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Sola scriptura

Sola scriptura
In der Kirche (Gemeinde Jesu) war es und sollte es eigentlich selbstverständlich sein und bleiben , dass alles, was sie lehrt, aus biblischen Quellen zu schöpfen und am Maßstab der Bibel auch zu prüfen ist. Denn was mit dieser Norm nicht übereinstimmt, ist weder zu predigen noch zu glauben. Und es kann gegen die Norm des göttlichen Worts auch kein Mensch Recht haben, ob er nun Bischof sei, Professor oder Pfarrer. Denn wir entnehmen dem Neuen Testament das, was Jesus Christus seinen Jüngern offenbart hat. Es ist die Niederschrift dessen, was sie mit ihm erlebten und von ihm lernten. Und wer anders lehren wollte, beanspruchte damit, es besser zu wissen als Gottes eigener Sohn. Er würde sich anmaßen, bezüglich Gottes mehr Einsicht zu haben und besser informiert zu sein als Jesus Christus. Und so einer, der dann sicher kein gehorsamer Schüler des Neuen Testaments ist, taugt nicht als Lehrer der Kirche. Denn die verdankt sich nicht irgendeiner menschlichen Weisheit oder Selbstermächtigung, sondern verdankt sich allein dem göttlichen Wort. Und nur soweit sie bei diesem Wort bleibt, verdient sie überhaupt „Kirche“ genannt zu werden. Denn niemand kennt den Vater als nur der, dem es der Sohn offenbart (Mt 11,27). Niemand kommt anders zu Gott als durch Christus (Joh 14,6). Und niemand kennt Christus anders als durch das Neue Testament. So ist Gottes Sohn zwar nicht mehr unter uns in Fleisch und Blut. Er ist aber gegenwärtig in seinem Wort. Und die Kirche bleibt ihrem Herrn genau in dem Maße treu, wie sie seinem Wort treu bleibt. Andere Quellen Gott betreffend hat und braucht sie nicht. Und so ist ihr die Bibel auch nicht eine Autorität unter vielen, so dass Gottes Wort noch mit anderen Instanzen konkurrieren müsste. Sondern Gottes Wort ist die allein verbindliche Autorität der Kirche, die alles enthält, was der Glaube wissen muss. Und wollten sämtliche Bischöfe, Pfarrer und Kirchenvorsteher vereint dagegen stimmen, hätten sie doch niemals Recht gegen die Hl. Schrift. Denn die wurde nicht in einem Ausschuss entworfen und dann durch einen Mehrheitsbeschluss des Kirchenvolkes in Geltung gesetzt. Sondern Gottes Wort ist der Kirche von Anfang an vorgegeben durch den, der es gesprochen und die Kirche durch eben dieses Wort überhaupt erst geschaffen hat. Kirche ist die Gemeinschaft der von Christus in die Nachfolge Berufenen. Wo dieser Ruf nicht ergangen wäre, könnte ihm auch niemand folgen. Und darum geht das berufende Wort Jesu der Gemeinschaft der Berufenen immer voraus. Kirche wird nicht anders als durch Gottes Wort geschaffen – es ist der Boden, aus dem diese Pflanze wächst. Und durch Rückkehr zu ihrem Ursprung, durch Besinnung auf das Wort, kann sich Kirche auch jederzeit erneuern. Weil die Reformatoren das aber nicht nur verstanden, sondern auch ganz wunderbar erfahren haben, gilt seither in der evangelischen Kirche das „Schriftprinzip“, das die Geistlichen verpflichtet, nicht mehr und nicht weniger zu predigen als geschrieben steht. „Allein die Schrift“ hat die Norm ihrer Verkündigung zu sein – und also nicht ihre menschliche Vernunft und nicht ihr subjektives Gefühl, nicht der Geist der Zeit und nicht der Applaus der Hörer, nicht die Mehrheitsmeinung und nicht die Tradition, nicht die Überzeugung der Kirchenleitung oder brillanter Theologen. Das aber immer wieder zu sagen, schafft methodische Klarheit und dient der Transparenz. Denn Kirche legt damit offen, woher sie ihre Weisheit bezieht. Sie will von Gott nichts lehren, als nur das, was er selbst durch sein Wort hat wissen lassen – in trüberen Quellen fischen wir nicht! Und damit ist dann auch jedem Christen die Möglichkeit gegeben, mit dem Neuen Testament in der Hand zu prüfen, ob die Kirche ihrem Anspruch gerecht wird und schriftgemäß lehrt. Wir halten den „Quellcode“ unserer Verkündigung gerade nicht geheim, sondern legen ihn offen! Das