📝 Mein Brief an Maria
15.08.2023 15:16
📝 Mein Brief an Maria
15.08.2023 15:16
📝 Mein Brief an Maria
------ im Februar 2021 geschrieben von
Mein Brief an Maria, die Mutter unseres Erlösers Jesus Christus:
Liebe Maria
Ich gebe es zu: Ich hatte bis vor wenigen Wochen ein recht distanziertes Verhältnis zu dir. Ich bin evangelischen Glaubens, und du weißt ja sicher, dass du in unserer katholischen Schwesterkirche eine viel größere Rolle spielst als bei uns. Wenn die katholischen Christinnen und Christen beim Rosenkranzgebet immer wieder sagen:
„Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
- wenn die Rosenkranzbeter also so beten, dann bekomme ich ein leicht mulmiges Gefühl. Der Anfang geht ja noch, ist es doch das, was der Engel damals bei der Ankündigung der Geburt deines Sohnes zu dir gesagt hat:
„Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“
Dass du unter den Frauen gebenedeit, gesegnet, bist und dass das auch für deinen Sohn gilt, das stimmt sicher. Aber dass wir dich zur Fürbitte bei Gott auffordern sollen, das macht mir als Protestant schon Mühe. Dafür ist nach Gottes Wort der Heilige Geist zuständig:
„Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können.“
Ich gebe es zu: Diese Umstände haben dazu geführt, dass mich nicht groß um dich gekümmert habe. Sehr zu Unrecht, wie mir jetzt klar geworden ist. Du bist eine starke Frau, eine Powerfrau, wie man Neudeutsch sagt, und du bist ein Vorbild im Gottvertrauen.
Du musst noch sehr jung gewesen sein, als der Engel zu dir kam und dir eröffnete, dass du Mutter des Erlösers werden sollst. Du hast den Engel nicht einfach ziehen lassen, sondern hast zurückgefragt: „Wie soll das gehen? Ich bin noch Jungfrau.“ Du hast erfahren, dass die Kraft Gottes die Schwangerschaft hervorrufen wird. Dann hast du eingewilligt. Ich bewundere dich, denn du hast ja mit Sicherheit gewusst, dass dir das Schwierigkeiten einbringen wird.
Dein Josef wollte dich denn auch prompt aus der Verlobung entlassen. Ein Engel – der gleiche, der bei dir war? – hat ihn daran gehindert. Der gute Kerl! Weißt du übrigens, Maria, dass von ihm in unserer Bibel kein einziges Wort überliefert ist? War er tatsächlich so schweigsam? Ich vermute, dass er ein Mann der Tat und nicht des Wortes war.
Von dir hingegen ist uns eine ganze Reihe von Worten überliefert, nicht nur dein Zwiegespräch mit dem Engel, auch dein Lobgesang, den du daran anschließend angestimmt hast. Es sind ganz erstaunliche Worte für ein so junges Mädchen aus einer armen Bevölkerungsschicht. Du hast unter anderem gesungen:
„Meine Seele preist voll Freude den Herrn, mein Geist ist voll Jubel über Gott, meinen Retter. Er hat gnädig auf seine arme Magd geschaut. Von nun an preisen alle Geschlechter mich glücklich. Der Mächtige hat an mir Großes getan; sein Name ist heilig.“
Es freut mich, dass wir diese deine starken Worte bis heute lesen können. „Magnificat anima mea dominum“, so heißt die erste Zeile deines Liedes in der lateinischen Übersetzung, und so zog sich dein Gesang unter dem Namen „Magnificat“ durch die ganze Kirchengeschichte.
Ich kann mir vorstellen, was für ein Wechselbad der Gefühle du mit deinem Sohn durchgemacht hast in den folgenden dreißig Jahren!
Angefangen hat’s schon mit der Geburt. Ausgerechnet kurz vor dem Termin musstet ihr in die Stadt eurer Vorfahren, nach Bethlehem, reisen. Du hättest dir bestimmt einen schöneren und saubereren Platz für deine erste Geburt gewünscht als einen schäbigen Stall!
