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Das Geheimnis der 70

Das Geheimnis der 70
Bodo, mein linker Philosoph aus der Kneipe „bei Heike“ meinte, dass die 70 die geheimnisvollste Zahl überhaupt sei. Um hinter ihr Geheimnis zu kommen, müsse man nur einen Tag durchhalten und alles Tun mit dieser Zahl verbinden.

„Um 70 Uhr kann ich nicht aufstehen“, meinte ich.
„Aber Du könntest 70 Stunden später oder früher aufstehen“, konterte er. Und dann, nach dem Aufstehen, machst Du alles nach der Regel 70.

Ich: „Und hast Du selbst mal so einen Tag mit der 70 erlebt?“
Bodo: Ich habe es ehrlich versucht, aber ich habe nur einmal die Regel vergessen, dass man an dem Tag niemandem sein Tun mit der Zahl 70 begründen darf.“
Ich: „Und was passiert dann, wenn man doch jemandem verrät, worum es eigentlich geht?“
Bodo: „das verrate ich Dir, wenn Du es selbst mal versucht hast. Aber beachte die goldene Regel: Niemals, niemandem verrate die 70 als Grund für Dein Handeln.“

Da ich gerne merkwürdigen Dingen auf den Grund gehe, jeden Unsinn aufdecke, um meine Mitmenschen vor Unsinn und Irrtümern zu warnen, beschloss ich, das angebliche Geheimnis der 70 aufzudecken. Als Begleiterin durch den Tag wählte ich Esther, denn die Summe unserer Alterszahlen geteilt durch 2 ergab genau 70.

Am Dienstag blieb ich bis 14 Uhr im Bett, damit ich am kommenden Sonntag pünktlich um 9 Uhr nach einer Zwischenzeit von 70 Stunden bei Esther sein konnte. Zum Frühstück bestellte ich mir Kichererbsen, überbacken mit Käse. Es sollten sehr sehr viele sein. Esther wunderte sich, da ich sonst 1 Brötchen und ein weichgekochtes Ei bevorzuge. „Ja, ein Ei werde ich bei Dir auch essen“, sagte ich. Welches ich 70 Minuten lang kochte. Wichtige Dinge gelingen nur, wenn man es selber macht. Nach einer halben Stunde moserte Esther: „Das Ei ist 100%ig schon hart. Wie lange willst du es noch im kochenden Wasser quälen?“ Ich antwortete nur: „Es gibt ein Geheimnis….welches ich heute lüften werde.“ Dabei zählte ich die Kichererbsen. Esther hatte nur 34 gekocht. Also kochte ich nochmal 36 dazu.  „Na, Du hast aber einen guten Appetit“, meinte sie. „Hoffentlich fügen die Erbsen der Raumatmosphäre keinen Schaden zu.“

Danach fuhren wir mit dem Auto in Richtung Düsseldorf, wo wir das Museum K1 besuchen wollte. Mein Tank zeigte an, dass er nur noch für 50 KM Sprit hat, also steuerte ich erst eine Tankstelle an. Ich tankte 50 Liter, kaufte mir daher noch 4 Kanister à 5 Liter Volumen, die ich ebenfalls betankte. Esther meinte nur: „Du solltest nicht so ängstlich sein. Mit Deinem vollen Tank schaffen wir es doch locker hin und zurück.“ „Sicher ist sicher“ erwiderte ich. Bei höherer Belastung durch Passagiere und bei einem Defekt der Spritleitung steigt der Verbrauch sprunghaft an.“

In Düsseldorf angekommen, nach nur 45 KM Strecke und 50 Minuten Fahrt fuhr ich gezwungener Weise noch 25 KM kreuz und quer durch die Stadt, wobei ich zuerst einen Teil der Stadt per Autobahn umkreiste, um mit der erforderlichen hohen Geschwindigkeit die fehlenden 20 Minuten nicht zu überschreiten.
„Also umständlicher als Du kann man keinen Parkplatz finden“, meinte Esther.

Da die 70 KM mitten in Düsseldorf 2 KM vor dem K1 endeten, gingen wir die restliche Strecke zu Fuß. Die Eintrittsgebühr ins K1 betrug 24 €, die ich auf 70 aufrundete. „Du – wir sind ohne Kinder hier. Und wenn Du ein Trinkgeld hättest geben wollen, wären 3 € ausreichend gewesen. Oder bist Du unter die Geldverschwender geraten?“ „Geben ist seliger als Nehmen“ erwiderte ich nur.
Der Kassierer hätte mir am liebsten Kaffee und Kuchen auf einem Silbertablett serviert, wenn er gekonnt hätte.

