Im Anfang war das lebendige Wort...

Im Anfang war das lebendige Wort...
...die Bibel will mit ihrer Gottesoffenbarung als das „leben=
dige Wort" und nicht als „heiliges Buch" bewertet werden. Sie will
nicht nur gelesen sein, sie will gehört werden. Ihre Offenbarung
will zu uns so sprechen, wie sie einst zu Aposteln und Propheten
gesprochen hat. Gibt es doch heute selbst in der Kirche Christi weite
Kreise, die das Alte Testament mit seinem Offenbarungswort ver
loren haben. Nicht als „heiliges Buch", sondern als „lebendiges
Wort" haben sie es verloren. So stark man sich auch offiziell zum
Buch noch bekennt, den Geist und die Kraft seiner Offenbarung
verkennt man und setzt sich über sie hinweg. Dem modernen
Menschen soll das reflektierende Denken die göttliche Offenbarung
ersetzen.
Was alles mit dazu beigetragen hat, daß der Offenbarungsgehalt
der alttestamentlichen Schriften der Gegenwart so verlorengegangen
ist, soll hier nicht erörtert werden. Uns bewegt allein die Frage,
wie jene Fülle von Gottesoffenbarung, die durch die Schriften des
alttestamentlichen Kanons festgehalten worden ist, auch uns wieder
zu solch einer Offenbarung wird, daß wir durch sie unser Innenleben
befruchtet, unsere Weltanschauung bestimmt, unsere Lebenshaltung
geordnet und unsere Heils= und Zukunftserwartungen belebt sehen.
Wer überhaupt noch an die Möglichkeit göttlicher Offenbarung
in der Natur, in der Geschichte, im Weltgeschehen und im Leben
Gott hingegebener Persönlichkeiten glaubt, dem steht fest, daß auch
die Geschichtsperioden vor unserer christlichen Zeitrechnung nicht
ohne Gottesoffenbarungen gewesen sind. Gewiß, die größte und
vollendetste wurde der Menschheit in der Person Jesu. Was der
„Sohn" uns brachte, konnten weder Mose noch die Propheten uns
bringen. Erst der Sohn zeugte von der „Sohnschaft" und war in
seinem Wort und Werk das verkörperte Evangelium des Vaters an
die Welt. Aber insoweit Gesetz und Prophet, Welt und Geschichte
bereits vor ihm das Göttliche und Ewige in sich aufzunehmen und
es zu dolmetschen vermochten, sind auch sie der Welt zu Kündern
der göttlichen Offenbarung geworden.
In unserem alttestamentlichen Kanon sind es nun besonders das
Gesetz, die Propheten und die Geschichte, die zu uns als Offen«
barung reden wollen. In ihnen wurde die Offenbarung als Wort
Fleisch und schuf ein Neues in der Geschichte. Wer die Geschieht«
lichkeit der Patriarchen, die Überlieferung von der Entstehung
Israels, die Vollmacht im Dienst der Propheten und den Glaubens*
inhalt der Psalmen gelten läßt, dem bleibt deren Entstehen, Sein
und Erleuchtung ein Rätsel, wenn er sie nicht auf die Offenbarung
Gottes zurückzuführen sucht. Alle Versuche, andere Quellen als das
Geheimnis ihrer Geschichtlichkeit, ihrer Kraft und ihres Dienstes zu
finden, werden immer wieder an ihrer Einzigartigkeit versagen.
Nur von Gott und seiner Offenbarung und nicht vom Menschen
und seiner Reflexion her ist daher jenes Leben mit seinem Zeugnis
zu verstehen, dem wir in den Schriften des alttestamentlichen Kanons
begegnen. Einerseits ist dieses Leben so natürlich, so diesseitig, so
menschlich — und doch wiederum so ganz anders als das Leben jener
Personen und Völker, die in ihrem Geiste keinen Raum für die neu
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schaffenden Kräfte der göttlichen Offenbarung hatten. So wahr es
auch ist, daß z. B. Israels Ursprung und Geschichte einerseits ganz
das Antlitz der anderen semitischen Nachbarvölker trägt, so ist es
andererseits doch nicht dasselbe Bild. Es liegt in seinen Glaubens«
vätern, in seiner Geschichte, in seinen Propheten so etwas Rätselhaftes, Unerklärbares, Prophetisches, das über das rein Menschliche,
Geschichtliche und Völkische hinaus auf höhere Quellen hinweist.
