weiße TaubeChrist sucht Christ Logo ohne Taube

Und plötzlich gehörte die Krim zur Ukraine ... Chrustschow selig ...

Und plötzlich gehörte die Krim zur Ukraine ... Chrustschow selig ...
Niemand weiß ganz genau, warum Nikita Chruschtschow 1954 die im Krieg schwer zerstörte Halbinsel Krim der Ukraine übergab. Eine Oxford-Historikerin ist auf Spurensuche gegangen.

Von Ulli Kulke

Aus dem All wirkt alles friedlich: Auf dem Foto, das der Satellit „Aqua“ im Sommer 2006 aufnahm, sticht die Krim wie ein Salmi ins Schwarze Meer
Aus dem All wirkt alles friedlich: Auf dem Foto, das der Satellit „Aqua“aufnahm, ragt die Halbinsel am oberen Rand in das Schwarze Meer.

Es war im Jahr 1944, noch im Krieg, und Nikita Chruschtschow war erbost. Er tobte. 100.000 Ukrainer verlangte der Sowjetführer Josef Stalin von ihm, dem damaligen Parteichef der Ukraine. Sie sollten im verwüsteten Russland, der benachbarten Sowjetrepublik, beim Wiederaufbau helfen. War sein Land denn weniger zerstört?

„Die Ukraine ist zusammengebrochen, und nun werden wir auch noch ausgenommen“, brüllte er in die Runde, und dann kam ihm eine Idee: „Wie wäre es, uns dafür die Krim zu geben?“ Gegen die Order von Stalin konnte er sich nicht wehren, aber der hemdsärmelige Parteifunktionär soll laut Zeugen noch gegrummelt haben: „Die Leute stelle ich zur Verfügung, doch die Krim kriege ich, egal wie.“

Zehn Jahre später, im Mai 1954, war es so weit. Der inzwischen zum Parteichef der gesamtsowjetischen KPdSU aufgestiegene Chruschtschow hatte dafür gesorgt, dass die Krim, zuvor seit 170 Jahren Teil Russlands, ab sofort zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte. Ohne großes Aufsehen, vollzogen im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag des Vertrags von Perejaslaw, mit dem 1654 – nach russischer Lesart – die engen Bande zwischen Russland und der Ukraine vereinbart worden waren.

Den 1944 tobenden Chruschtschow will Lawrenti Pogrebnow, ein Apparatschik der staatlichen sowjetischen Gewerkschaften, miterlebt haben. Einige Jahre später beschrieb er die Szene einem Schriftsteller, und so landete sie auf Umwegen in dem 2007 erschienenen Buch „The Crimea Question“ von Gwendolyn Sasse, einer Historikerin und Ukraine-Expertin der Universität Oxford.

Sasse räumt ein: „Es gibt allerdings keinen anderen Beleg dafür, dass Chruschtschows Entscheidung in seiner nationalen Loyalität zur Ukraine wurzelte, in verletztem Stolz oder dem Gefühl von Ungerechtigkeit“, ein Hinweis, der charakteristisch ist für das Werk. Der Buchtitel – übersetzt: „Die Krimfrage“ – trifft den Inhalt, weil die Autorin unzählige Lesarten und Sichtweisen auf die „Morgengabe“ Chruschtschows an die westlich angrenzende Bruderrepublik zwar aufblättert, aber nicht den Anspruch erhebt, die Rätsel hinter der Entscheidung klären zu können. Immerhin: Sasses Buch leuchtet über 40 Seiten wie keine zweite Schrift den Besitzerwechsel des Gebietes aus, das 2014 zum großen Zankapfel wurde zwischen Russland und der Ukraine.


Nicht irgendein Gebiet
Die Krim war nicht irgendein Gebiet im Süden Russlands. Schon immer hatte sie strategische Bedeutung. Der berühmte Krieg Mitte des 19. Jahrhunderts, der ihren Namen trägt, ist nur die letzte Episode, die die Jahrhunderte währende Begehrlichkeit von Mächten aus ganz Europa auf die Halbinsel dokumentiert.