ist großartig, weil es der Willkür der Theologen enge Grenzen setzt. Und es hat sich als kritischer Maßstab schon oft bewährt. Denn ohne von Klerikern bevormundet zu werden, kann sich heute jeder Christ am Neuen Testament selbst orientieren. Er kennt die Norm, der seine Kirche untersteht. Er kann sie dran erinnern. Und wenn diese „Qualitätskontrolle“ praktiziert wird, werden Prediger gehindert, vom Thema abzukommen. Das Wort der Schrift ist dann nicht nur das berufende Wort, das immer neue Generationen zur Kirche hinzufügt. Sondern das Wort ist dann zugleich das orientierende Mittel, durch das der Heilige Geist Gottes Volk in der Spur hält. Freilich, die Urgemeinde vor 2000 Jahren wusste noch nicht, wie wichtig das geschriebene Wort einmal werden würde. Damals ahnte man nicht, welch langer Weg der Christenheit bevorstand. Und so hat sich auch niemand verabredet, um ein Neues Testament zu schaffen. Sondern das entstand erst nach und nach auf wenig planmäßige Weise. Denn Jesu erste Jünger hatten keine literarischen Ambitionen. Sie schrieben schon deshalb nichts auf, weil sie jedem selbst von ihren Erlebnissen erzählen konnten. Und erst als die Apostel älter wurden, so dass einer nach dem anderen starb, musste an die Stelle ihrer persönliche Autorität etwas anderes treten. So las man dann ersatzweise die Briefe, die Paulus, Petrus und Johannes an die Gemeinden geschrieben hatten. Man sammelte die Sprüche und Gleichnisse Jesu und las sie im Gottesdienst vor. Markus schrieb einen ersten Lebensbericht Jesu. Und weil Matthäus Erinnerungen kannte, die bei Markus fehlten, schuf er eine ergänzte und erweiterte Fassung des Evangeliums. Lukas wiederum komplettierte das Vorhandene durch die Apostelgeschichte, die ihren Bericht dort fortsetzt, wo die Evangelien enden. Mit der Zeit kam noch allerhand hinzu. Und die zwischen Rom und Jerusalem verstreuten Gemeinden tauschten fleißig untereinander die Schriften, die ihren Glauben förderten. Zwar liefen auch andere Texte um, von denen manche tendenziös und von Irrlehren beeinflusst waren. Weil man die guten Sachen aber eifrig abschrieb und kopierte, während man die schlechteren mied, setzten sich mit der Zeit bestimmte Schriften durch, die bald in allen Christengemeinden geschätzt und als echt apostolisch anerkannt wurden. Das war kein planmäßiger Prozess. Aber der Heilige Geist war doch im Spiel. Und als immer wieder Spaltungen drohten, weil selbsternannte Propheten von der gesunden Lehre abwichen und die Gemeinden verwirrten, bedurfte es einer verbindlichen Ordnung. Die junge Kirche musste nach innen wie nach außen Auskunft darüber geben, was ihre Grundlagen sind. Und da die Apostel nicht mehr lebten, ging ihre Autorität nach und nach auf die Schriften über, die anerkanntermaßen im Geiste Jesu verfasst waren. Um 200 n. Chr. war der Grundbestand des Neuen Testaments schon nicht mehr strittig. Und auf Konzilien im 4. Jahrhundert benannte man endgültig die Schriften mit normativer Geltung, die seither „kanonisch“ heißen. Doch hat die Kirche damit nicht etwa selbst die Grundlagen ihrer Lehre „geschaffen“, sondern sie hat bloß die Evangelien und Briefe aufgezählt, die aufgrund ihres Inhalts bereits höchstes Ansehen genossen. Bevor irgendwelche Bischöfe sie „amtlich“ anerkannten, hatten diese Schriften ihre Autorität schon selbst unter Beweis gestellt. Sie setzten sich einfach durch, weil der Heilige Geist sich ihrer bediente. Zweifelhaftes und Tendenziöses blieb außen vor. Die Kirche aber gewann im Neuen Testament eine feste Basis, auf die sie sich später in allen strittigen Fragen beziehen konnte. Jesu Apostel waren zwar gestorben. Aber die apostolische Lehre war deshalb nicht verschwunden. Sondern sie lag nun schriftlich vor. Und konnte man auch Petrus, Paulus und Johannes nicht mehr persönlich um Rat fragen, besaß man doch im Neuen Testament den originalen Ausdruck ihrer Lehre. Das war sicher nicht ohne die Mitwirkung des Heiligen