Es brach im Leben dieses Volkes so unendlich viel, zwar nur brach*
stückartig, unvollkommen, zeitlich begrenzt und gebunden, aber
doch als göttliche Offenbarung durch, die Israel in seinem Verhältnis
zu Gott, in seiner Weltanschauung, in seinem religiösen und gesell*
schaftlichen Leben und in seinen Zukunftserwartungen weit über
seine Nachbarvölker hinaushob.
Was aber einst das Leben einzelner und eines ganzen Volkes so
reich gemacht hat an göttlichem Licht, an innerlicher Kraft, an hin«=
gegebenem Dienst, an weltüberwindender Glaubenszuversicht, das
vermag auch uns zu dienen und zu jener Quelle zu führen, aus der
Gesetz und Propheten ihr Licht schöpften. Denn jedes Bächlein in
Gottes Schöpfung zeugt mit seinem Leben von jener Quelle, durch
die es genährt wird. Wenn wir nun in den Schriften des Alten
Testaments solch einen Strom höheren Lebens rauschen hören, wie
er inhaltlich sonst nirgends auch nur annähernd in der alten Welt»
literatur zu finden ist, so ist uns das ein Beweis für seine höhere
Quelle.
Ewiges kann nur von Ewigem kommen. An sich stand, wie wir
sagten, auch Israel=Juda als Volk nicht höher als die anderen semi=
tischen Nachbarvölker. Wenn wir in diesem Volke nun auch die
Vermittler dieses Stromes finden, so jedoch niemals seine Quelle.
Die unsichtbaren Quellgebiete für den Offenbarungsinhalt des
Alten Testaments lagen nicht in der entwickelten Religiosität des
israelitisch=jüdischen Volkes und in den prophetischen Trägern seiner
Geschichte. Diese Quellgebiete waren weit höherer Natur. Wohl war
die israelitische Nation mit ihren Propheten je und je Empfängerin,
jedoch niemals Schöpferin ihrer Offenbarungen. Soweit dieselben
göttlich waren in ihrem Inhalt, waren sie göttlich auch in ihrem
Ursprung. Gott war der Inspirierende, und Israel wurde sein Prophet.
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Nicht Israels Glaube schuf sich Jahve als seinen Offenbarungsgott,
sondern der Gott der Offenbarung schuf sich in Israels Glauben den
menschlichen Träger und Vermittler für seine göttliche Offenbarung.
Was ist nun das Wesen aller Gottesoffenbarung? Göttliche
Selbstmitteilung. Gottes urewiges Leben und Wesen ist Offen«
barung, ist Selbstmitteilung. Was er in seiner unerschöpflichen
Gottesfülle an Leben und Friede, an Trost und Energien, an Freude
und Gerechtigkeit in sich trägt, möchte er in seiner Liebe denen
mitteilen, die bereit sind, sich in ihrer Menschlichkeit und Vergäng=
lichkeit mit Göttlichem und Ewigem segnen zu lassen. Daher geht
auch seine ganze Sehnsucht auf einen ungetrübten Verkehr mit ihm
geistesverwandter Wesen. Solche will er sich erlösen und in den
Umgang mit sich selbst ziehen, damit sie die Empfangenden werden,
für die er der Gebende sein kann. Gott sehnte sich daher zu allen
Zeiten nach Persönlichkeiten, denen er anvertrauen könnte, was
seine göttliche Seele bewegte und als Leben in sich trug. Seine
Augen durchliefen je und je die Lande, um seine Kraft an denen zu
erweisen, die aufrichtigen Herzens ihm zugetan sind1
.
Dieses Geben von Gott her und dieses Empfangen vom Men=
sehen aus, ohne das keine Gemeinschaft des Menschen mit Gott
denkbar ist, kann nur durch die Offenbarung vermittelt werden.
In der Heilsgeschichte war nie am Anfang die Tat, sondern immer
das Wort. Erst sprach die Offenbarung, alsdann antwortete der
Glaube. Erst mußte die göttliche Barmherzigkeit in die Nacht und
in den Jammer des Menschen hinabsteigen und durch ihre schöp=
ferische Kraft in ihm den Glauben wecken, der den Menschen zu
einem Empfangenden werden ließ. Denn der lebendige Glaube sah
sich immer durch die Offenbarung als sein Subjekt bestimmt und
blieb als Objekt dauernd abhängig von dem Inhalt und der Kraft
der Offenbarung.
