Auf den Kopf gestellt

Auf den Kopf gestellt
Ich spreche mit Rafaniello, heute haben wir Zeit, vermisst Ihr Eure Heimat nicht, frage ich.
Seine Heimat gibt es nicht mehr, es gibt keine Lebenden mehr und auch keine Toten, sie haben sie alle zusammen verschwinden lassen:
"Es ist nicht ihr Fehlen, was ich spüre, ich spüre ihre Anwesenheit.
In meinen Gedanken oder wenn ich singe, wenn ich einen Schuh repariere, fühle ich die Gegenwart meiner Heimat.
Sie kommt mich oft besuchen, jetzt, wo sie keinen Ort mehr für sich hat.
Sie kommt im Ruf des Wasserträgers, der mit dem Karren nach Montedidio hinaufsteigt, um schwefliges Wasser in Tonkrügen zu verkaufen, ja, auch mit seiner Stimme kommen ein paar Silben aus meiner Heimat zu mir."

Eine Weile schweigt er, die kleinen Nägel im Mund und den Kopf über eine Sohle gebeugt.
Dann sieht er, dass ich in seiner Nähe geblieben bin, und spricht weiter:
"Wenn du Sehnsucht nach etwas bekommst, ist das keine Abwesenheit, es ist Anwesenheit, es ist ein Besuch, Menschen, Länder kommen von weither und leisten dir ein bisschen Gesellschaft."

Wenn ich also an etwas denken muss, das mir fehlt, dann soll ich sagen, dass es da ist, Don Rafaniè?
"Richtig, so heißt du jedes Fehlen willkommen, du bereitest ihm einen herzlichen Empfang."
Wenn ihr dann also fortgeflogen seid, darf ich Euch nicht vermissen?
"Nein", sagt er, "wenn du an mich denkst, bin ich bei dir."

Auf die Papierrolle schreibe ich Rafaniellos Worte, die das Vermissen auf den Kopf gestellt haben, und dadurch sieht es jetzt besser aus.
Er macht es mit den Gedanken wie mit den Schuhen, er legt sie umgedreht auf das Bänkchen und bessert sie aus.


(Erri de Luca, aus "Der 29. Andere Advent" vom 14.12.2023)

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