Geistes geschehen. Denn schließlich hatte Jesus vor der Himmelfahrt versprochen, seine Gemeinde nicht orientierungslos zurücklassen. Er hatte zugesagt, bei ihr gegenwärtig zu sein durch sein Wort und seinen Geist. Und mit dem Neuen Testament schuf er dafür ein herrlich geeignetes Werkzeug. Ja, das Wort Gottes wurde nicht bloß Fleisch, es wurde von den Aposteln nicht bloß mündlich gepredigt, sondern ging sogar in die Literatur ein! Konnte also nichts mehr schief gehen in den folgenden 2000 Jahren der Kirchengeschichte? Doch. Natürlich ist unglaublich vieles ganz schrecklich schief gegangen, dessen sich die Christenheit bis heute schämt. Es lag aber nicht daran, dass man kein Neues Testament gehabt hätte, sondern daran, dass man ihm nicht folgte – dass man vieles, was drin stand, nicht lehrte, und dafür wiederum anderes lehrte, was nicht drin stand. Denn so kam die katholische Kirche des Mittelalters weit vom Kurs ab und begrub das Evangelium unter einem Berg menschlicher Satzungen, Lehren und Traditionen. Man quälte die Gläubigen mit angeblich verdienstlichen Werken und Pflichten, ließ sie pilgern, fasten und zwangsweise beichten. Man monopolisierte Gottes Gnade in der Hand des Papstes, häufte Reichtümer an und führte verderbliche Kriege im Namen Gottes. Man verbot den Priestern die Ehe, vergötterte die arme Maria, verkündete absurde Dogmen, betete Reliquien und Bilder an und huldigte vielfachem Aberglauben. Zugleich beschwerte man aber die Gewissen, indem man dem Kirchenvolk das Evangelium von der freien Gnade Gottes vorenthielt – und mit der geschürten Angst einträgliche Geschäfte machte. Nichts von alledem hatte Jesu gewollt! Aber man ehrte damals die päpstliche Lehrautorität mehr als das Neue Testament, dem man den Willen Jesu hätte entnehmen können. Und dieser Spuk endete erst, als Luther „sola scriptura“ rief. Erst als er das wahre Evangelium wieder ans Licht zog, fiel das katholische Kartenhaus in sich zusammen. Doch geschah das natürlich nicht, weil der unbedeutende Mönch Luther irgendeine persönliche Autorität besessen hätte, sondern weil die Autorität des Neuen Testaments neue Geltung erlangte. Gottes eigenes Wort war das Mittel, das Gottes Kirche reinigte! Der Katholizismus stolperte nicht über Luther, sondern über das Neue Testament! Und seither hat uns das evangelische Schriftprinzip vor tausend alten und neuen Irrtümern geschützt. Ja, wie oft auch die Theologen auf Abwege gerieten, ließ sich der Schaden doch immer wieder beheben, wenn die Kirche zum Neuen Testament zurückkehrte. Natürlich sind trotzdem Schwärmer aufgetreten und haben voller Enthusiasmus behauptet, sie hätten von Gott neue Offenbarungen empfangen. Selbsternannte „Propheten“ schrieben krude Bücher, und angeblich „neue Apostel“ verwirrten die Christenheit. Doch das Schriftprinzip schützte jede Gemeinde, die beim Neuen Testament und damit auf dem Teppich blieb. Apostel der aufgeklärten Vernunft ergriffen das Wort und reklamierten für den ach so vernünftigen Menschengeist ebenso große Autorität wie für den Heiligen Geist. Die Gemeinden sollten nur noch glauben, was den Aufklärern „fortschrittlich“ und „rational“ erschien – und den Rest ihres Christentums über Bord werfen. Doch wo man das Schriftprinzip beherzigte, fand man von solch einem Kult der Vernunft nichts im Neuen Testament und entging der rationalistischen Mode. Bald erzählten Nationalisten allerhand große Dinge von einer Offenbarung Gottes im deutschen Wesen und in der Person des Führers, dem als Werkzeug der göttlichen Vorsehung bedingungslos zu folgen sei. Aber das Schriftprinzip half allen, die sich dran gebunden wussten, weil sie im Evangelium nur von einem Herrn und von einem Hirten lasen, der keineswegs Hitler, sondern Christus hieß. Heute haben wir wieder neue Trends. Man hört nun, der Mensch solle nur kräftig an sich selbst glauben und – seiner inneren Stimme folgend – seine ganz eigene Wahrheit finden. Er dürfe auch alles