Du und Josef, ihr habt euch an die biblischen Gebote gehalten und Jesus am achten Tag beschneiden lassen. Ich weiß nicht, ob du, Maria, den Apostel Paulus kennengelernt hast. Er hat ja viel nachgedacht über die Bedeutung deines Sohnes zu unserer Errettung. Er hat geschrieben:
„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen.“
Und was du dann vom alten Simeon erfahren hast! Das muss dich doch ziemlich verwirrt haben.
Du erinnerst dich sicher, wie er sagte:
„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie dein Wort es verheißen hat. Denn meine Augen haben das Heil geschaut, das du geschaffen hast, damit alle Völker es sehen: ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und eine Verherrlichung deines Volkes Israel. Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dir aber als seiner Mutter wird ein Schwert durch die Seele dringen.“
Ich kann mir vorstellen, dass nicht bloß ein Schwert durch deine Seele drang, sondern viele, bei allem, was du mit deinem Sohn erleben musstest.
Der nächste Einschnitt kam ja gleich kurz nach der Geburt, als ihr nach Ägypten fliehen musstet. Wieder hat dein lieber Josef angepackt, den Esel beladen und ist mit dir und dem Kind losgezogen. Herodes hat kurz nach eurer Flucht viele kleine Knaben umbringen lassen. Das hat dir bestimmt sehr wehgetan. Deinen Sohn hätte es treffen sollen, Unschuldige sind gestorben. Schon so früh hat die Welt in ihrer Blindheit deinen Jesus vernichten wollen.
Ein Erlebnis, das du und Josef mit Jesus hattet, als dieser zwölf Jahre alt war, ist uns überliefert. Du, liebe Maria, was musst du für eine Angst ausgestanden haben, als ihr euren Sohn drei Tage lang in Jerusalem habt suchen müssen. Ich kann mir dein besorgtes Herz gut vorstellen: zwei Nächte lang nicht wissen, wo das eigene Kind ist. Im Tempel habt ihr ihn schließlich gefunden. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“, hat er euch zu eurer Verwunderung gefragt. Ich verstehe nicht ganz, warum euch diese Aussage erstaunte. Hattest du die Ereignisse rund um die Geburt vergessen?
Jesus hat ja dann das Handwerk seines Ziehvaters, deines Josef, erlernt und ist Zimmermann geworden. Aus dieser Zeit erfahren wir nichts. Hattet ihr ein schönes Familienleben? Du hast nach Jesus ja noch mehr Kinder bekommen. Jedenfalls können wir von seinen Brüdern und Schwestern lesen. In diesem Zusammenhang verstehe ich nicht, warum behauptet wird, du seiest zeitlebens Jungfrau geblieben. Es sind nicht nur weitere Kinder von dir erwähnt, es wird lediglich gesagt, Josef habe dich bis zur Geburt von Jesus „nicht erkannt“.
Dein Josef taucht nach diesen Ereignissen in unserer Bibel nicht mehr auf. Wie lange dauerte deine Ehe mit ihm?
Ja, und dann hat dein Sohn seinen gelernten Beruf aufgegeben, seine gewohnte Umgebung in Nazareth verlassen und ist als Wanderprediger mit zwölf Männern im Land herumgezogen. Wie ist es dir dabei ergangen? Du hast ja sicher gespürt, wie sich auch jetzt wieder die Wut der weltlichen Mächte mehr und mehr gegen Jesus fokussierte. Er hat vom Reich Gottes gepredigt und den Menschen die Liebe Gottes nahegebracht. Vielen hat er geholfen, noch mehr haben ihn abgelehnt. Du hast bestimmt immer wieder an die Worte des alten Simeon denken müssen: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.“
Ich bin erschrocken, liebe Maria, als ich lesen musste, wie unwirsch dir dein Sohn manchmal begegnet ist. An jenem Hochzeitsfest in Kana hast du ihn darauf aufmerksam gemacht, dass kein Wein mehr da ist. „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ hat er dir darauf entgegnet, was ja nicht gerade freundlich ist. Du hast dich aber offensichtlich nicht beirren lassen und hast die Diener angewiesen, genau zu tun, was er sagt.