Aber es geht nicht nur um Krieg. Auch Wohlleben, Mondänität, kulturelle Inspiration für alle Genres hatte die einstige „Riviera des Ostens“ zu bieten. Die Krim ist ein Juwel. Umso erstaunlicher, wie sang- und klanglos ihr Besitzerwechsel 1954 über die Bühne ging. In der westlichen Presse war davon nichts zu lesen, in der sowjetischen fanden sich allenfalls ein paar dürre Halbsätze im Zusammenhang mit den Festreden zur 300-Jahr-Feier, mehr nicht. Was aber war der Hintergrund der Entscheidung? Und war sie überhaupt rechtlich abgesichert?


„Obwohl die Debatten über die Krim in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tief in die Geschichte hineinreichen, hat der Transfer der Krim 1954 keinen Historiker zur Antwort auf die Frage herausgefordert, wie es überhaupt dazu kam“, resümiert Sasse. Weder haben sich Chruschtschow-Biografen der Angelegenheit angenommen noch Autoren, die die Geschichte der Ukraine aufarbeiteten.

Hilfe für die Krim?
Wer war überhaupt Nutznießer des Beschlusses? Die Ukraine? Russland? Die Krim? Für Orest Subtelny, einen kanadischen Historiker mit ukrainischen Wurzeln, war er aus russischer Sicht lange nicht so altruistisch, wie er aussieht. Die Übernahme der Krim habe die Ukraine zunächst mal mit all den ökonomischen und politischen Problemen der Halbinsel belastet, die erst im Krieg bei langen Belagerungen zertrümmert und nach Kriegsende auch noch vieler ihrer Bewohner beraubt wurde, als Stalin 1945 die Deportation der Krimtataren ins ferne Kasachstan anordnete.

Die Lage in der Ukraine war desolat, ihr neues Anhängsel im Schwarzen Meer aber lag vollends am Boden. Hatte Chruschtschow, der in Südrussland geboren wurde und in der nahen Ukraine seine Jugend verbrachte, bevor er dort Parteichef wurde, den Wechsel etwa eingeleitet, nur um der Krim zu helfen?

Dies würde immerhin eine Begebenheit bestätigen, die Chruschtschows Schwiegersohn Alexei Adschubei, der den neuen Parteichef nach Stalins Tod auf seinen Reisen durchs Land begleitete, einmal erzählte: Als Chruschtschow im Oktober 1953 die Krim besuchte, soll er erschüttert gewesen sein über die katastrophale Lage und die Unzufriedenheit der Bewohner.

Ergebnis einer Laune?
Als er, ungeduldig wie oft, dann auf irgendeinem Flugplatz zufällig irgendein Flugzeug entdeckte, habe er dem nächstbesten Piloten befohlen, ihn sofort nach Kiew zu fliegen. Stunden später habe er beim Dinner mit der dortigen Parteiführung die Übergabe der Krim vereinbart und eine Umsiedlung von Ukrainern auf die Krim gleich dazu.


War die Gebietsübertragung also nur die Ausgeburt der Launen eines bisweilen cholerischen Parteichefs? Wohl kaum. Sasse nimmt den Leser an die Hand bei ihrem Streifzug durch einen ganzen Dschungel möglicher Erklärungen, in dem Historiker, politische Beobachter und Zeitzeugen ihre Fantasie sprießen ließen.

Chruschtschow, einst Weggefährte Stalins, ging es in den Monaten nach dessen Tod im März 1953 darum, sich als neue Nummer eins zu etablieren. Dies auch, indem er sich von dem größten Tyrannen der Sowjetgeschichte löste und die Entstalinisierung einleitete. Gegenspieler Lawrenti Beria war schnell aus dem Weg geräumt, aber in seinem Machtkampf gegen Georgi Malenkow konnte es für Chruschtschow darauf ankommen, sich der Genossen aus seiner einstigen Hausmacht in der Ukraine zu vergewissern.


Machtpolitisches Kalkül?
Das Naheliegende dafür in dem totalitären System: die Einflusssphäre der Kader in Kiew zu vergrößern, zur Not durch die Ausweitung ihres Territoriums, egal ob es sich um blühende Landschaften handelte oder um zertrümmerte, die immerhin ein gehöriges Potenzial aufwiesen.