tun, was sich für ihn „richtig“ anfühlt, weil er als autonomes Subjekt schließlich selbst die „höchste Instanz“ und das Maß der Dinge sei. Doch dieser Kult des egozentrischen Subjekts, diese relativistische Ersatz-Religion ist ebenso großer Mist wie all das andere. Und wer beim Schriftprinzip bleibt, verfügt über das nötige Gegengift auch gegen diesen modernen Schwindel. Ja, das Feld der Irrlehren ist weit. Und einige sind in der Kirche schon mehrheitsfähig geworden. Doch gegen sie alle ist jenes Kraut gewachsen, das sich „sola scriptura“ nennt. Und wenn man davon konsequent Gebrauch machte, ließe sich der Kurs jederzeit korrigieren. Denn anders als der Zeitgeist, bleibt der Herr der Kirche immer derselbe. Nur dass eben, wer seinem Wort nicht folgen mag, nicht für kirchliche Ämter taugt: Wenn uns jemand auffordert, etwas weniger zu glauben, als im Evangelium steht, hat er sich verraten. Und wenn er behauptet, man müsse noch etwas darüber hinaus glauben, ist er auch schon entlarvt. Doch wollen wir nicht von anderen reden, sondern lieber von uns selbst. Denn ein Christ ist gut beraten, das Schriftprinzip auch auf sich selbst anzuwenden – und auf seine eigenen Glaubensgedanken. Oder wäre da immer ganz klar, von wem oder was wir uns bestimmen lassen und welcher Autorität wir trauen? Als gebildeter Mensch benutzt man z.B. gern seine Vernunft und schätzt sie nicht gering – natürlich will sie niemand missen! Doch weiß die menschliche Vernunft gerade von Gott herzlich wenig. Und jede Gewissheit, die man auf Vernunft gründet, kann dieselbe Vernunft auch wieder zerlegen! Darum sollte sich der Mensch nicht allzu schlau vorkommen, sondern dem Wort Gottes im Zweifel mehr vertrauen als dem eigenen Verstand. Auch Gefühle sind schön – und natürlich wäre Glaube ohne Gefühl eine blasse Angelegenheit! Doch glaubt ein Christ besser nicht an seine frommen Gefühle und vertraut besser auch nicht auf seine religiösen Stimmungen. Denn die können sich schneller ändern als das Wetter, während Gottes Wort sich ewig gleich bleibt. Gern vertraut der Mensch auch dem Augenschein – und bestimmt ist uns eine lebendige Erfahrung lieber als die „graue Theorie“. Der Augenschein kann aber gerade in Glaubensdingen sehr trügen, weil etwa Gottes Liebe sehr oft gegen allen Augenschein geglaubt werden muss. Und wie anders sollte man das machen, wenn nicht unter beharrlichem Rückgriff auf das biblische Wort? Zurecht geben wir auch viel auf christliche Vordenker, Glaubenszeugen, Kirchenführer und theologische Gelehrte, die uns weise erscheinen. Doch auch bei denen ist mancher Heiligenschein nur äußerlich vergoldet. Und wie die Kirchengeschichte zeigt, haben oft gerade die klügsten Köpfe und die charismatischsten Leitfiguren das größte Unheil angerichtet. Sollte man ihrem Urteil also die eigene Seele anvertrauen? Das wäre kein guter Rat. Vielmehr lasse man sie alle gerne reden. Man lasse die Vernunft reden und das eigene Herz, man höre, was die Tradition sagt und was der allerneueste Trend ist. Man frage auch andere Christen um Rat und spüre seinen Gefühlen nach. Am Ende aber rufe man „sola scriptura“ und prüfe das Ganze an Gottes Wort. Denn wer könnte wohl in Glaubensdingen Bescheid wissen, wenn nicht Gott selbst, um den es da geht? Und wenn er in der Bibel bereitwillig über sich selbst Auskunft gibt – soll man sich dann anderswo Informationen aus zweiter Hand besorgen? Gott wollte nicht abwarten, ob wir von selbst schlau werden. Sondern um allen Missverständnissen vorzubeugen, offenbarte er sich in seinem Sohn. Christus allein ist autorisiert, verbindlich zu sagen, wie Gott zu uns steht. Und von ihm haben wir nun mal nicht anders Kenntnis als durch das Neue Testament. So muss niemand raten, was Gott ihm wohl zu sagen hat. Jeder kann es auf wenigen Seiten nachlesen, kann seinen Glauben „sola scriptura“ allein durch die Schrift gewinnen – und dabei aus der allerreinsten Quelle schöpfen. Aber geschieht das