Einstein und der andere Zionismus

Einstein und der andere Zionismus 
Ein informativer Artikel in der Züricher WOZ Die Wochenzeitung
von Robert F. Barsky
(kanadischer Politologe und Autor einer Monografie Noam Chomskys)
Übersetzung: Lothar Baier

🔹Hinweis: Der Artikel wurde bereits im Jahr 2002 veröffentlicht
    Es lohnt sich jedoch, ihn "hervorzukramen"




25. Juli 2002

Staatsgründung auf schwankendem moralischem Grund

Der andere Zionismus

Prominente Zionisten wie Albert Einstein hatten keineswegs ein jüdisch bestimmtes Palästina im Auge.

von Robert F. Barsky


Angesichts der Medienberichterstattung könnte man meinen, dass jenen ein Schweigegebot auferlegt wurde, die die gegenwärtige Nahostkrise aus einem anderen Blickwinkel sehen als dem Entweder-oder der totalen Unterstützung der palästinensischen Sache oder der militärischen Lösungen Ariel Scharons. In keinem einzigen Mainstream-Medium wird auf die Geschichte verwiesen, was ein bezeichnendes Licht auf die objektive Ironie wirft, die den gegenwärtigen Kreislauf von Mord und Opfer in Israel beschreibt und zugleich aufrechterhält.

Die Gründer des Staates Israel haben erstens gegen den Willen und Rat führender ZionistInnen gehandelt, jener ZionistInnen, die heute zur Rechtfertigung der Existenz des Staates herangezogen werden. Diese plädierten entweder für eine Aufteilung der Macht unter den verschiedenen, im damals mehrheitlich arabischen Palästina lebenden Gruppen oder für die Errichtung einer Region im Nahen Osten als Zufluchtsstätte für unterdrückte Menschen. Der Schutz Israels gegen Eindringlinge entstammt somit nicht dem Verlangen, eine wohleingerichtete Erfüllung eines Versprechens zu bewahren. Er ist die energische Verteidigung einer gescheiterten Ideologie des Universalismus und Sozialismus und zugleich ein Sieg von Militarismus und Nationalismus, gegen die sich Zionisten vor 1948 wandten.

Zweitens wurden mit der Gründung des Staates Israel die Ziele der zionistischen Bewegung eher beseitigt als erfüllt. Viele jüdische Persönlichkeiten weigern sich bis heute, das Wort «Israel» auszusprechen. Selbst wenn sie sich dort aufhalten, sprechen sie lieber von «Palästina» und dem, was es bedeutete. Die verhältnismässig wenigen Juden, die für einen jüdischen Staat in Palästina gekämpft hatten, galten bei vielen Zionisten, auch bei in Palästina lebenden Juden, als extremistische Nationalisten. Grossbritannien und die USA wurden von zionistischer Seite aufgefordert, jedes derartige Staatsprojekt zugunsten einer binationalen oder föderalen Lösung zurückzuweisen. Die Staatslösung gewann erst dann einen Anschein von Realismus, als sich bei den Weltmächten wegen ihrer eigenen antisemitischen, den Genozid nicht verhindernden Dispositionen ein Schuldbewusstsein regte.

Drittens waren viele amerikanische Juden während des Zweiten Weltkriegs gegen eine Masseneinwanderung europäischer und russischer Juden in die USA. Einmal, weil sie damals verächtlich auf die Schtetl-Juden herabschauten, und zum anderen, weil sie wahrscheinlich zu Recht befürchteten, die in den USA ohnehin virulenten antisemitischen Gefühle würden noch ganz andere Proportionen annehmen. Der Umstand, dass amerikanische Juden die Bildung eines jüdischen Staates oder von etwas Vergleichbarem befürworteten, ist ebenso sehr Ausdruck ihrer eigenen Interessen als amerikanische Bürger wie ihrer Neigung zum frommen Wunsch «nächstes Jahr in Jerusalem».

Schließlich erfüllt die Gründung des Staates Israel keinerlei jüdische Verpflichtung; sie steht sogar der traditionellen Überzeugung entgegen, dass das Ende des Exils wie auch der Wiederaufbau des Zweiten Tempels erst mit der Ankunft des Messias möglich werden.