„Wir fangen in der obersten Etage an“ sagte ich mit ernster Stimme, die keine Widerrede duldete. Die Treppen hatte leider nur 65 Stufen. Daher musste ich zwei Stufen runter und zwei Stufen raufgehen – und nach der 70. Stufe hüpfte ich die verbleibende Stufe mit beiden Beinen gleichzeitig hoch.

Während Esther die ausgestellten 5 miesen Kunstwerke in Ruhe betrachtete, ging ich 14 mal an den „Kunstwerken“ vorbei. „Der Vergleich dieser bedeutenden Kunstwerke erschließt sich nur im Vorbeigehen“, meinte ich zu Esther.

Danach suchte ich mir einen bequemen Stuhl, um erstmal 70 Minuten lang auszuruhen. „Also so lange will ich hier nicht sitzen“, sagte Esther und begab sich in das nächste Stockwerk. Nach einer Stunde kam sie zurück und fragte ärgerlich, ob ich eingeschlafen sei. „Aber nein, liebe Esther. Aber ich muss doch die Eindrücke der ersten 5 Kunstwerke mal durchdenken. Darin liegt doch das Können der Kunstverständigen.“ Eine Aufseherin, die in nächster Nähe stand, meinte zu Esther: „Gut dass Sie gekommen sind. Ich wollte ihn auch schon wecken.“

Esther hatte genug vom K1 und wollte irgendwo zu Mittag essen. Also ging es wieder die Treppe mit den 65 Stufen nach unten, wobei sich das Spiel wie beim Aufstieg wiederholte – nur in umgekehrter Richtung.

„Kennst Du Dich hier aus und weißt, wo es ein schönes Restaurant gibt?“ Also ging ich los und nach 70 Schritten machte ich eine Pause. Esther weigerte sich, eine Pause von 70 Minuten einzulegen und sagte: „Dann geh ich eben alleine weiter und gebe Dir auf WhatsApp Bescheid, wo ich ein Restaurant gefunden habe. Du kannst ja nachkommen. Und das nächste Mal solltest Du ausgeschlafen sein, wenn Du mit mir etwas unternehmen willst. Deine langen Pausen sind ätzend.“ „Ach, ich genieße doch nur die Sonne, die gerade hier und jetzt so schön scheint. So einen wunderbaren Moment sollte man ausgiebig genießen.“ „Wenn Du unbedingt braun werden willst, zieh Dich aus. Nein, das war ein Scherz…Mach das bloß nicht.“

Eine WhatsApp später und 250 Schritte weiter fand ich sie in einem guten koreanischen Restaurant. Bevor ich das Restaurant betrat, ging ich nochmal 15 Schritte vorbei und zurück, damit ich genau bei 280 das Restaurant betreten konnte. Dem sehr jungen Gast, der mir entgegen kam, drückte ich 4 € in die Hand, da 4x70 genau 280 ergab. So ausgeklügelt war ich heute gut drauf. Wenn man einem Geheimnis auf die Spur kommen will, ist eben Verstand gefragt. Der Junge, evt. 5 Jahre alt, rannte zu seinen Eltern und zeigte mit Freude vor, was ihm der nette Onkel geschenkt hatte.

Esther war schon mitten im Hauptgang und schaute leicht säuerlich. Zur Bestellung des Essens muss man das Symbol auf dem Tischende fotografieren. Das Foto ploppt auf und zeigt die Speisekarte. So modern sind Asiaten. Das Symbol fotografierte ich 70 mal. „Wenn Du das noch einmal fotografierst, schreie ich“ flüsterte Esther.
Auf dem Handy und der darauf ersichtlichen Speisekarte tippte ich Vorspeise und Hauptmenü und Nachtisch an. Die Bestellung wurde sofort „ab in den Warenkorb“ drahtlos zur Küche übertragen. Nach 10 Minuten kam eine Bedienung und fragte höflich, ob ich wirklich 15 mal die Vorsuppe essen möchte. Und danach käme ja noch 20 mal der Hauptgang und 35 mal die Nachspeise. Während ich über eine gute Begründung nachdachte, meinte Esther zur Bedienung: „Ach, entschuldigen Sie, aber mein Freund hat zum ersten Mal ein Handy bedient und ist sich unsicher, ob jeder Knopfdruck auch funktioniert.“ Damit war ich nicht gerettet. „Nein, so ist es nicht. Servieren Sie mir bitte eine Vorsuppe, einen Hauptgang und eine Nachspeise. Den Rest packen Sie mir bitte ein, für Zuhause.“ „Aha, und wie viele Monate willst Du das essen?“ „Ach Esther, damit bin ich doch schon nach 67 Tagen – spätestens nach 70 Tagen durch.“ „Hält das Zeug denn solange seine Konsistenz? Demenz scheidet definitiv aus. Aber Du solltest wirklich mal zum Psychiater gehen.“