auch? Nein, ich fürchte ich komme da zu keinem positiven Schluss. Denn die meisten Laien basteln sich heute eine Religion zurecht, ohne ins Neue Testament auch nur hineinzuschauen. Und selbst die Pfarrer sind mit biblischen Argumenten nicht mehr zu beeindrucken. Man hat scheinbar andere Sorgen, als bei Gottes Wort zu bleiben. Und so wird das kostbare Schriftprinzip, das ich hier beschrieben habe, mehr behauptet als beherzigt. Es ist heute mehr Theorie als Praxis, mehr Anspruch als Wirklichkeit. Es wird belächelt und zerredet. Und das erklärt die geistliche Krise, in der wir stecken. Aber davon will niemand etwas hören. Die es am meisten angeht, wollen am wenigsten davon wissen. Und so erfüllt sich an ihnen – ohne dass sie es begreifen – was Luther sagte: „Das ist der größte Zorn Gottes, wenn er das Wort wegnimmt und zulässt, dass die Menschen es verachten.“...https://www.evangelischer-glaube.de/die-heilige-schrift

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Sulzbacher 19.09.2022 12:48
🤔Jeder kann es auf wenigen Seiten nachlesen, kann seinen Glauben „sola scriptura“ allein durch die Schrift gewinnen – und dabei aus der allerreinsten Quelle schöpfen. Aber geschieht das auch? Nein, ich fürchte ich komme da zu keinem positiven Schluss. Denn die meisten Laien basteln sich heute eine Religion zurecht, ohne ins Neue Testament auch nur hineinzuschauen. Und selbst die Pfarrer sind mit biblischen Argumenten nicht mehr zu beeindrucken. Man hat scheinbar andere Sorgen, als bei Gottes Wort zu bleiben. Und so wird das kostbare Schriftprinzip, das ich hier beschrieben habe, mehr behauptet als beherzigt. Es ist heute mehr Theorie als Praxis, mehr Anspruch als Wirklichkeit. Es wird belächelt und zerredet. Und das erklärt die geistliche Krise, in der wir stecken. Aber davon will niemand etwas hören. Die es am meisten angeht, wollen am wenigsten davon wissen. Und so erfüllt sich an ihnen – ohne dass sie es begreifen – was Luther sagte: „Das ist der größte Zorn Gottes, wenn er das Wort wegnimmt und zulässt, dass die Menschen es verachten.“.🤔
 
Sulzbacher 19.09.2022 12:50
Viele Jahrhunderte lang war eine Bibel eine Kostbarkeit, und sie zu besitzen, war ein Privileg für wenige. Wer eine Bibel in die Hand bekam, musste Latein können, um darin zu lesen. Und zeitweise war das gewöhnlichen Christen sogar verboten. Risiken und Mühen musste man auf sich nehmen, um Gottes Wort kennen zu lernen. Und doch war es vielen den Aufwand wert. Heute hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Man bekommt eine Bibel für 10,- Euro auf dem Wühltisch beim Discounter und zum Nulltarif im Internet. Gottes Wort wird einem beinahe nachgeworfen! Jeder kann es sich leisten. Jeder ist des Lesens mächtig. Und jeder hätte Zeit, wenn er sich fürs Bibellesen die Zeit nehmen wollte. Doch seltsam: Nun, da es so leicht ist, hat das Bibellesen keine Konjunktur, und die Kenntnis dessen, was wirklich drinsteht, wird immer geringer. Was mag der Grund sein? Ist es nur Übersättigung, Desinteresse und Gleichgültigkeit? Ich denke es liegt auch an der verbreiteten Meinung, das Lesen in der Bibel erfordere spezielle Kenntnisse, und ihre Auslegung sei eine Wissenschaft für sich. Der Laie sieht, dass die Theologen über vieles nicht einig werden. Die machen großes Gewese um ihre Kunst der Interpretation und ihre historischen Kenntnisse. Und also muss es doch schwierig sein! Wenn die Gelehrten aber auch noch versichern, man dürfe das Bibelwort nicht einfach nehmen wie’s dasteht – das sei naiv, unkritisch und falsch – dann will man sich als „Laie“ nicht blamieren und lässt die Finger davon. Doch richtig ist das nicht! Man darf den Theologen nicht blind vertrauen! Ein Christ soll selbst Zugang haben zu den Grundlagen seines Glaubens! Und dieser Zugang muss keineswegs wissenschaftlicher Art sein. Denn das ist nur eine der Weisen, wie man sich der Bibel nähern kann. Und es ist nicht die für den Glauben entscheidende. 