Geschichtslektionen

Diese Standpunkte lassen sich erhärten, wenn man etwas weiter in die Zeit zurückgeht als in den Medien üblich. Die Idee des «Zionismus» war nur eine unter vielen Triebkräften, die Leute dazu brachten, Osteuropa und die frühere Sowjetunion zu verlassen. Von den 2,4 Millionen Juden, die zwischen 1881 und 1914 ihrer Region den Rücken kehrten, gingen nur drei Prozent nach Palästina. Davon sahen viele dies nur als «einen vorübergehenden Halt auf dem Weg in den Westen». Dafür gab es vielerlei Gründe: Von den knappen, in Palästina für eine Einwanderung zur Verfügung stehenden menschlichen und materiellen Ressourcen über den ungewissen Status der Region bis zum Gefühl, das Zachary Lockman ausdrückt:
🔹«Nächstes Jahr in Jerusalem» sei mehr religiöser Traum als praktisches Ziel, auch weil das Ende des Exils, die Erlösung der Juden und die Wiedereinsetzung in das von Gott versprochene Land erst am durch die Ankunft des Messias besiegelten Ende der Geschichte einträten.

Die Idee einer jüdischen Heimstatt in Palästina gewann erst 1917 an Realismus, als Arthur James Lord Balfour im Auftrag der Regierung Seiner Majestät und des Kabinetts Lord Rothschild die Unterstützung des zionistischen Traums zusicherte. Doch sogar in diesem Schlüsseldokument, das heutige Zionisten ständig heranziehen, um ihre rückhaltlose Unterstützung jeglicher israelischer Politik zu rechtfertigen, findet sich ein bedeutsamer, die jüdisch-arabischen Beziehungen betreffender Passus.

🔹«Die Regierung Ihrer Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstatt für das jüdische Volk in Palästina und wird alle Anstrengungen unternehmen, das Erreichen dieses Ziels zu erleichtern, wobei jedoch unmissverständlich festzuhalten ist, dass nichts unternommen werden wird, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der vorhandenen nichtjüdischen Bevölkerungen in Palästina oder die Rechte und den politischen Status, die Juden in irgendeinem anderen Land geniessen, beeinträchtigen könnte.»

Dies wurde wenige Jahre später im britischen Weissbuch klargestellt, das auf «überzogene Deutungen» der Balfour-Deklaration anspielt, wonach die «vorgesehene Aufgabe die Schaffung eines vollständig jüdischen Palästina» sei, eines Landes «so jüdisch, wie England englisch ist». Entsprechend diesem Dokument «betrachtet die Regierung Seiner Majestät alle derartigen Erwartungen als nicht realisierbar und strebt nichts Derartiges an». Weiterhin hat die Regierung «das Verschwinden oder die Unterordnung der arabischen Bevölkerung, Sprache und Kultur in Palästina» nicht beabsichtigt, und «die Bestimmungen der Deklaration (...) ziehen in Betracht, dass Palästina nicht als Ganzes in eine jüdische Heimstatt umgewandelt, sondern dass eine solche Heimstatt ‘in Palästina’ gegründet werden sollte».

Einsteins Zionismus

Weshalb diese «Heimstatt» alle denkbaren Unterdrückten, nicht nur Juden, aufnehmen sollte, wurde in Stellungnahmen prominenter Zionisten jener Zeit begründet. Zu ihnen gehörte auch Albert Einstein, der sich an eine zionistische Studentenorganisation namens Avukah wandte, eine damals äusserst wichtige, heute aber völlig vergessene amerikanische zionistische Studentengruppe. Ihren Vorsitz führte eine Zeit lang Zellig Harris, ein strukturaler Linguist und Lehrer Noam Chomskys. Das Programm von Avukah fand so sehr die Zustimmung von Leuten wie Einstein, dass dieser bei seiner Ankunft in den USA 1929 ausschliesslich unter der Schirmherrschaft dieser Organisation öffentlich zu sprechen bereit war. Die «Avukah Student News» verbreiteten diese Ansprache über Radioverbindung von der Ost- bis zur Westküste, ebenso in England und Deutschland.
Einstein erwähnte darin «die Schwierigkeiten, die gegenwärtig auf uns in Palästina zuzukommen scheinen», namentlich infolge der britischen Beschränkung der jüdischen Immigration.

