Mittelalter: "DER BLICK ZURÜCK IST TIEF IM MENSCHSEIN VERWURZELT"

Mittelalter: "DER BLICK ZURÜCK IST TIEF IM MENSCHSEIN VERWURZELT"
Tanja Kinkel erzählt Geschichte(n) der Klosterinsel Reichenau


FREIBURG ‐ Keine platten Parallelen, aber auch kein überheblicher Blick: Die Bestsellerautorin Tanja Kinkel macht vermeintlich finstere mittelalterliche Klostergeschichte lebendig – nun zum 1.300-Jahr-Jubiläum der Klosterinsel Reichenau.


Die Menschen des Mittelalters standen vor ähnlichen Fragen wie heute – davon ist die Autorin historischer Romane Tanja Kinkel überzeugt. Im Interview wendet sie sich aber gegen vereinfachende Parallelen. Zum Jubiläum 1.300 Jahre Klosterinsel Reichenau hat sie recherchiert und gemeinsam mit weiteren Autorinnen einen Geschichten-Band zu Aufstieg, Blüte und Niedergang der einst weltberühmten Abtei am Bodensee veröffentlicht.

Frage: Was ist das Spannende am Eintauchen in die Welt eines mittelalterlichen Klosters am Bodensee?

Kinkel: Von Mönchen auf einer Insel zu erzählen, ist schon allein dramaturgisch höchst spannend! Die Literatur ist voller Geschichten, die auf Inseln spielen – oder in der Science Fiction auf Raumschiffen. Denn die enge Begrenzung von Personen und Orten macht es möglich, wie unter einem Brennglas von den Fragen und Konflikten einer kleinen Gemeinschaft zu erzählen. Und dann zeigen sich schnell Parallelen zu aktuellen Debatten – und natürlich auch große Unterschiede.

Frage: Aber bleiben die Geschichten in einem mittelalterlichen Kloster in Süddeutschland nicht trotzdem eine gänzlich ferne Welt ohne Bezug zur Gegenwart?

Kinkel: Keine Historikerin, kein Autor historischer Romane würde versuchen, die Vergangenheit eins zu eins ins Heute zu übertragen. Aber dennoch lohnt es, genau hinzuschauen. Gerade auch auf die Geschichten der Reichenau. Als das Kloster im neunten Jahrhundert seiner Blütezeit entgegen geht und dabei enorme politische, religiöse und kulturelle Bedeutung erlangt, herrschen rundum Chaos, Kampf und Krieg. Da bröckelt das Reich Karls des Großen auseinander. Die Loyalitäten wechseln ständig: Der rechtmäßige Herrscher des einen Jahres wird im nächsten Jahr abgesetzt. Familien entzweien sich. Politische Gegner verteufeln sich gegenseitig. Kommt uns das heute vielleicht doch bekannt vor?

Frage: Dann fehlt ja nur noch die Angst vor den Folgen des Klimawandels...

Kinkel: Naja, vielleicht ist auch die Angst der jungen Generation heute vor einem Untergang der Menschheit nicht völlig neu. Aber auch hier gelten wieder historisch völlig andere Vorzeichen. In den Jahrzehnten vor dem Jahr 1000 lebten viele Menschen in der festen Überzeugung, dass der Jahrtausendwechsel das Ende der Welt bringen wird. Diese Ängste können wir in historischen Erzählungen schildern und somit nachfühlbar machen.

Frage: Das hört sich alles recht düster an...

Kinkel: Zugegeben, aber wir erzählen auch von anrührenden Entdeckungen der Menschlichkeit. Es ist zum Beispiel faszinierend, den Universalgelehrten Hermann den Lahmen zu beobachten. Und zwar nicht nur seine überragenden Gaben, sein Genie in der Wissenschaft. Er verfasste etwa eine bedeutende Weltchronik, forschte zu Mathematik, verfasste Gedichte. Gleichzeitig war er körperlich stark behindert. Aber seine Mitbrüder verteufelten ihn nicht und stießen ihn nicht aus der Gemeinschaft aus, sondern ermöglichten es ihm erst, seine Begabungen kreativ zu entwickeln. Vielleicht denken manche Leser dann neu über Inklusion heute nach.


Bild: ©KNA/Yvonne Jarosch
Tanja Kinkel wurde mit dem Verfassen historischer Romane zur Bestsellerautorin.

Frage: Geschichte ist an den Universitäten und in den Schulen eher auf dem Rückzug. Schwindet das Interesse an Geschichte?

Kinkel: Das sehe ich überhaupt nicht. Denn das Interesse, in die Vergangenheit zu schauen und nach der eigenen Herkunft zu fragen, ist tief im Menschsein verwurzelt. Nur die Vermittlung von Vergangenheit hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Zum Beispiel entstand das neue Medium von Geschichts-Podcasts. Das Interesse daran wächst und wächst und wächst. Dabei sind das keineswegs seichte Geschichten, sondern häufig detailliert und aufwendig recherchierte Themen. Heute hören wir also Podcasts beim Bügeln oder beim Joggen – die Reichenauer Mönche bekamen beim gemeinsamen Essen im Refektorium Heiligenlegenden vorgelesen. Menschen aller Zeiten wollen Geschichten hören und zurückschauen!

Frage: Gilt das auch für Fragen nach Glauben und Religion? Die Zahl der religiösen Menschen in Deutschland sinkt und sinkt. Die mittelalterliche Gesellschaft war dagegen von Religion durchdrungen.

Kinkel: Ich möchte das Schwinden von Glaube und Religiosität nicht kleinreden. Auch wenn es in anderen Weltregionen ganz anders aussieht. In Indien erleben wir zum Beispiel einen folgenreichen Backlash zum Hindu-Fundamentalismus. Aber auch bei uns gibt es weiter Menschen, die davon überzeugt sind, dass aus dem Glauben an einen Gott ein moralischer Kompass erwachsen kann. Warum sonst würden sich Christinnen und Christen für Reformgruppen wie Maria 2.0 engagieren?

Frage: Dennoch dürfte es kaum direkte Bezugspunkte zwischen Mittelalter und Heute geben?

Kinkel: Vielleicht nicht. Aber wir dürfen uns doch mit einer Vergangenheit beschäftigen, obwohl sie sich radikal von unserer eigenen Lebenswelt und Erfahrung unterscheidet. Übrigens ist auch das keine Erfindung der Moderne. Auch hier folgen wir nur der Tradition der mittelalterlichen Mönche. Denn sie haben – auch auf der Reichenau – Texte, Geschichten, Dramen aus der Antike abgeschrieben. Nur so blieben sie für uns erhalten. Und ein Reichenauer Mönch des 10. Jahrhunderts hatte nichts gemeinsam mit dem Komödienschreiber Aristophanes, der im 4. Jahrhundert vor Christus in Athen lebte. Und dennoch haben diese Dramen auch den Mönchen des Mittelalters etwas zu sagen gehabt.

Von Volker Hasenauer (KNA)

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