Doch welchen Weisen des Bibel-Lesens gibt‘s überhaupt – und wodurch unterscheiden sie sich? Sie werden das sofort verstehen, wenn wir dem Vorschlag Sören Kierkegaards folgen und die Bibel mit einem Spiegel vergleichen. Denn wenn man vor dem Spiegel steht, hat man ja immer zwei Möglichkeiten diesen Spiegel zu betrachten. Ich kann mir entweder den Spiegel als solchen ansehen, nämlich Glas und Rahmen, Bauart und Aufhängung, den Schliff und die Form, Verschmutzungen, Kratzer und Sprünge. Oder ich kann mich vor den Spiegel stellen und nicht ihn als Gegenstand, sondern mich selbst im Spiegel ansehen. Ob nämlich meine Haare richtig liegen, ob ich Ringe unter den Augen habe, ob das Hemd zur Jacke passt, und die Krawatte zum Rest. Sehen wir einen anderen Menschen vor dem Spiegel stehen, können wir nicht wissen, ob er sich gerade für den Spiegel interessiert und folglich den Spiegel betrachtet, oder ob er (diesen Gegenstand vergessend) mit dem eigenen Zustand beschäftigt ist und im Spiegel sich selbst betrachtet. Es sind aber jedem jederzeit diese beiden Möglichkeiten gegeben, weil wir entweder auf den nützlichen Gegenstand starren, der da an der Wand hängt, oder unser eigenes Bild prüfen, das im Spiegel erscheint. Es kommt nur darauf an, wohin man seine Aufmerksamkeit lenkt! Und genau so ist es auch, wenn man in der Bibel liest! Denn entweder untersucht man die Bibel selbst als Buch – dann ordnet man sie nach Sprache, Form und Gliederung in die antike Literatur ein und weiß hinterher etwas über ihre Entstehungsgeschichte. Oder man bemüht sich, im Spiegel der Bibel zu erkennen, wie man selbst als Mensch vor Gott dasteht – und dann erfährt man weniger über die Bibel als Buch, erfährt mit ihrer Hilfe aber ganz viel über Gottes Beziehung zu mir, und meine Beziehung zu ihm. Wie beim Spiegel sind auch bei der Bibel beide Weisen der Betrachtung möglich und erlaubt. Aber sie unterscheiden sich doch sehr. Denn einmal steht der Spiegel selbst im Fokus der Aufmerksamkeit. Und einmal das, was ich mit seiner Hilfe erfahre. Einmal schaut man auf den Einrichtungsgegenstand, der zum Inventar der Wohnung gehört. Und das andere Mal konzentriert man sich auf das eigene Spiegelbild und den eigenen Zustand. Mal studiert man die Bibel, um etwas über ihre Geschichte und ihre Autoren zu erfahren. Und mal studiert man die Bibel, um sich selbst und Gott zu verstehen. Der erste Zugang ist wissenschaftlich, weil die historischen Zusammenhänge unabhängig von mir als Betrachter einfach gegeben sind. Der zweite Zugang aber ist notwendig persönlicher Art, weil es um den Betrachter selbst und seine Gottesbeziehung geht.

So verschieden die Herangehensweisen auch sind, schließen sie sich doch nicht aus. Man kann beides nacheinander oder abwechselnd tun. Dass aber die wissenschaftlich-historische Betrachtung der Bibel die allein richtige oder maßgebliche sei, möchte ich ausdrücklich bestreiten. Denn für unseren Glauben ist diejenige Bibellektüre entscheidend, die uns auf persönliche Weise die Augen öffnet über Gott und uns selbst. Und nur weil sie uns diesen unschätzbaren Dienst leistet, ehren wir die Schrift so sehr! Oder wird ein Spiegel etwa aufgehängt, damit die Bewohner des Hauses sich stundenlang mit seiner Form beschäftigen, die halbrund, rund, oval oder eckig ist? Wird ein Spiegel nicht angeschafft, damit die Bewohner des Hauses Gelegenheit haben, darin ihr Spiegelbild zu betrachten? So ist uns auch die Bibel nicht in die Hand gegeben, damit wir über ihre Entstehungsgeschichte grübeln, die Qualität des Papieres begutachten, die verwendete Tinte analysieren und die Buchstaben zählen, sondern damit sie ihre Funktion erfüllt! Gott gab uns die Heilige Schrift, damit wir aus ihr Lebenswichtiges über ihn und uns selbst erfahren! Darum brauchen wir die Bibel nicht vorrangig als Forschungsgegenstand, an dem wir unsere Gelehrsamkeit erproben, sondern als praktische Anleitung, um mit Gott ins Reine zu kommen! Wir lesen dieses Buch nicht wegen der Menschen, die daran geschrieben haben, sondern weil Gottes Geist sich noch heute ihrer Worte bedient, um uns in Menschenworten Gottes Herz aufzuschließen! Und das kann schwerlich geschehen, wenn wir uns auf distanzierte Weise mit der Rückseite des Spiegels, seinem Gewicht und seinem Alter beschäftigen, statt vorn hineinzuschauen.

Universitäre Theologie geht diesen unpersönlichen Weg. Sie blendet das Subjekt aus, um möglichst objektiv zu sein. Sie fragt nicht, was Gott uns heute durch das Evangelium sagen will, sondern nur, was der Evangelist Markus damals seinen Zeitgenossen sagen wollte. Als Absender der Botschaft kommt nicht Gott in Betracht, sondern allein der biblische Autor, der den Text verfasst hat. Die Adressaten, die angeredet werden, sind nicht wir heutigen Leser, sondern die Menschen, an die der Evangelist damals dachte. Und weil der biblische Schriftverkehr samt Absendern und Adressaten einer fernen Vergangenheit angehört, verbleiben auch alle Einsichten, die man gewinnt, in historischem Abstand. Solche Wissenschaft schaut nur auf den Spiegel, sie schaut nicht hinein. Und wie gesagt, ist das nicht falsch. Nur, wenn man dabei stehen bleibt, wird es keinen Glauben wecken und niemanden erbauen. In der historisch-kritischen Betrachtung der Bibel kommt Gott als Redender ebensowenig vor, wie der heutige Leser als Hörender. Doch der Glaube der Kirche lebt davon, dass sich Christen ganz aktuell durch Gottes Wort anreden lassen. Die Christenheit pflegt und hütet diesen Spiegel nicht, weil er einen schönen antiken Rahmen hat, sondern weil man vorne reinschauen und dabei sich selbst erkennen kann! Ohne diesen Spiegel verstünden wir weder Gott noch uns selbst! Und die rechte Weise Bibel zu lesen ist darum nicht, das Buch wie ein Museumsstück von ehrwürdigem Alter zu bestaunen, sondern seine Botschaft so persönlich zu nehmen, wie sie gemeint ist! 