In allem heilsgeschichtlichen Geschehen, das aus der Erlösung
floß und in die Erlösung führte, war mithin Gott in seiner Offenbarung das ursächliche Subjekt und der Mensch durch den Glauben
das empfangende Objekt. Zuerst war Gottes Wort und alsdann die
glaubende Gemeinde, zuerst die höhere Erleuchtung und alsdann
1
2. Chron. 16, 9.
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der dolmetschende Prophet, zuerst die göttliche Berufung und alsdann das auserwählte Volk. Daher will je und je die Offenbarung
als fleischgewordenes Wort durch ihre Weltmission dem Menschen
zur Berufung werden, um ihn in Gottes Leben und Erwählung hin*
einzuziehen. Berufung ist das zeitliche Mittel, Erwählung die ewige
Bestimmung und das höchste Ziel der göttlichen Offenbarung für
den Menschen.
Gott schuf. Das war das erste, und der Mensch stand vor Gott
als dessen Geschöpf. Gott sprach. Das war das zweite, und der
Mensch stand vor seinem Schöpfer als Kind. Das Verhältnis zwischen
Gott und dem Kinde ist aber ein ganz anderes, weit höheres als
das zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf. Und nach diesem
Verhältnis sehnte sich Gott. Denn Gott ist Geist und Leben. Leben
aber ohne Möglichkeiten selbstloser Lebensmitteilungen ist immer
innerliche Vereinsamung, und zwar nicht allein für den Menschen,
sondern auch für Gott. Daher hat Gott auch nie dauernd geschwie=
gen. Er war ewig ein Gott der Offenbarung. Und sooft er redete,
wurde es licht in der Schöpfung und im Leben der Menschheit, auch
in ihrem gefallenen Zustande.
Ein dauerndes Schweigen Gottes würde die Menschheit in ewige
Nacht und Tod hüllen. Gottes Welterhaltung ist daher nichts anderes
als ein unausgesetzter Schöpfungsakt Gottes. Das Reich Gottes wirkt
sich geschichtlich aus als eine fortschreitende Offenbarung Gottes.
Es konnten daher auch die dunkelsten Zeiten der Geschichte Gott
nie zum dauernden Schweigen bringen. Wenn er vorübergehend
schwieg, so redeten die Gerichte und trugen Tod und Verderben in
die Menschheit und in die Schöpfung hinein. Sein sich offenbarendes
Licht war jedoch bisher noch immer stärker als die Finsternis, sein
sich mitteilendes Leben war mächtiger als der Tod. Auch nach der
dunkelsten Nacht kam daher je und je die Stunde, wo das göttliche
Wort Fleisch wurde und als Offenbarung unter uns weilte. Wenn
erst die Zeit erfüllet war, sandte er noch immer seine Propheten.
Durch sie sollte kundwerden, was die Welt zunächst ohne Offen*
barung nicht zu empfangen vermochte1
.
Als Jesus unter uns weilte, konnte der Vater zu ihm selbst durch
1
Amos 3, 7; Dan. 2, 22.30.
13
den Sperling auf dem Dache und durch die Blume auf dem Felde
reden. So manche Beter des Alten Testaments empfingen die Inspiration für ihre Psalmen und Anbetungen vielfach aus dem wunder»
baren Walten Gottes in der Natur und in dem Weltgeschehen ihrer
Zeit. Paulus hörte mit seinem durch den Umgang mit Gott geschärf=
ten Ohr nicht nur sein Volk und die damalige alte Welt, sondern
auch die ganze Schöpfung seufzen. Er sah ihre gegenwärtige
Gebundenheit; er vernahm, wie sie, gleichsam in Geburtswehen
schmachtend, sehnsuchtsvoll wartete auf das Freiwerden von dem
Druck der Vergänglichkeit durch das Offenbarwerden der Söhne
Gottes. Denn ein auf Gottes Erlösungsbotschaft eingestelltes Ohr
vernimmt in einer unerlösten Schöpfung den Sdirei nach Erlösung
auf jedem Gebiet.
Selbst die Weltgeschichte will in ihrem tiefsten Wesen und in
ihrem weitesten Umfang denen eine Geschichte der göttlichen Offen*
barungen sein, die in ihr Gottes verborgenes und zielbewußtes
Walten zu sehen vermögen. Sie sollen bei aller Nacht der Geschichte
dennoch erkennen, daß hinter allen Erscheinungen, Kräften, Lebens»
formen, Naturgesetzen und Führungen letzthin doch Gott mit seinen
unerforschlichen Keilsgedanken steht, um die ganze Schöpfung ihrer
ewigen Erlösung und der kommenden Gottesherrschaft entgegen»
zuführen. Er sieht im ganzen Kosmos nicht blinde Naturnotwendig=
keiten, im großen Weltgeschehen nicht zwecklose Zufälligkeiten, im
bunten Völkerleben nicht ein unkontrollierbares Etwas und im
gegenwärtigen Dasein des einzelnen nicht eine unberechenbare
Unvernunft herrschen. Es stehen ihm vielmehr hinter allem die
schöpferischen Lebenskräfte dessen, der durch sein lebendiges Wort
die Schöpfung zu seinem Tempel und den Menschen zu seinem
Ebenbilde erlösen will. Denn Gott ist groß genug, auch eine gefallene
Schöpfung wieder in seine Erlösung hineinzuziehen.