Und als du ihn später einmal zusammen mit deinen anderen Söhnen und Töchtern sehen wolltest, da antwortete er: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Hat er damit die natürlichen Familienbande zerschnitten? Wie ging es dir nach dieser Zurückweisung?
Und das Allerschlimmste: Du musstest miterleben, wie dein Sohn hingerichtet wurde. Du arme, tapfere Schmerzensmutter!
Diese Trauerstunde hat einen Dichter im Mittelalter dazu animiert, ein Gedicht über dich zu schreiben. Es beginnt mit den Worten:
Stabat mater dolorosa Juxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius.
was in unserer Sprache heißt:
Die Mutter stand weinend und schmerzerfüllt neben dem Kreuz, an dem ihr Sohn hing.
Was dich, liebe Maria, erstaunen mag: Über zwanzig Komponisten haben dieses Gedicht vertont.
Sie alle haben mit dir gefühlt, auch die Zuhörer der wunderschönen Musik tun es. Auch ich kann sagen: Wie fühle ich mit dir! Als du am Kreuzesstamm deines Sohnes standest, drang das Schwert mit seiner vollen Schärfe durch deine Seele.
Einen kleinen Trost durftest du erfahren: Noch am Kreuz hat Jesus liebevoll deiner gedacht. Er hat dir seinen Lieblingsjünger als Adoptivsohn gegeben und dich selbst ihm zur Mutter.
Und du selber in all deinen mütterlichen Schmerzen wirst zum Trost für Eltern, die ein Kind verloren haben.
Ich bin mit dir zusammen glücklich, dass du nicht nur die Niederlage deines Sohnes miterleben musstest. Nein, du gehörtest zu den allerersten, die sich nach der Auferstehung deines Sohnes zum Gebet versammelten. Man kann sagen: Du warst eine Christin der ersten Stunde.
Liebe Maria, du bist ein starkes Glaubensvorbild für mich. Ich bewundere dein Gottvertrauen und deine Glaubensstärke. Auch gegen den äußeren Augenschein hast du an dem festgehalten, was der Vater im Himmel dir gesagt hat.
Unser Kirchenvater Huldrych Zwingli hat sich einmal in einer Predigt wie folgt über dich geäußert:
„Gott hat der Maria große Gnade erwiesen. Er hat sie auserwählt zur Mutter seines Sohnes. Wir wollen von Maria den standhaften Glauben lernen. Sie zweifelte niemals an den Worten des Engels. Wer Maria hoch ehren will, folge ihrem Glauben nach und falle nirgends vom Herrn Christus Jesus ab.
Wie könnten wir an Gott verzweifeln? Wir sehen das tapfere Herz der Jungfrau Maria, die ihrem Sohn bis ans Kreuz nachgefolgt ist. Der innere Glaube, den der Geist Gottes in ihrem Herzen unterstützte, hat in ihr den Zweifel oder Abfall nicht aufkommen lassen. Deshalb hat sie tapfer, wenn auch mit inneren Schmerzen, dem Sterben ihres eigenen Kindes zugesehen.
Die höchste Ehre, die man der Maria antun kann, ist, dass man die Wohltaten ihres Sohnes, die er uns armen Sündern bewiesen hat, recht erkenne, recht ehre und um alle Gnade zu ihm laufe. Denn Gott hat ihn zu einer Versöhnung für unsere Sünden gemacht durch sein eigenes Blut. ER ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. Er hat sich zu einem Lösegeld hingegeben für alle Menschen. Wer die Zuversicht und das Vertrauen zu dem Sohne der Maria hat, der hat sie am besten geehrt.“
Diese Ehre, liebe Maria, tue ich dir sehr gerne an!