Kierkegaard spricht das deutlich aus und sagt: Willst du mit Gewinn die Bibel lesen, so ist (1.) erforderlich, dass du nicht den Spiegel ansiehst, sondern dich selbst im Spiegel siehst. Und (2.) ist erforderlich, dass du beim Lesen in einem fort dir selber sagst „Ich bin es, zu dem hier geredet wird, ich bin es, von dem hier geredet wird.“ Wenn man liest, wie ein Prophet den König David seiner Schuld überführt, soll man denken: „Da wird von mir geredet, denn so ein krummer Hund wie der König David bin ich ja auch!“ Wenn man liest, wie ein Mensch auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fiel, halb tot da lag, und ein Priester ging vorüber ohne zu helfen, soll man denken: “Da wird schon wieder von mir geredet, denn genau so ungerührt bin auch ich am Leiden manches Mitmenschen vorübergegangen!“ Wenn vom Samariter erzählt wird, der barmherzig war und den Verletzen versorgte, und Jesus schließt das Gleichnis mit dem Satz „Gehe hin und tue desgleichen“ soll man sagen: „Das ist zu mir geredet, ich bin gemeint und soll dieser Aufforderung folgen.“ Liest man, dass Nikodemus zu feige war, um Jesus bei Tage zu besuchen, und darum unerkannt in der Nacht zu ihm kam, soll man sagen: „Ja, darin erkenne ich mich wieder, denn so ängstlich bin ich auch, dass ich mich nicht offen genug zu meinem Glauben bekenne.“ Wenn man dann aber liest, dass sich Jesus der Mühseligen und Beladenen erbarmen will, soll man wiederum den Mut haben, sich gemeint zu wissen und innerlich „ja“ zu rufen, weil wir uns in den Beladenen wiedererkennen und die Verheißung Jesu auf uns beziehen dürfen. Ja die biblische Geschichte handelt nicht von irgendwelchen anderen Leuten, die längst tot sind, sondern von uns. Wie ein gut polierter Spiegel sagt uns die Bibel die Wahrheit über uns selbst und eröffnet uns, wie wir vor Gott dastehen. Wenn wir es aber vermeiden, in diesen Spiegel hinein zu blicken, und uns stattdessen bloß für seinen Herstellungsprozess interessieren, für die Rückseite und die Kratzer im Glas – liegt der Verdacht dann nicht nahe, dass wir uns um die Hauptsache drücken? Könnte es sein, dass wir Gottes Wort einfach nicht hören wollen, und darum so tun, als habe Gott missverständlich geredet? Kierkegaard nimmt genau das an und kleidet seinen Verdacht in folgende Geschichte: 

Stellen sie sich ein Land vor, dessen König ein Gebot erlässt und den Wortlaut seines Gebotes im ganzen Reich bekannt macht. Alle Beamten und Untertanen und die ganzen Bevölkerung kann es in öffentlichen Aushängen lesen. Doch was geschieht? Die Wirkung ist nicht die erwartete! Denn mit den Menschen geht eine seltsame Veränderung vor. Alle verwandeln sich in Ausleger, Gutachter und Kommentatoren! Die Beamten werden zu Schriftstellern und fangen an, des Königs Gebot scharfsinnig zu interpretieren. Alle Tage kommt eine neue Auslegung heraus – die eine gelehrter, geschmackvoller, tiefsinniger und geistreicher als die andere! Man kann kaum noch die Übersicht bewahren, weil zur Deutung des Gebotes so viel Kluges geschrieben wird. Und weil der Streit über die rechte Interpretation gar kein Ende findet, kommt vorläufig keiner dazu, das Gebot umzusetzen. Man liest es unentwegt, analysiert und diskutiert, aber keiner liest es so, dass er danach täte! Vielmehr: Nachdem alles zur Auslegung geworden ist, setzt sich die Überzeugung durch, der König habe sein Gebot überhaupt zu dem Zweck erlassen, dass es ausgelegt würde, und je raffinierter man das Gebot deuten und kommentieren könne, desto näher sei man auch seinem königlichen Willen… 

Was wird aber der König darüber denken? Wird er nicht merken, dass seine Untertanen ihn auf diese Weise zum Besten halten und sich bloß davor drücken, sein Gebot zu befolgen? Wird er sich durch die Auslegungskunst seiner Beamten nicht verschaukelt fühlen? Der König wird wohl denken: Wenn sie zu schwach wären meinem Gebote nachzukommen, das könnte ich evtl. verzeihen. Wenn sie zugäben, dass es ihnen zu schwer ist, könnte ich‘s erleichtern. Wenn sie um Aufschub bäten, könnte ich Aufschub gewähren! Aber dass sie mein Wort gar nicht ernst nehmen und so tun, als käme es mir auf ihre Auslegungskunst und nicht auf ihren Gehorsam an, dass sie mich damit zum Besten halten, das will ich nicht verzeihen… 

