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Chinesische Legende

Chinesische Legende
Von Hermann Hesse

Von Meng Hsiä wird berichtet:

Als ihm zu Ohren kam, daß neuerdings die jungen Künstler sich darin übten, auf dem Kopfe zu stehen, um eine neue Weise des Sehens zu erproben, unterzog Meng Hsiä sich sofort ebenfalls dieser Übung, und nachdem er es eine Weile damit probiert hatte, sagte er zu seinen Schülern: »Neu und schöner blickt die Welt mir ins Auge, wenn ich mich auf den Kopf stelle.«

Dies sprach sich herum, und die Neuerer unter den jungen Künstlern rühmten sich dieser Bestätigung ihrer Versuche durch den alten Meister nicht wenig.

Da dieser als recht wortkarg bekannt war und seine Jünger mehr durch sein bloßes Dasein und Beispiel erzog als durch Lehren, wurde jeder seiner Aussprüche beachtet und weiter verbreitet.

Und nun wurde, bald nachdem jene Worte die Neuerer entzückt, viele Alte aber befremdet, ja erzürnt hatten, schon wieder ein Ausspruch von ihm bekannt. Er habe, so erzählte man, sich neuestens so geäußert: 

»Wie gut, daß der Mensch zwei Beine hat!
Das Stehen auf dem Kopf ist der Gesundheit nicht zuträglich, und wenn der auf dem Kopf Stehende sich wieder aufrichtet, dann blickt ihm, dem auf den Füßen Stehenden, die Welt doppelt so schön ins Auge.«

An diesen Worten des Meisters nahmen sowohl die jungen Kopfsteher, die sich von ihm verraten oder verspottet fühlten, wie auch die Mandarine großen Anstoß.

»Heute«, so sagten die Mandarine »behauptet Meng Hsiä dies, und morgen das Gegenteil.
Es kann aber doch unmöglich zwei Wahrheiten geben. Wer mag den unklug gewordenen Alten da noch ernst nehmen?«

Dem Meister wurde hinterbracht, wie die Neuerer und wie die Mandarine über ihn redeten. Er lachte nur. Und da die Seinen ihn um Erklärung baten, sagte er:

»Es gibt die Wirklichkeit, ihr Knaben, und an der ist nicht zu rütteln. Wahrheiten aber, also in Worte ausgedrückte Meinungen über das Wirkliche, gibt es unzählige, und jede ist ebenso richtig wie sie falsch ist.«

Zu weiteren Erklärungen konnten ihn die Schüler, so sehr sie sich bemühten, nicht bewegen.

Kommentare

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Annres 21.12.2023 13:13
Wer sich´s lieber anhören will:

 
(Nutzer gelöscht) 21.12.2023 13:30
Bei Gott gibt es nicht verschiedene Wahrheiten, sondern nur EINE Wahrheit, von der Christus sagt :

ICH BIN, der Weg, DIE WAHRHEIT, und das Leben... 


Das ist der Unterschied, zu Meinungen und sollte auch unterschieden werden.
 
Annres 21.12.2023 13:40
Das Wort, das Johannes in Joh.14,6 benutzte, ist "alétheia", genaue Bedeutung:

Definition: truth, but not merely truth as spoken; truth of idea, reality, sincerity, truth in the moral sphere, divine truth revealed to man, straightforwardness. In ancient Greek culture, alḗtheia was synonymous for "reality" as the opposite of illusion, i.e. fact.

Es lässt sich also tatsächlich besser mit "Wirklichkeit" (= reality) übersetzen als mit Wahrheit.

Hermann Hesse war zwar kein Prediger, aber ungebildet war er auch nicht.
 
Alleshinterfragen 21.12.2023 14:06
Es kommt immer auf die Sichtweise an, mit der eine Situation bewertet wird. Deshalb lohnt es sich schon manchmal den Standpunkt zu wechseln.
 
Kristallinchen 21.12.2023 16:01
Die drei Siebe
Eines Tages erhielt der Philosoph Sokrates Besuch von einem Mann,der ihm unbedingt eine Neuigkeit mitteilen wollte.
''Höre,Sokrates''sagte dieser aufgeregt,''ich muss dir berichten,dass dein Freund.....
''Halt inne''unterbrach ihn der Philosoph.''Hast du das,was du mir sagen willst,durch die drei Siebe gesiebt?''
''Die drei Siebe ?''wiederholte der andere erstaunt.
''Ja ,mein Lieber.Lass sehen,ob das,was du mir sagen willst,durch die drei Siebe hindurchgeht.
Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit.
Hast du das,was du mir erzählen willst, geprüft,ob es wahr ist?''
''Nein,nein,jemand anderes hat mir davon erzählt, doch.....
''Na gut.Aber sicher Hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft.
Das ist das Sieb der Güte.Wenn es schon nicht unbedingt wahr ist,was du mir erzählen möchtest,ist es wenigstens gut?''
Der andere zögerte.''Nein eigentlich nicht. Im Gegenteil,es....
''Nun,''unterbrach ihn Sokrates ein weiteres Mal,''dann wollen wir noch das dritte Sieb nehmen und uns fragen ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so aufzuregen scheint,''
''Na ja,notwendig gerade nicht,aber...
''Also,''entgegnete Sokrates und lächelte,''wenn das,was du mir erzählen willst weder wahr noch gut noch notwendig ist,so lass es lieber sein und belaste weder dich noch mich damit.''
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