigende innere Klarheit mein Herz: Gott steht an der ersten Stelle in meinem Leben. So wie für Freunde klar war: Beim nächsten beruflichen Schritt steht meine Beziehung, die Partnerschaft, diese Liebe an der ersten Stelle. Es ist meine Variante des „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“ Alles Weitere, die Liebe zu Gott und dem Nächsten, auch der Dienst folgen dann daraus oder sind eine Ausgestaltung dieses Grundsatzes. Wenn dies der Fall ist, werde ich mich auch in den Detailfragen des Lebens richtig zu verhalten wissen.
Du bist nicht fern vom Reich Gottes
Jesus schätzt das aufrichtige Suchen dieses Schriftgelehrten. Die Frage und Reaktion des Schriftgelehrten auf Jesu Antwort machen Jesus deutlich, dass es ihm ein echtes Anliegen ist und er sich von Jesu Worten berühren lässt. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Es geht also beiden nicht um eine intellektuelle Diskussion, schon gar nicht einfach um die korrekte Wiedergabe einer vorgegebenen Antwort. Aus Jesu Sicht kommt es darauf an, dass sein Gegenüber wirklich als Mensch beteiligt ist und aufrichtig sucht.
Teilnehmen am Dialog: Den eigenen Namen einsetzen
Dass der Schriftgelehrte keinen Namen hat, kann auch von Vorteil sein. So kann ich dort meinen eigenen Namen einsetzen. Ich bin eingeladen, persönlich an diesem Dialog zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten teilzunehmen: Was ist die eine große Frage, die mich zurzeit tief drinnen umtreibt, die ich mich vielleicht gar nicht traue, anderen zu stellen, weil sie so existenziell wichtig für mich ist und ich es nicht ertragen würde, wenn andere sie nicht ernst nehmen, sie abbügeln oder gar lächerlich machen würden? Oder, auf die ich von anderen bis jetzt keine befriedigende Antwort bekommen habe, keine Antwort, die meinem Herzen Frieden bringt?
Von IHM geliebt...
Schwierige Fragen, die Mut, Zeit und Raum brauchen, damit sich die richtige Antwort finden lässt. Ich lade Sie ein, in sich hineinzuhören und diese Frage heute Jesus zu stellen, mit einer echten Frage in eine echte Begegnung mit dem Herrn zu gehen. Selbst wenn Sie keine umgehende Antwort bekommen, kann dies doch eine ganz besondere Begegnungserfahrung werden, die Erfahrung von Gottes Gegenwart und Sorge um Sie, die Erfahrung, von IHM geliebt zu werden, die Erfahrung, dass ER Ihnen zutraut, seine Weisung mit ganzem Herzen umzusetzen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen „liebe-vollen“ Sonntag.
(Radio Vatikan - Redaktion Claudia Kaminski)
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M. Anna Schenck CJ
31. Sonntag im Jahreskreis (B) (Mk 12,28b-34)
Eigentlich eine normale Szene, so sollte man meinen: Zwei Glaubenslehrer unterhalten sich über religiöse Fragestellungen. Denn der Austausch über solche Fragen ist doch notwendig, um den Glauben noch besser zu verstehen – und ihn dann anderen gut vermitteln zu können.
Vielleicht entspannt sich ein Gespräch aber auch daran, dass die beiden von einer sehr spezifischen Frage gefesselt sind und Lust daran haben, diese Frage mit den Methoden, die sie gelernt haben, von allen Seiten zu beleuchten. Eigentlich ist es nichts Besonderes, jedenfalls in meiner Vorstellung von jüdischen Gelehrten, dass sie sich in einen Dialog über einen Aspekt des Glaubens vertiefen.
Gott ist der ganz Andere
In der Szene, die Sie gerade gehört haben, ist das jedoch anders. Sie mündet nicht in eine lebhafte Diskussion, an deren Ende sich die beiden Experten vielleicht schmunzelnd auf die Schulter klopfen und einander zusagen, dass GOTT ohnehin der ganz Andere ist, viel größer als alle menschlichen Vorstellungen. Diese Szene, dieser eher kurze Austausch, endet in einem ehrfurchtsvollen Schweigen – nicht nur der beiden Glaubenslehrer, sondern aller Anwesenden. Was nur ist an diesem Gespräch so ganz anders?
Tiefe Begegnung zweier Menschen
Zwei Elemente stechen mir ins Auge, die ich mit Ihnen teilen möchte:
Zum einen werden wir in diesem Evangelium Zeuginnen und Zeugen einer ganz tiefen Begegnung zweier Menschen. Durch die Berufsbezeichnung „Schriftgelehrter“ wird zwar zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei Jesu Gesprächspartner um einen Menschen handelt, der die Schrift und ihre Auslegung wirklich studiert, sich vertieft mit dem Glauben auseinandergesetzt hat, um einen Profi also. Und auch Jesus wird ja niemand absprechen, dass er als Rabbi ein vertieftes Glaubenswissen hat. Der kann ja bereits als 12-jähriger im Tempel in den Diskussionen der Gelehrten mithalten und gibt bemerkenswerte Antworten. Aber es geht hier nicht um einen intellektuellen Austausch.