Das Ziel: der Ukraine etwas zu schenken, um im Gegenzug selbst dieses ganze Land geschenkt zu bekommen; um das Land, in dem während des Krieges längst nicht alle Bewohner die Rote Armee hofiert hatten, stärker an Russland zu binden. Alles auch in der Absicht, die Dominanz der beiden großen slawisch bevölkerten Republiken im sowjetischen Riesenreich zu festigen – gegen die Problemregionen im Süden, zu denen auch die Krim mit ihren Tataren gehört hatte.

Wie dieses Wechselspiel vermeintlich gegenseitiger Zuwendungen gemeint war, zeigte sich bald. Die Parteiführung in Kiew nahm stolz zur Kenntnis, dass auf der Krim die ukrainische Sprache im öffentlichen Raum an Bedeutung gewann. Straßenschilder, Heldengedenken, Namen von Gaststätten, Behörden und Läden wurden ukrainisch, Lehrer aus der Ukraine unterrichteten die Krimjugend in ihrer Sprache. Aber Sasse konstatiert auch: „Diese weitgehend symbolischen Veränderungen wurden überschattet durch die von Moskau eingeleitete offizielle Ausrichtung der gesamten ukrainischen Bildungspolitik auf die russische Kultur.“

Keine „Ukrainisierung“
Ein „ernsthafter Versuch einer Ukrainisierung“ habe auf der Krim nie stattgefunden. Schlüsselstellungen der Halbinsel wie Sewastopol blieben sowieso in sowjetischer Hand, und der in den späten 50er-Jahren langsam, aber sicher wachsende Tourismus aus Moskau verstärkte das russische Element. Ukrainer im Exil, oft stark nationalistisch gesinnt, äußerten sich eher kritisch, als sie von der Gebietsreform hörten.


Dass die Krim zur Ukraine gehörte, war für sie eine Selbstverständlichkeit, natürlich, tief begründet in der Historie. Doch in der Diaspora ahnte man – womöglich nicht zu Unrecht –, dass hinter dem Handel das Ziel stand, die russische Kultur in der Ukraine zu stärken.

Zu alldem passt „das Fehlen jeglicher Hinweise auf den Transfer der Krim in damaligen zeitgenössischen sowjetischen Quellen“, wie Sasse schreibt, „das Schweigen ist vergleichbar mit Chruschtschows Geheimrede von 1956 (auf dem XX. Parteitag, d. Red.), in der er die Repression unter Stalin verurteilte“. Die Feierlichkeiten Ende Mai waren allein dem Jahrestag von Perejeslaw gewidmet, von der Krim war nicht die Rede – und Chruschtschow ließ auch die Krim nicht reden.


Eine einzige Quelle
Pavel Titov, Parteichef des Krimgebietes und damit nach den damaligen Regeln die Nummer eins auf der Halbinsel, wurde im Januar 1954 nach Moskau zitiert, um ihm die Überführung seines Landes mitzuteilen. Er protestierte und wurde deshalb sofort ersetzt durch den Ukrainer Dmytro Polianski. So jedenfalls erinnerte sich später Titovs Stellvertreter, L. G. Mezentsev.

An die Öffentlichkeit gelangten die politischen Entscheidungen vor der Übergabe der Krim erst 1992, nach Auflösung der Sowjetunion, in einem Beitrag des historischen Fachjournals „Istoricheskii Arkhiv“. Die einzige Quelle bis heute, die allerdings auch nur die Beschlüsse wiedergibt. Protokolle über Wortmeldungen existieren nicht, weder aus Sitzungen des Obersten Sowjets noch der Parteigremien. Fast ausschließlich gingen die Debatten seinerzeit um die Entwicklung der Landwirtschaft.


Laut Sasse geht aus dem Zeitschriftenbeitrag hervor, dass nur ein sehr kleiner Kreis um Chruschtschow in die Beschlussfindung eingeweiht gewesen sei, darunter auch der Parteichef der ukrainischen KP, Leonid Kiritschenko, der zu jener Zeit auch Kandidat für das Zentralkomitee der KPdSU war und mithin in Moskau kurze Wege zu Chruschtschow hatte.

Illegale Beschlüsse?
Und, auch dies ist seit 1992 ersichtlich: Abgestimmt haben nicht die eigentlich zuständigen Obersten Sowjets in Kiew und Moskau, sondern lediglich deren Präsidien, weshalb die Beschlüsse eigentlich als illegal anzusehen seien. Obendrein hätte bei den Sitzungen bisweilen fast die Hälfte der Mitglieder gefehlt, „eine der wenigen Möglichkeiten, seine Opposition zu anstehenden Beschlüssen auszudrücken“, schreibt Sasse. Nirgendwo sei die Wortmeldung eines Repräsentanten der Krim oder der dortigen Städte verzeichnet.