Nun war aber das Empfangen der Gottesoffenbarungen immer
mit einem bestimmten Erleben Gottes verbunden. Wohl waren die
Mittel, die Gott wählte, sich seinen Knechten zu offenbaren, sehr
verschieden und mannigfaltig. Einem Mose enthüllte sich der Herr
zunächst durch einen Dornbusch. Aber diese Offenbarung führte
zur Berufung Moses zum Propheten. Jesaja erlebte dieselbe Berufung
14
auf Grund einer Vision. Ein Jeremia wurde offenbar rein innerlich
von der unwiderstehlichen Gewißheit ergriffen, daß Gott ihm trotz
seiner Jugend das Wort Gottes für sein Volk anvertrauen wolle.
Aber welche äußerlichen Ereignisse oder pneumatische Seelenerleb=
nisse auch mitwirkten, um sich seinen Knechten zu offenbaren, alle
Mittel, die Gott je und je erwählte, waren in sich von völlig unter»
geordneter Bedeutung. Er hat die Erwartungen seiner Propheten nie
an solche Mittel gebunden. Als Mose seinen Gott auch ohne Dorn=
busch verstand, hat der Herr nie mehr auf diesem Wege mit seinem
Knecht verkehrt. Später redete er mit ihm, wie ein Freund mit
seinem Freunde redet. Denn Freunde Gottes verstehen ihren Gott
auch ohne Dornbusch.
Man darf daher wohl sagen: je näher der Prophet innerlich
seinem Gott stand und je zarter sein Ohr für die Sprache Gottes
wurde, desto mehr trat das Mittelbare in der Theophanie zurück.
Je reicher das Maß des Geistes war, mit dem der Prophet sich von
Gott begnadet sah, desto unmittelbarer wurde auch sein Verkehr
mit Gott und sein Verstehen Gottes. Jesaja läßt sich jeden Morgen
sein Ohr öffnen und hört auf die Sprache Gottes wie ein Jünger1
.
Je ferner jedoch der Prophet zunächst Gott stand, desto grobsinn=
licher mußten mithin auch die Mittel sein, durch die Gott sich ihm
zu offenbaren vermochte. Daher finden sich auch heute noch bis tief
ins Christentum hinein überall da viel Symbolik und Äußerlichkeit,
wo zunächst wenig Pneuma und Innerlichkeit das Wesen der christ»
liehen Frömmigkeit ausmachen.
Man wird mithin bei einer genauen Prüfung der Offenbarungs=
mittel finden, daß sie von Gott vielfach so gewählt wurden, wie sie
zunächst der pneumatischen Einstellung und dem geistlichen Ver=
ständnis der einzelnen Gottespropheten am meisten entsprachen.
Gott nahm das Offenbarungsgefäß in der Geschichte so, wie er es
vorfand. Er fragte nicht, was der Prophet zunächst an sich war,
sondern was seine Gnade und sein Geist aus ihm würden machen
können. Ob nun so oder anders — das Entscheidende war jedoch
immer, daß der Prophet seinen Gott auf ganz bestimmten Gebieten
als Offenbarung erlebte. Wie Elia und Jeremia empfing er Aufträge,
1
Jes. 50,4.
15
denen er sich hinfort nicht mehr zu entziehen wagte. Wie Arnos
und Jesaja lernte er im göttlichen Lichte die großen Ereignisse der
Weltgeschichte deuten, wie dies kein Tempelpriester noch Staats=
mann zu tun vermochte. Wie Hesekiel und Joel gewann er Perspek=
tiven für eine nahende Heilszukunft, die ihn befähigten, in der
Seele seines Volkes Hoffnungen zu wecken, die hinfort durch kein
Leid der Zeit geknickt oder vernichtet werden konnten. Und so
konnten Israels größte Leidenszeiten zur Geburtsstunde für des
Volkes höchste Erwartungen werden.