Wir fuhren gesättigt nach Hause. Dabei baute ich aufgrund der geringen Distanz von 45 KM eine Rundfahrt in Neuss ein. „Neuss ist langweilig, im Übrigen kenne ich diese Stadt“ moserte Esther, während ich zum 3. Mal am Rathaus vorbeifuhr.“

So ungefähr ging der interessante Tag vorbei.  Am kommenden Freitag ging ich auf ein Bier „bei Heike“, wo ich Bodo leider nicht antraf. „Er befindet sich im Krankenhaus“, meinte Heike, die eigentlich Susanne heißt. Also dackelte ich am Sonntag zum Krankenhaus. Für alle Fälle hatte ich 70 Masken mitgenommen.

Ich fand Bodo in der psychiatrischen Abteilung. Nach echt freundschaftlicher Begrüßung erzählte ich ihm von meinem Tag der 70 und ich stellte ihm meine zwei wichtigsten Fragen:

1) Was passiert, wenn man die Regel bricht und doch jemandem verrät, warum man tut was man tut?  Bodo meinte: „Dann hält Dich jeder, Deine restliche Lebenszeit lang, für einen verrückten Kerl, egal wie normal Du Dich verhalten magst. Aber Du bekommst schon mal ein Bier ausgegeben.“

2) Und was soll jetzt das Geheimnis der Zahl 70 sein? Bodo antwortete: „Nur mathematische Genies und Idioten richten ihr Leben nach Zahlen aus. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass Genies damit Geld verdienen.“ „Na, das hättest Du mir auch vorher sagen können.“  „Ja, aber Du hättest mir nicht geglaubt, wenn ich Dir gesagt hätte, dass Deine Genialität etwas von Idiotie hat. Die meisten Menschen glauben der Wahrheit nur dann, wenn sie sie selbst erleben. Viele Menschen wollen alles bewiesen haben und ähneln damit dem Idioten, der an das Geheimnis der Zahl 70 glaubt.

„Und warum bist Du hier in der Psychiatrie, Bodo?“
„Hier bin ich unter Menschen, die wissen, dass sie krank sind und Hilfe brauchen. Menschen mit Einsicht tun mir gut. Draußen glauben die meisten Menschen an die Existenz ihrer geistigen Gesundheit, was in etwa dem Glauben an das Geheimnis der Zahl 70 gleichkommt.“

Kommentare

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Herbstprince 15.10.2022 23:57
@bluehorse
Köstlich die Geschichte.
Hast Du diese Odyssee ausgekostet, um zu testen, ob Du ein mathematisches Genie bist, das ständig alles berechnet, wobei ich noch vermisst habe, dass Du stetig mit 70 km/h  durch Düsseldorf und Neuss gebraust wärest.    
Oder wolltest Du uns einfach nur zeigen, dass man der Wahrheit auch dann glauben kann, wenn man sie nicht komplett selbst erlebt hat. 

Oder noch schlimmer, dass wir an unsere geistige Gesundheit glauben, obwohl wir weit davon entfernt sind. 

Aber bluehorse, warum hast Du verraten, dass Du es getan hast ? Doch nicht etwa, dass man Dir ein Bier ausgibt ?  ( siehe Punkt 1)
 
Bluehorse 16.10.2022 08:18
Bei dieser Geschichte hatte ich zu Beginn nicht die Absicht, eine bestimmte Aussage zu treffen. Erst beim eigenen Lesen, mit zeitlichem Abstand, sehe ich in der Geschichte mehr als nur eine lustige, fantasievolle Begebenheit.
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