Dein Bewunderer
Pfarrer Alex Nussbaumer
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Mein Brief an Maria, die Mutter unseres Erlösers Jesus Christus:
Liebe Maria
Ich gebe es zu: Ich hatte bis vor wenigen Wochen ein recht distanziertes Verhältnis zu dir. Ich bin evangelischen Glaubens, und du weißt ja sicher, dass du in unserer katholischen Schwesterkirche eine viel größere Rolle spielst als bei uns. Wenn die katholischen Christinnen und Christen beim Rosenkranzgebet immer wieder sagen:
„Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
- wenn die Rosenkranzbeter also so beten, dann bekomme ich ein leicht mulmiges Gefühl. Der Anfang geht ja noch, ist es doch das, was der Engel damals bei der Ankündigung der Geburt deines Sohnes zu dir gesagt hat:
„Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“
Dass du unter den Frauen gebenedeit, gesegnet, bist und dass das auch für deinen Sohn gilt, das stimmt sicher. Aber dass wir dich zur Fürbitte bei Gott auffordern sollen, das macht mir als Protestant schon Mühe. Dafür ist nach Gottes Wort der Heilige Geist zuständig:
„Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können.“
Ich gebe es zu: Diese Umstände haben dazu geführt, dass mich nicht groß um dich gekümmert habe. Sehr zu Unrecht, wie mir jetzt klar geworden ist. Du bist eine starke Frau, eine Powerfrau, wie man Neudeutsch sagt, und du bist ein Vorbild im Gottvertrauen.
Du musst noch sehr jung gewesen sein, als der Engel zu dir kam und dir eröffnete, dass du Mutter des Erlösers werden sollst. Du hast den Engel nicht einfach ziehen lassen, sondern hast zurückgefragt: „Wie soll das gehen? Ich bin noch Jungfrau.“ Du hast erfahren, dass die Kraft Gottes die Schwangerschaft hervorrufen wird. Dann hast du eingewilligt. Ich bewundere dich, denn du hast ja mit Sicherheit gewusst, dass dir das Schwierigkeiten einbringen wird.
Dein Josef wollte dich denn auch prompt aus der Verlobung entlassen. Ein Engel – der gleiche, der bei dir war? – hat ihn daran gehindert. Der gute Kerl! Weißt du übrigens, Maria, dass von ihm in unserer Bibel kein einziges Wort überliefert ist? War er tatsächlich so schweigsam? Ich vermute, dass er ein Mann der Tat und nicht des Wortes war.
Von dir hingegen ist uns eine ganze Reihe von Worten überliefert, nicht nur dein Zwiegespräch mit dem Engel, auch dein Lobgesang, den du daran anschließend angestimmt hast. Es sind ganz erstaunliche Worte für ein so junges Mädchen aus einer armen Bevölkerungsschicht. Du hast unter anderem gesungen:
„Meine Seele preist voll Freude den Herrn, mein Geist ist voll Jubel über Gott, meinen Retter. Er hat gnädig auf seine arme Magd geschaut. Von nun an preisen alle Geschlechter mich glücklich. Der Mächtige hat an mir Großes getan; sein Name ist heilig.“
Es freut mich, dass wir diese deine starken Worte bis heute lesen können. „Magnificat anima mea dominum“, so heißt die erste Zeile deines Liedes in der lateinischen Übersetzung, und so zog sich dein Gesang unter dem Namen „Magnificat“ durch die ganze Kirchengeschichte.
Ich kann mir vorstellen, was für ein Wechselbad der Gefühle du mit deinem Sohn durchgemacht hast in den folgenden dreißig Jahren!
Angefangen hat’s schon mit der Geburt. Ausgerechnet kurz vor dem Termin musstet ihr in die Stadt eurer Vorfahren, nach Bethlehem, reisen. Du hättest dir bestimmt einen schöneren und saubereren Platz für deine erste Geburt gewünscht als einen schäbigen Stall!