Die wahren Gottespropheten waren daher als Empfänger und
Träger der göttlichen Offenbarungen keine Persönlichkeiten, die
seelenlos empfingen und weitergaben, was ihnen aus der Ewigkeit
anvertraut wurde. Jede Offenbarung wurde in ihnen vielfach unter
großen Wehen geboren und hing hinfort aufs engste mit ihrem
Leben zusammen. Entzog man sich bewußt der empfangenen
Gottesoffenbarung und dem Auftrag, der mit ihr verbunden war,
dann ging der Prophet selbst zugrunde1
. Wie der Mensch genötigt
ist, das natürliche Leben zu leben, in das er durch die Geburt
hineingestellt worden ist, so sah sich auch der wahre Gottesprophet
genötigt, sich in jenen göttlichen Wahrheiten zu bewegen und zu
betätigen, in die ihn sein innerliches Gotterleben hineingestellt hatte.
Daher sprach er auch von dem Großen und Göttlichen, das er
zu künden hatte, als von Erlebtem. Er redete nie von Offenbarungen,
wenn ihm solche nicht direkt von Gott anvertraut worden waren.
Er war immer nur insoweit Prophet, als er sich durai eine direkte
Offenbarung zum Propheten bevollmächtigt sah und er dem gött=
liehen Auftrag zu gehorchen wagte. Der wahre Prophet hatte nie
eine Gottesoffenbarung im Sinne des Verfügens, des Habitus. Er
besaß nicht, er empfing. Das Geheimnis seines Dienstes und seiner
Botschaft lag in seiner Abhängigkeit von Gott. Er war nicht an sich
Prophet, sondern nur insoweit, als er sich durch Gottes Offenbarung
von Fall zu Fall begnadigt sah.
Im Gegensatz dazu standen die falschen Propheten. Sie stahlen
Gottes Wort, gaben weiter, was ihnen nie als Offenbarung anver=
traut worden war. Sie redeten in der Vollmacht anderer Gottes=
1
Jona 1, 12.
16
knedite. Anstatt daß sie auf die Spradie Gottes lauschten, hing ihr
Ohr am Munde des Volkes. Daher riditete sidi ihre Botsdiaft nach
dem Willen des Volkes. Sie gingen hinter ihrem Volke her, anstatt
wie Priester Gottes führend vor ihrem Volke zu wandeln. Sie hatten
nicht vor Gott gestanden, bevor sie dem Volke weissagten. Daher
fehlte ihrem Leben und ihrer Botschaft auch die innere Autorität
und Legitimation der Gottgesandten.
Denn die einzige Legitimation der wahren Gottespropheten lag
allein in deren dauernder Ordination, die sie in ihrer menschlichen
Ohnmacht und Abhängigkeit auf Grund göttlicher Inspirationen
empfingen. Sie hatten in ihrem Innenleben jene Prophetenwarte,
wo der Mensch schwieg und Gott redete. So groß das Stimmengewirr
ihrer Zeit auch war, so laut der politische und religiöse Mensch ihrer
Tage auch redete, sie kannten jene Stille1
, wo das Ohr des Geistes
nur Gott reden hört. Hier gewannen sie eine Orientierung, wie sie
ihnen weder der kultische Tempeldienst noch die herrschende Staats=
politik zu geben vermochten. Im Lichte Gottes geschärft, gewann ihr
Auge einen Weitblick, ihr Gewissen eine Zartheit, ihr Urteil eine
Sachlichkeit, durch die sie sich weit über die allgemeine Orientierung
ihrer Zeit hinausgehoben sahen. Gottes Offenbarung zog sie hinein
auch in Gottes Urteil.
In dieser ihrer göttlichen Orientierung wurden die Propheten
dann auch zu einem unbestechlichen Gewissen für die Welt. Denn
obwohl sie als geistliche Persönlichkeiten mit ihrem Haupt in die
Wolken ragten, standen sie als Menschen doch mit beiden Füßen
auf der Erde. Obgleich sie mit ihrem erleuchteten Herzen in den
Dingen der Ewigkeit lebten, bewegte sich ihre priesterliche Seele
doch in dem sozialen und politischen Ergehen ihres Volkes und der
Zeit. Obschon ihr auf Offenbarung eingestellter Geist Gottes ewigen
Rat zu erforschen suchte, lebten sie mit ihrem Leibe doch in einem
ganz bestimmten Augenblick der Geschichte. Das von Gott empfan*
gene Licht wurde der Inhalt ihrer Mission2
. Daher richtete ihre
Wahrheit die Lüge ihrer Zeit. Ihre Botschaft legte dem Volke den
Weg zum Leben und zum Tode vor. Ihr Urteil forderte vielfach eine
1
Hab. 2, 1; Ps. 73, 17; 85, 9.
2
Luk. 8, 16—18.