Es geht nicht um eine Fangfrage
Und noch viel weniger verfolgt der Schriftgelehrte mit seiner Frage ein ganz anderes Ziel, wie es ja auch häufiger in den Evangelien berichtet wird: Jesus im Lagerkampf zwischen verschiedenen Gruppen auf die eigene Seite zu ziehen, so wie es im Abschnitt des Markusevangeliums der Fall ist, der dem heutigen Evangelium direkt vorausgeht. Erst recht geht es nicht um eine Fangfrage, um etwas gegen Jesus in der Hand zu haben und ihn letztlich als unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg schaffen zu können. Nein!
„Dieser Schriftgelehrte, der im Evangelium keinen Namen trägt, begegnet Jesus als Mensch“
Dieser Schriftgelehrte, der im Evangelium keinen Namen trägt, begegnet Jesus als Mensch, als Mensch, der ganz persönlich am Glauben interessiert ist, der sich von Gott hat berühren und berufen lassen. Er geht auf Jesus zu, aus echtem Interesse an ihm und mit einer wirklichen Frage. Es kommt zu einer bewegenden Begegnung zweier Menschen – und zwar auf Augenhöhe.
Es ist für mich immer wieder aufs Neue faszinierend, mich in dieses Hin und Her dieser Begegnung hinein zu begeben. Denn letztlich ist am Ende gar nicht mehr klar, wer hier der Experte ist, der auf die Frage des anderen reagiert. Vielmehr bewegt sich da etwas, es geht zwischen den beiden hin und her. Die beiden sind ganz „im Flow“, würden wir heute vielleicht sagen.
Dem Schriftgelehrten geht das Herz auf
Die Reaktion des Schriftgelehrten „Ganz richtig hast du gesagt“ verleitet uns vielleicht zur Annahme, dass der Schriftgelehrte die Antwort Jesu beurteilt. Aber dazu passt dann die Reaktion Jesu „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ – und letztlich auch der Umstehenden – so gar nicht. Nein, dem Schriftgelehrten scheint in diesem Moment etwas aufgegangen zu sein, weniger eine Erkenntnis, als sein Herz.
In dieser Begegnung, die auf Echtheit beruht, darauf, dass beide sich als Menschen zeigen und nicht hinter Masken verstecken, eröffnet sich ein tieferer Raum: Gottes Gegenwart wird spürbar. So spürbar, dass der Schriftgelehrte ganz überschwänglich reagiert, Jesus auch als „Meister“ bezeichnet.
Heiliger Boden, Heiliger Raum
Gott wird in dieser Begegnung aber auch für die Zeuginnen und Zeugen so erfahrbar, dass allen klar ist, dass ein weiteres Diskutieren unangemessen ist. Vielmehr werden sie ehrfurchtsvoll still. Manche würden in Anlehnung an die Erfahrung des Mose am Dornbusch vom „heiligen Boden“ sprechen. Ich hoffe und wünsche Ihnen, dass Sie die Erfahrung kennen und immer wieder machen dürfen, dass in einer echten, persönlichen Begegnung mit einem anderen Menschen plötzlich ein heiliger Raum entsteht und Gottes besondere Nähe für Sie spürbar wird.
„Die existentielle Frage: Welches Gebot ist das erste von allen?“
Zu meinem zweiten Punkt: Dieser Dialog von zwei Glaubenslehrern wird zu etwas ganz Besonderem, weil es auch um eine sehr tiefe Frage geht. Der Schriftgelehrte stellt keine Frage nach einem bestimmten „Fall“, wie also in einer speziellen Konstellation ein bestimmtes Gebot anzuwenden ist, auch keine ausgeklüngelte Spezialfrage zur Glaubenslehre. Nein, er konzentriert sich ganz auf die eine Frage, die ihn persönlich umtreibt, eine existenzielle Frage, die sein Leben betrifft, sein Herz berührt: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Ganz offensichtlich fällt es ihm im Dschungel der Gebote und Verbote schwer, sich von ihnen existenziell betreffen zu lassen und zum Kern durchzudringen.
Die Chance auf eine tragfähige Antwort
Er hat den Eindruck, dass es ihm als Menschen in seinem Leben helfen könnte, sich darauf zu fokussieren, was wirklich wichtig ist – und woraus dann so viel Anderes ganz natürlich folgt. Also, keine Fangfrage. Auch kein konstruiertes Gedankengebilde, wie sie in den Evangelien ebenfalls berichtet werden. Nein! Der Schriftgelehrte kommt mit einer echten Frage aus der Tiefe seines Herzens zu Jesus. Er sieht seine Chance, endlich eine echte, eine tragfähige Antwort zu finden. Was ist das Wichtigste im Glauben – und im Leben?