Du und Josef, ihr habt euch an die biblischen Gebote gehalten und Jesus am achten Tag beschneiden lassen. Ich weiß nicht, ob du, Maria, den Apostel Paulus kennengelernt hast. Er hat ja viel nachgedacht über die Bedeutung deines Sohnes zu unserer Errettung. Er hat geschrieben:
„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen.“
Und was du dann vom alten Simeon erfahren hast! Das muss dich doch ziemlich verwirrt haben.
Du erinnerst dich sicher, wie er sagte:
„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, wie dein Wort es verheißen hat. Denn meine Augen haben das Heil geschaut, das du geschaffen hast, damit alle Völker es sehen: ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und eine Verherrlichung deines Volkes Israel. Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dir aber als seiner Mutter wird ein Schwert durch die Seele dringen.“
Ich kann mir vorstellen, dass nicht bloß ein Schwert durch deine Seele drang, sondern viele, bei allem, was du mit deinem Sohn erleben musstest.
Der nächste Einschnitt kam ja gleich kurz nach der Geburt, als ihr nach Ägypten fliehen musstet. Wieder hat dein lieber Josef angepackt, den Esel beladen und ist mit dir und dem Kind losgezogen. Herodes hat kurz nach eurer Flucht viele kleine Knaben umbringen lassen. Das hat dir bestimmt sehr wehgetan. Deinen Sohn hätte es treffen sollen, Unschuldige sind gestorben. Schon so früh hat die Welt in ihrer Blindheit deinen Jesus vernichten wollen.
Ein Erlebnis, das du und Josef mit Jesus hattet, als dieser zwölf Jahre alt war, ist uns überliefert. Du, liebe Maria, was musst du für eine Angst ausgestanden haben, als ihr euren Sohn drei Tage lang in Jerusalem habt suchen müssen. Ich kann mir dein besorgtes Herz gut vorstellen: zwei Nächte lang nicht wissen, wo das eigene Kind ist. Im Tempel habt ihr ihn schließlich gefunden. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“, hat er euch zu eurer Verwunderung gefragt. Ich verstehe nicht ganz, warum euch diese Aussage erstaunte. Hattest du die Ereignisse rund um die Geburt vergessen?
Jesus hat ja dann das Handwerk seines Ziehvaters, deines Josef, erlernt und ist Zimmermann geworden. Aus dieser Zeit erfahren wir nichts. Hattet ihr ein schönes Familienleben? Du hast nach Jesus ja noch mehr Kinder bekommen. Jedenfalls können wir von seinen Brüdern und Schwestern lesen. In diesem Zusammenhang verstehe ich nicht, warum behauptet wird, du seiest zeitlebens Jungfrau geblieben. Es sind nicht nur weitere Kinder von dir erwähnt, es wird lediglich gesagt, Josef habe dich bis zur Geburt von Jesus „nicht erkannt“.
Dein Josef taucht nach diesen Ereignissen in unserer Bibel nicht mehr auf. Wie lange dauerte deine Ehe mit ihm?
Ja, und dann hat dein Sohn seinen gelernten Beruf aufgegeben, seine gewohnte Umgebung in Nazareth verlassen und ist als Wanderprediger mit zwölf Männern im Land herumgezogen. Wie ist es dir dabei ergangen? Du hast ja sicher gespürt, wie sich auch jetzt wieder die Wut der weltlichen Mächte mehr und mehr gegen Jesus fokussierte. Er hat vom Reich Gottes gepredigt und den Menschen die Liebe Gottes nahegebracht. Vielen hat er geholfen, noch mehr haben ihn abgelehnt. Du hast bestimmt immer wieder an die Worte des alten Simeon denken müssen: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.“
Ich bin erschrocken, liebe Maria, als ich lesen musste, wie unwirsch dir dein Sohn manchmal begegnet ist. An jenem Hochzeitsfest in Kana hast du ihn darauf aufmerksam gemacht, dass kein Wein mehr da ist. „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ hat er dir darauf entgegnet, was ja nicht gerade freundlich ist. Du hast dich aber offensichtlich nicht beirren lassen und hast die Diener angewiesen, genau zu tun, was er sagt.