17
völlige Umstellung der herrschenden Gesinnung in Kultus und
Staat. Was die Zeit für Rettung und Leben hielt, bedeutete für sie
Verderben und Untergang. Sie waren hoffnungslos, wo ihre Zeit=
genossen triumphierten. Sie weinten, wo andere jubelten. So waren
sie Männer ewiger innerlicher Konflikte. Das Licht der Rettung, das
sie sahen, wurde von den anderen als die Quelle alles Unheils ver=
worfen1
. Während sie irre wurden an ihrem Volke, wurde ihr Volk
irre an seinen Propheten und an deren Lebensauffassung und Welt=
anschauung.
Das machte den Weg der Gottespropheten je und je unsagbar
einsam. Wie ein Jeremia wurden sie nicht einmal von ihren Brüdern
verstanden und von ihrer Zeit verworfen. Prophetenwege waren
immer einsame Wege, und Prophetendienste führten niait selten zu
den Leiden des Christus außerhalb des Lagers. Was jedoch den Weg
dieser Gottespropheten so einsam machte, war, daß sie in der Regel
Jahrzehnte und mehr ihrem Volke voraus lebten. Erst spätere
Generationen begriffen sie in ihrer Sendung und Botschaft. Sie
schmückten vielfach die Gräber derer, die von ihren Vätern ver=
worfen waren. Wie oft erlebte es ein Gottesprophet, daß ein ganzes
Zeitalter sich dem verschloß, was ihm von Gott zum Heile seines
Volkes enthüllt war!
Nun kann Gott in seiner vollen Offenbarung nur von Gott ver=-
standen werden. Um jedoch von Menschen in ihrem Fall verstanden
zu werden, mußte die Gottesoffenbarung zu allen Zeiten Fleisch
werden. Der Mensch erhob sich trotz all seiner frommen Reflexionen
doch nie bis zur göttlichen Offenbarung. Daher stieg diese jedesmal
hinab in die Knechtsgestalt des Menschen.
Die Geschichte Jesu in seiner Knechtsgestalt als des Logos Gottes
war auch zu allen Zeiten die Geschichte der Offenbarung. Von
einigen wurde sie zu ihrem und der Welt Heil begriffen, von anderen
zu ihrem Gericht verworfen. Sie sah sich immer wieder nur von
denen verstanden, denen Gott einen Hauch von seinem Geist und
Sinn schenken konnte. Am tiefsten erfaßten noch immer die den
Geist der Schrift, die sie von Gott her zu lesen verstanden.
Um überhaupt von Menschen verstanden zu werden, waren die
» l.Kön. 18, 17 ff.
18
zeitlichen Formen der göttlichen Offenbarungen immer eine gewisse
Vermensdûidiung des Göttlichen. Sobald die Ewigkeit in die Zeit
tritt, muß sie die Formen des Zeitlichen annehmen. Der Logos Gottes
muß Fleisch werden, um als das geoffenbarte Wort zu uns reden zu
können. Alles Göttliche muß eine Vermenschlichung erleben, damit
es als Offenbarung von uns verstanden werden kann.
Das hat dazu geführt, daß unsere ganze religiöse und metaphy=
sische Begriffswelt sich so stark in Bildern und Gleichnissen bewegt,
die der Diesseitigkeit angehören. Die Gegenwart Gottes verkörpert
sich uns im Tempel. Eine restlose innere Hingabe an Gott bezeichnen
wir als Opfer. Inspirationen des Heiligen Geistes nennen wir Feuer
von oben. Die wahren Jünger Jesu sind uns in ihrer Gesamtheit der
Leib des Auferstandenen und der Tempel des Heiligen Geistes.
Selbst zur Bezeichnung Gottes des Vaters und seines Sohnes Jesu
Christi benutzt die Heilige Schrift die verschiedensten Namen. Ob
die Schrift Gott als Elohim oder El=Schaddai oder Adonai oder
Jahve Zebaoth bezeichnet, kein Begriff faßt das Wesen Gottes in
seiner ganzen Gottesfülle. Dasselbe gilt auch von den Namen Jesu.
Johannes der Täufer nannte ihn das Gotteslamm — und doch war
er unendlich mehr als das. Jesus nennt sich selbst das Licht der Welt,
das Brot des Lebens, den wahren Weinstock, den Guten Hirten. Und
doch war er unendlich mehr, als diese Begriffe und Gleichnisse aus=
zudrücken vermochten. Einem Paulus ist er der Kyrios, der Erst=
geborene der ganzen Schöpfung, der Erstgeborene aus den Toten,
das Haupt der Gemeinde. Aber auch all diese Begriffe drücken nur
ganz bestimmte Seiten seiner Christuspersönlichkeit und seines
göttlichen Pleroma aus.