Als einer der schärfsten Kritiker der Aktion bildete sich nach der Veröffentlichung der Akten 1992 Jewgeni Ambartsumow heraus, in der Ära Gorbatschows stellvertretender Sprecher des Obersten Sowjets. Das Übergehen der zuständigen Gremien und das Gemauschel Chruschtschows mit dem Ukrainer Kiritschenko veranlassten Ambartsumow in einem Interview zu einem gewagten Vergleich: Das Ganze sei vergleichbar gewesen mit dem geheimen Hitler-Stalin-Pakt aus dem Jahr 1939.

Kommentare

Schreib auch du einen Kommentar
 
Zeitlos6 15.10.2023 10:49
Fuchs, Du hast die Gans gestohlen - gib sie wieder her ...
 
Unvaccinated 15.10.2023 11:03
Ich finde es jetzt auf die  Schnelle nicht aber ich habe vor kurzem in einem Bericht gelesen,  das mehrere 100.000 Hektar bereits im Besitz von Blackrock, Vanguard und anderen Investment-Firmen/Vermögensverwalter sind.

Der Ausverkauf der Ukraine ist längst Realität:

https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/blackrock-und-der-wiederaufbau-in-der-ukraine/
 
Zeitlos6 15.10.2023 11:31
Nun weoßt Du, weshalb Uncle Sam der Rest-Ukraine helfen will - doh es wird alles umsonst sein, denn die Ukraine ist wirtschaftlich von Putin abhängig und er bedankt sich auch schön für die milden Gaben.

Der US-Kongreß hat schon einem unter Busch den Geldhahn für den Krieg zugedreht ...
 
HeiligkeitundFreude 15.10.2023 11:33
Als Autor des obigen Artikels wird ULI KULKE genannt.

Zum Autor: (Quelle: https://ullikulke.de  )

Kulke war bei der Tageszeitung „taz“ von Anfang an als Wirtschaftsredakteur dabei, schnupperte in der wilden ersten Legislaturperiode der Grünen im Bundestag zwei Jahre lang Bonner Luft als entwicklungspolitischer Referent, kehrte aber aus Heimweh zum Journalismus – und nach Berlin – wieder zurück, war später Wirtschaftsredakteur bei der Zeitschrift „natur“ in München, leitete das Wissenschaftsressort der „Wochenpost“ (wieder in Berlin) und baute anschließend in Hamburg die Meereskulturzeitschrift „mare“ als Stellvertretender Chefredakteur und Textchef mit auf. 

Während all der Jahre schrieb er Reportagen, Essays und Reports unter anderem für fast alle großen Tageszeitungen und Magazine Deutschlands (Näheres hier unten in „Hinweis in eigener Sache“) und produzierte Radio-Features über mehrere Reisen in den Pazifik und Südostasien, veröffentlichte inzwischen zehn, auch preisgekrönte, Bücher vor allem zu historischen Themen (insbesondere Entdeckungsgeschichte und Raumfahrt). 

Zwanzig Jahre, von 1999 bis 2019 half er dabei, alljährlich die besten Reportagen und andere journalistische Glanzstücke zunächst für den Egon-Erwin-Kisch-Preis und anschließend für den Henri-Nannen-Preis auszuwählen. Von 2001 bis 2016 war Kulke als Reporter und Autor bei der Zeitung „Die Welt“ und „Welt am Sonntag“ angestellt. Seither ist er freier Journalist und Buchautor.

Zur Zeit schreibt er regelmäßig vor allem für den Autoren-Blog „Achse des Guten“ und die „Berliner Morgenpost“, für die er seit Anfang 2019 allwöchentlich in der Sonntagsbeilage („BIZ“) einen doppelseitigen Serienbeitrag zu stadtgeschichtlichen Themen Berlins bestreitet (Serie 2023: Berliner Bau- und Siedlungsgeschichte, die Architektur und ihre Streitigkeiten).
weiße TaubeJetzt kostenlos registrieren