Und als du ihn später einmal zusammen mit deinen anderen Söhnen und Töchtern sehen wolltest, da antwortete er: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Hat er damit die natürlichen Familienbande zerschnitten? Wie ging es dir nach dieser Zurückweisung?
Und das Allerschlimmste: Du musstest miterleben, wie dein Sohn hingerichtet wurde. Du arme, tapfere Schmerzensmutter!
Diese Trauerstunde hat einen Dichter im Mittelalter dazu animiert, ein Gedicht über dich zu schreiben. Es beginnt mit den Worten:
Stabat mater dolorosa Juxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius.
was in unserer Sprache heißt:
Die Mutter stand weinend und schmerzerfüllt neben dem Kreuz, an dem ihr Sohn hing.
Was dich, liebe Maria, erstaunen mag: Über zwanzig Komponisten haben dieses Gedicht vertont.
Sie alle haben mit dir gefühlt, auch die Zuhörer der wunderschönen Musik tun es. Auch ich kann sagen: Wie fühle ich mit dir! Als du am Kreuzesstamm deines Sohnes standest, drang das Schwert mit seiner vollen Schärfe durch deine Seele.
Einen kleinen Trost durftest du erfahren: Noch am Kreuz hat Jesus liebevoll deiner gedacht. Er hat dir seinen Lieblingsjünger als Adoptivsohn gegeben und dich selbst ihm zur Mutter.
Und du selber in all deinen mütterlichen Schmerzen wirst zum Trost für Eltern, die ein Kind verloren haben.
Ich bin mit dir zusammen glücklich, dass du nicht nur die Niederlage deines Sohnes miterleben musstest. Nein, du gehörtest zu den allerersten, die sich nach der Auferstehung deines Sohnes zum Gebet versammelten. Man kann sagen: Du warst eine Christin der ersten Stunde.
Liebe Maria, du bist ein starkes Glaubensvorbild für mich. Ich bewundere dein Gottvertrauen und deine Glaubensstärke. Auch gegen den äußeren Augenschein hast du an dem festgehalten, was der Vater im Himmel dir gesagt hat.
Unser Kirchenvater Huldrych Zwingli hat sich einmal in einer Predigt wie folgt über dich geäußert:
„Gott hat der Maria große Gnade erwiesen. Er hat sie auserwählt zur Mutter seines Sohnes. Wir wollen von Maria den standhaften Glauben lernen. Sie zweifelte niemals an den Worten des Engels. Wer Maria hoch ehren will, folge ihrem Glauben nach und falle nirgends vom Herrn Christus Jesus ab.
Wie könnten wir an Gott verzweifeln? Wir sehen das tapfere Herz der Jungfrau Maria, die ihrem Sohn bis ans Kreuz nachgefolgt ist. Der innere Glaube, den der Geist Gottes in ihrem Herzen unterstützte, hat in ihr den Zweifel oder Abfall nicht aufkommen lassen. Deshalb hat sie tapfer, wenn auch mit inneren Schmerzen, dem Sterben ihres eigenen Kindes zugesehen.
Die höchste Ehre, die man der Maria antun kann, ist, dass man die Wohltaten ihres Sohnes, die er uns armen Sündern bewiesen hat, recht erkenne, recht ehre und um alle Gnade zu ihm laufe. Denn Gott hat ihn zu einer Versöhnung für unsere Sünden gemacht durch sein eigenes Blut. ER ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. Er hat sich zu einem Lösegeld hingegeben für alle Menschen. Wer die Zuversicht und das Vertrauen zu dem Sohne der Maria hat, der hat sie am besten geehrt.“
Diese Ehre, liebe Maria, tue ich dir sehr gerne an!
Dein Bewunderer
Pfarrer Alex Nussbaumer
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