🔹«Zweifellos sind bestimmte Stellungnahmen und Massnahmen vonseiten britischer Offizieller jüngst auf Kritik gestossen. Dennoch können wir uns mit Kritik nicht begnügen, sondern müssen aus dem, was kürzlich geschehen ist, Lehren ziehen. An erster Stelle müssen wir auf unsere Beziehungen zum arabischen Volk achten. Wenn wir diese Beziehungen pflegen, werden wir imstande sein, in der Zukunft das Anwachsen gefährlicher Spannungen zu verhindern, die als Vorwand für feindseliges Handeln uns gegenüber benützt werden könnten. Wir können dieses Ziel durchaus erreichen, weil unser Aufbau in Palästina bisher so verlaufen ist und auch weiterhin so verlaufen muss, dass er ebenfalls den realen Interessen der arabischen Bevölkerung dient ...»

In einem persönlichen Briefwechsel mit Chaim Weizmann schrieb Einstein im gleichen Jahr:
🔹 «Wenn wir keinen Weg zu ehrlicher Zusammenarbeit und zu ehrlichen Verhandlungen mit den Arabern finden, dann haben wir nichts aus unserer zweitausendjährigen Leidensgeschichte gelernt, und wir verdienen das Schicksal, das uns ereilen wird. Vor allem sollten wir uns nicht allzu sehr auf die Engländer verlassen. Denn wenn wir nicht zu einer wirklichen Kooperation mit den führenden Arabern gelangen, werden uns die Engländer, wenn auch nicht offiziell, so doch de facto, fallen lassen. Und sie werden unseren Untergang mit altbekanntem, frommem Aufblicken zum Himmel bei gleichzeitiger Unschuldsbeteuerung beklagen, doch einen Finger werden sie nicht rühren» (29. November 1929).

In einer 1938 vor dem National Labour Committee for Palestine gehaltenen Ansprache sagte Einstein: «Ich möchte sehr viel lieber ein vernünftiges Übereinkommen mit den Arabern auf der Grundlage friedlichen Zusammenlebens sehen als die Schaffung eines jüdischen Staates.» Ein Motiv, den Frieden zwischen beiden Gruppen zu fördern, war die Unterstützung breiterer sozialistischer Strömungen in der Region. Im April 1935 kündigte ein Leitartikel auf der ersten Seite des Avukah-Bulletins eine «Einheitsfront» zwischen Juden und Arabern an, die in den Streik traten gegen die Iraq Petroleum Company. In ihrem Besitz befand sich das in Haifa gelegene Terminal der Mossul-Pipeline. Hinter der Company standen amerikanische, britische, niederländische und französische Interessen. «Obgleich der Streik als solcher nicht nebensächlich ist», heisst es im Leitartikel, «liegt seine wirkliche Bedeutung in den politischen Kräfteverhältnissen. Der Streik war gemeinsam unterstützt und angeführt von der Jewish Federation of Labour und der Arab National Workers Federation. Die vereinte Front dieser beiden Organisationen macht mehr als deutlich, dass Juden und Araber, was auch immer ihre politischen Differenzen sind, in beiden betreffenden Grundsatzangelegenheiten zusammenarbeiten können.»

Zuflucht für Erniedrigte

In dieser Sicht erschien Palästina als ein Ort neuer, auf sozialistischen Grundsätzen beruhender menschlicher Beziehungen, dank deren unterdrückte Menschen der Region eher in der Lage sein werden, zu überleben und ihre Möglichkeiten als Arbeiter und als kulturelle Wesen zu erkunden. Mordecai Bentov, ein Mitglied des Kibbutz Artzi, veröffentlichte in derselben «Avukah»-Ausgabe einen Brief, der den Gedanken entwickelt, «dass Palästina am Ende ein integraler Bestandteil einer Art Föderation der nahöstlichen Länder werden wird. Es ist durchaus denkbar, dass diese Föderation eines Tages auch die Türkei, Persien und andere Länder einschliesst.» Für Bentov war das Problem «der Einbeziehung Palästinas in eine solche Föderation nicht auf rassischer, sondern sozialistischer Grundlage zu lösen, je nachdem, ob es dem Fortkommen des Sozialismus nützen oder schaden würde».