Dasselbe gilt auch von dem Volke Gottes und der Gemeinde
Christi. In meinen jüngeren Jahren wurde ich einmal auf zwei
Fragen geführt, die mein Leben entscheidend beeinflußt haben. Die
eine lautete: Was ist dir Christus? Da wurde mir klar, warum in der
Heiligen Schrift sowohl der Vater als der Sohn und auch der Heilige
Geist so verschiedene Namen tragen. Kein einziger Begriff aus
unserer Welt der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit vermag das ganz
auszudrücken, was uns der Vater, der Sohn und auch der Heilige
Geist in ihrer Fülle sein wollen. An diese Frage schloß sich im Laufe
19
der Zeit eine zweite: Und was bist du Christo? Da erfaßte ich, daß
auch alle Begriffe zur Bezeichnung der Jünger Jesu nichts als zeitliche
Gleichnisse sind, die uns unser wahres Verhältnis zu Christo und
in ihm zum Vater dolmetschen sollen.
Daher waren auch die Formen, die Gott je und je zu seiner
Theophanie wählte, unendlich mannigfaltig und wandelbar und
bildeten nur den stofflichen Körper für den ewigen Geist. Um seine
Gegenwart zu offenbaren, erschien Gott einem Mose im Dornbusch,
antwortete er auf das Gebet eines Elia mit Feuer, erfüllte er den
Tempel Salomos mit der Wolke. Nie hat er sich jedoch in der Offen*
barung seiner Gegenwart auf diese Formen beschränkt. Sie sind
unendlich, wie Gott unendlich ist, und er erwählte immer wieder
die, in denen er sich im Lauf der Geschichte vom Menschen am tief=
sten verstanden sah.
Daher trugen auch viele dieser Formen einen temporären und
lokalen Charakter, und manche wurden später abgelöst durch
reinere und höhere Formen, oder aber sie verschwanden ganz. Um
den anbetenden Israeliten zu vergegenwärtigen, daß der Herr in der
Mitte seines Volkes zelte und nahe sein will denen, die ihn anrufen,
wurde der ganze Gottesdienst dieses Volkes an den Tempel, als die
Wohnstätte Gottes auf Erden, gebunden. Als jedoch viel später die
Samariterin am Jakobsbrunnen den „Sohn" fragte, wo denn eigent*
lieh die wahre Stätte der Anbetung Gottes sei, in Samaria oder in
Jerusalem, da antwortete ihr Jesus: „Weib, glaube mir, es kommt
die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den
Vater anbeten werdet .. . Es naht die Stunde und ist schon da, wo
die wahren Anbeter anbeten werden im Geist und in der Wahrheit1
."
Dieser vielfach lokale und temporäre Charakter der Form der
Offenbarung ist leider allzuoft übersehen und vergessen worden.
Daher verewigte der Mensch je und je die Form und tötete den Geist.
So entstand in Israel eines Tages jener seelenlose Opferkultus, gegen
den von Zeit zu Zeit die wahren Gottespropheten mit solch einer
Schärfe in der Vollmacht des Geistes auftraten.
Denn die äußerlichen Formen der Offenbarung lassen sich letzt=
hin auch von Menschen weiterpflegen, die ohne den Geist der Offen*
1
Joh. 4, 24.
20
barung leben. Formen und Bekenntnisse können sehr alt werden
auch ohne Geist. Wohl sprach man in den Tagen Jesu: „Wir haben
Abraham zum Vater", aber man atmete nicht den Geist Abrahams.
Wohl bekennt die neue Welt sich zum apostolischen Christentum,
lebt aber in ihrer Masse nicht im Geiste der Apostel und Propheten.
Man schuf das Heilige und verlor den Heiligenden. Man trug
den Prophetenmantel ohne eine Prophetenseele. Man pflegte den
„heiligen" Tempel und fühlte nicht den Verlust der heiligenden
Gegenwart des lebendigen Gottes. Man beugte sich vor dem Kreuz
anstatt vor dem Gekreuzigten. Es wurde die Religion, die uns lehrte,
Gott zu finden und zu dienen, ohne uns jedoch jenen Umgang mit
Gott zu bringen, wo Gott uns zu finden und zu dienen vermag. Die
äußere Geistesform sollte die innere Geisteskraft ersetzen.
Daher ließ Gott auch im Lauf der Geschichte immer wieder durch
Gerichte jene Formen zusammenbrechen, die sich eines Tages als ein
dauerndes Hindernis zwischen Gott und Mensch gestellt hatten.