„Das wichtigste ist die Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, die auch die Selbstliebe nicht vergisst. Punkt.“
Auf diese Frage antwortet Jesus auch nicht mit einer Geschichte oder einem Gleichnis. Vielmehr gibt er eine klare, umfassende Antwort: Das wichtigste ist die Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, die auch die Selbstliebe nicht vergisst. Punkt.
Aus den Worten, die Jesus findet bzw. aus der Heiligen Schrift zitiert, wird auch klar, dass diese Liebe kein flüchtiges Gefühl ist, das eben auch schnell wieder verfliegt. Frei nach dem Motto: Die Liebe kommt und die Liebe geht, wir können die Liebe nicht machen. Doch! Wir können viel beitragen, um die Liebe zu erhalten und zu nähren, zu reinigen und mein ganzes Sein davon durchdringen zu lassen.
Die Liebe soll uns als ganze Menschen umfassen
Darum geht es: Die Liebe soll uns als ganze Menschen umfassen: Kopf und Herz, all mein Mühen und all mein Sehnen. So wichtig das Herz auch ist, die Liebe ist nicht nur eine Frage der Emotionalität, auch mein Verstand und mein Wollen sind gefragt. Es geht um mein ganzes Sein.
„Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – Diese Antwort erfüllt die beiden so sehr, dass dem auch nichts mehr hinzuzufügen ist.
„Meine Variante des „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“
In mir klingt da eine persönliche Erfahrung an: Nach einer längeren Suche nach meiner Berufung traf zu einem bestimmten Zeitpunkt die überwältigende innere Klarheit mein Herz: Gott steht an der ersten Stelle in meinem Leben. So wie für Freunde klar war: Beim nächsten beruflichen Schritt steht meine Beziehung, die Partnerschaft, diese Liebe an der ersten Stelle. Es ist meine Variante des „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“ Alles Weitere, die Liebe zu Gott und dem Nächsten, auch der Dienst folgen dann daraus oder sind eine Ausgestaltung dieses Grundsatzes. Wenn dies der Fall ist, werde ich mich auch in den Detailfragen des Lebens richtig zu verhalten wissen.
Du bist nicht fern vom Reich Gottes
Jesus schätzt das aufrichtige Suchen dieses Schriftgelehrten. Die Frage und Reaktion des Schriftgelehrten auf Jesu Antwort machen Jesus deutlich, dass es ihm ein echtes Anliegen ist und er sich von Jesu Worten berühren lässt. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Es geht also beiden nicht um eine intellektuelle Diskussion, schon gar nicht einfach um die korrekte Wiedergabe einer vorgegebenen Antwort. Aus Jesu Sicht kommt es darauf an, dass sein Gegenüber wirklich als Mensch beteiligt ist und aufrichtig sucht.
Teilnehmen am Dialog: Den eigenen Namen einsetzen
Dass der Schriftgelehrte keinen Namen hat, kann auch von Vorteil sein. So kann ich dort meinen eigenen Namen einsetzen. Ich bin eingeladen, persönlich an diesem Dialog zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten teilzunehmen: Was ist die eine große Frage, die mich zurzeit tief drinnen umtreibt, die ich mich vielleicht gar nicht traue, anderen zu stellen, weil sie so existenziell wichtig für mich ist und ich es nicht ertragen würde, wenn andere sie nicht ernst nehmen, sie abbügeln oder gar lächerlich machen würden? Oder, auf die ich von anderen bis jetzt keine befriedigende Antwort bekommen habe, keine Antwort, die meinem Herzen Frieden bringt?
Von IHM geliebt...
Schwierige Fragen, die Mut, Zeit und Raum brauchen, damit sich die richtige Antwort finden lässt. Ich lade Sie ein, in sich hineinzuhören und diese Frage heute Jesus zu stellen, mit einer echten Frage in eine echte Begegnung mit dem Herrn zu gehen. Selbst wenn Sie keine umgehende Antwort bekommen, kann dies doch eine ganz besondere Begegnungserfahrung werden, die Erfahrung von Gottes Gegenwart und Sorge um Sie, die Erfahrung, von IHM geliebt zu werden, die Erfahrung, dass ER Ihnen zutraut, seine Weisung mit ganzem Herzen umzusetzen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen „liebe-vollen“ Sonntag.
(Radio Vatikan - Redaktion Claudia Kaminski)
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Kommentare
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Ungernallein 03.11.2024 11:50
Vielen Dank für diesen Beitrag. Einen gesegneten Sonntag.