In der gleichen Ausgabe des Avukah-Bulletins schilderte Zellig Harris terroristische Angriffe während jüngster arabischer Streiks, namentlich wahllose Angriffe gegen jüdische Siedler und ihr Land, das Abbrennen von Bäumen, die gepflanzt worden waren, um ein Land zu erhalten, das aufgrund «arabischer Besetzung fast eine Wüste» geworden war. Hervorzuheben war die jüdische Taktik Havlaga, das heisst Nichtvergeltung terroristischer Akte von Arabern, obgleich die Siedler zur Vergeltung in der Lage gewesen wären. Das Motiv für diese Zurückhaltung spricht ein weiteres Mal für den Gedanken arabisch-jüdischer Kooperation, denn auf der einen Seite wäre «die einzige Antwort, wahllos, durch ähnlichen Terrorismus, andere Araber zu töten, was viele Juden aus Prinzip ablehnten». Doch was für Harris noch wichtiger war: 
🔹«Die Juden weigerten sich, mit Terror zu antworten, weil sie das nicht als einen Krieg zwischen Juden und Arabern betrachteten. Ein Araber war nicht notwendig ein Feind. Feinde waren die Anstifter und Führer sowie die Terrorbanden, die als Werkzeuge dienten. Mit dem arabischen Volk selbst hofften die Juden immer noch, einen Frieden und eine Verständigung zu erreichen.»

Der Gedanke einer Trennung von Juden und Arabern in Palästina wurde damals auch erwogen – und zurückgewiesen. Ein am 10. Februar 1939 an Louis Brandeis gesandtes Dokument fasst Diskussionen zusammen, die auf der Dritten Konferenz mit Vertretern der Jewish Agency geführt wurden. Im Beisein des britischen Premierministers Chamberlain, von Dr. Wise, Ben Zwi und Macdonald schlug Weizmann, Präsident der zionistischen Jewish Agency, vor, dass Palästina ein binationaler Staat sein sollte, in dem manche Bereiche unter britischer Rechtsprechung verblieben. Die binationale Idee wurde 1939 auch in einem Artikel von Dr. Magnes von der Hebrew University vertreten, woraufhin eine Gruppe prominenter Juden in Palästina – Henrietta Szold, Dr. Magnes, Martin Buber, Julius Simon, Präsident der Palestine Economic Corporation, Moshe Smilansky von der Palestine Jewish Farmers League – einen Einheitsverband (Ichud) gründete, um dieses Ziel zu erreichen und eine Annäherung zwischen Juden und Arabern auf politischem, sozialem und ökonomischem Gebiet zu fördern.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahte die Aussicht, dass die internationale Gemeinschaft die Einrichtung eines jüdischen Staates in Palästina unterstützen würde, wenn auch nur, um eine Form von Wiedergutmachung für den Holocaust anzubieten. Dies erwies sich als schwerer Schlag für jene, die gegen diese Option gekämpft hatten. Bis Mai 1947 hat das Exekutivkomitee der Hashomer Hatzair Arbeiterpartei in Jerusalem das binationale Palästina zu seiner Sache gemacht, und zwar mit der Begründung, es sei «das beste Programm im Hinblick auf die Realisierung zionistischer Ziele auf binationaler Basis und bei schrittweiser Sicherung der Kooperation zwischen Juden und Arabern zum Zweck der Bildung eines gemeinsamen Staats bei gleichzeitiger ungehinderter jüdischer Einwanderung».

Diese Schrift kritisiert den Status quo, eine Teilung von der Art, wie sie von der britischen Royal Commission vorgeschlagen wurde, und die Idee einer Bildung von Kantonen nach Schweizer Muster heftig.
🔹Sie kommt zum Schluss, dass diese «Alternativen nichts weniger als verhängnisvoll sind und unvermeidlich in einem grauenhaften Scheitern enden würden». Erst jetzt, angesichts des gegenwärtigen Kreislaufs von Selbstmordattentaten und nationalistischem Militarismus, erfahren wir die wahre Bedeutung dieser schicksalsschweren, bequemerweise aber vergessenen Worte.



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