Denn die Offenbarung ist unabhängig vom fleischlichen Willen eines
Mannes, unabhängig auch von heiligen Orten und Zeiten, von
geschichtlich gewordenen Kirchen und Konfessionen, wenn Gott
sich aus Gnaden ihrer auch überall und immer bediente. Aber sie ist
gebunden, unlöslich gebunden an den Geist Gottes, der ausgegossen
werden soll über alles Fleisch. Gott mußte Tempel und Kultus ver=
nichten, sobald sie dem Menschen den Zugang zu ihm raubten,
wenn sein Volk ohne seine Gegenwart und ohne innere Hingabe
an seinen Geist lebte.
An sich war Gott nie gegen die Form. Das erste, was der Geist
in den Schöpfungstagen zu erreichen suchte, war, daß er mit jedem
neuen Tage neue Lebensformen schuf und sie in organische Ver=
bindung und Harmonie zueinander brachte. So schuf der über dem
Chaos schwebende Odem Gottes sich im Kosmos seine Leiblichkeit.
Ohne Leiblichkeit ist keine Lebensäußerung der Seele und des
Geistes denkbar. Das tiefste Denken des Menschen bleibt unfrucht=
bar, wenn es sich durch die Sprache des Organismus dem Nächsten
nicht mitteilen kann.
Wo mithin die Form in ihrer Mannigfaltigkeit entsprechend der
unendlichen Mannigfaltigkeit des geistlichen Lebens nichts anderes
21
war als die geistleibliche Verkörperung des Geistes, da war sie Gott
immer wertvoll und stand unter seinem göttlichen Segen. Denn
„Leiblichkeit", d. h. Verleiblichung des Geistes, ist und bleibt das
Ziel aller Wege Gottes. In dieser Welt der Stofflichkeit und Zeitlich=
keit, wo alles Leben an Raum und Zeit gebunden ist, vermag sich
das Leben nur durch eine geist=leibliche Körperlichkeit zu äußern.
Wo mithin Geist und Form eine organische, lebendige Einheit sind,
darf der Körper nicht getötet werden. Sonst schwindet auch der
Geist, der in diesem Organismus lebt und sich durch ihn auswirkt.
Form ohne Geist war Gott immer ein Greuel. „Ich mag eure Brand*
und Festopfer nicht!" — läßt er dem opfernden Israel durch seinen
Propheten sagen1
.
Aber jede Vermenschlichung des Göttlichen ist wiederum auch
eine bestimmte Verhüllung Gottes. Kein Wort, kein Bild, kein
Gleichnis, kein Begriff aus der Zeit der Vergänglichkeit kann uns
das Ewige und Göttliche ganz enthüllen. Jede Enthüllung des Gött=
liehen durch menschliche Formen war daher immer auch eine Ver=
hüllung des Göttlichen durch das Menschliche. Obgleich der Tempel
die Gegenwart Gottes in der Mitte seines Volkes symbolisierte,
sah der anbetende Israelit, der seinem Gott begegnen wollte,
wohl Tempel und Altäre, heilige Decken und Gefäße, aber die
Schechina, die Herrlichkeit Gottes, sah er nicht. Daher kann alles
Stoffliche wohl Symbol, aber nie das Viesen des Göttlichen selbst
sein. Gott ist größer als jedes Symbol, sein Leben reicher als alle
Formensprache der Menschheit.
Es gibt nur ein Gefäß, das ihn wesenhaft in seinem Geist
und in seiner Offenbarung fassen wird: der Geist des einst völlig
erlösten Menschen. Eingestellt auf Gott, wird er zu einem Tempel,
wo Gott geschaut und angebetet wird in seinem wahren Wesen, in
seiner Majestät und Herrlichkeit. Hier erlebt man Gott im Beginn
seiner erneuernden und heiligenden Kraft und tritt in eine lebendige
Gemeinschaft mit ihm, wie sie nur unter innerlich geistesverwandten
Wesen gepflegt werden kann. Hier kommt es, wie einst bei einem
Mose, zum Schauen der Gestalt Gottes, und man wird vertraut mit
1
Jes. i, 11—15.
22
dem ganzen Hause Gottes1
. Denn nur der Mensch als Gottes Eben=
bild ist groß genug, Gott in seiner Größe und Majestät, in seinem
Heil und in seiner Kraft so zu fassen, daß er beginnt, in seiner
Gesinnung und in seinem Charakter, in seinem Dienst und in seiner
Hoffnung das wahre Bild seines Vaters zu tragen.
Nichts Geringeres ist der eigentliche Zweck und das Ziel der
göttlichen Offenbarungen...https://www.sermon-online.com/de/contents/19345...Gruss,Ralf😘

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