Das kleine Gleichnis spricht für sich. Man wundert sich vielleicht über die Bürger jenes Landes. Aber die Art, wie Menschen sich heute mit der Bibel beschäftigen, ist gar nicht weit davon entfernt! Da ist ein Gesetz des großen Königs, das man deutlich genug verstehen kann! Weil man aber nicht gehorchen möchte, verlegt man sich ganz auf das Auslegen der Bibel, betrachtet sie historisch, literarisch, linguistisch, soziologisch und sonstwie von allen Seiten! Das sieht unheimlich klug und engagiert aus, als hätte man großen Eifer, den Geheimnissen des Buches auf den Grund zu kommen! Man verkündet auch, all das Forschen würde uns dem Wort Gottes ganz nahe bringen! Die Wahrheit aber ist, dass wir auf diese listigste Weise Gottes Wort ganz weit von uns entfernen, um uns bloß nicht gemeint zu wissen. Es ist ein Versteckspiel mit Gott, bei dem man so tut, als habe man sein Wort leider noch nicht ausreichend verstanden, um ihm folgen zu können! Bis zum Abschluss der Untersuchungen bleibt alles in der Schwebe – und dieser Abschluss kommt natürlich nie! 

Doch wie ein irdischer König, wird auch Gott das nicht lustig finden und wird sich auf die Dauer nicht täuschen lassen. Wenn wir zu schwach wären, um seinem Gebot nachzukommen, könnte er das verzeihen. Wenn seine Weisung zu schwer wäre, könnte er sie erleichtern. Und wenn wir um Aufschub bäten, würde er mit sich reden lassen. Aber dass man ihn zum Besten hält, das will er nicht verzeihen. Denn Gott hat sich in der Bibel deutlich genug ausgedrückt, hat weder gelallt noch gestottert, sondern klar geredet. Er will nicht, dass wir den Spiegel von hinten betrachten, sondern dass wir vorne hineinsehen. Darum, wenn ihre Bibel irgendwo ganz oben im Regal auf einem Ehrenplatz steht, wo der Staub sich sammelt, dann holen sie sie bitte dort herunter und legen sie dorthin, wo sie ihnen täglich ins Auge fällt und sie täglich danach greifen können – damit Gottes Wort kein toter Besitz sei, sondern uns täglich den Dienst leiste, den wir so bitter nötig haben.
 
Sulzbacher 19.09.2022 13:31
Altes und Neues Testament

Es ist bekannt, dass unsere Bibel aus zwei Teilen besteht, die wir das „Alte“ und das „Neue Testament“ nennen. Und wer sich damit beschäftigt, stellt bald fest, dass die beiden Teile notwendig zusammengehören. Denn das Alte Testament mit all seinen Verheißungen fände kein schlüssiges und plausibles Ende, wenn nicht im Neuen Testament die Erfüllung folgte. Und das Neue Testament könnten wir nicht mal richtig verstehen, wenn wir es von seiner Vorgeschichte im Alten Testament lösten. Beide Teile brauchen einander und bilden nur zusammen ein Ganzes. Beide Teile der Bibel sind Wort Gottes – und ich will betonen: desselben Gottes. Denn immer wieder begegnet man der Ansicht, der Gott des Alten Testamentes sei ganz „anders“ als der des Neuen Testamentes, und das Alte ginge uns „zum Glück“ nichts mehr an. Man tut so, als sei das Alte Testament ein Missverständnis, und das Neue seine Korrektur. Aber kann das stimmen? Diese Leute sagen, der Schöpfergott des Alten Testaments sei streng und gewalttätig, rachsüchtig, parteiisch und grausam, der Gott Jesu Christi hingegen sei liebevoll, barmherzig, gnädig und geduldig mit allen! Das Alte Testament, sagen sie, sei gesetzlich, engherzig und zum Fürchten, das Neue dagegen enthalte die gute Nachricht, dass Gott tolerant sei, alle Menschen gleichermaßen liebe und allen alles vergebe. Angeblich ist da ein Unterschied wie Tag und Nacht! Doch wenn das so stimmte – wie könnte die Christenheit dann an beiden Teilen der Bibel festhalten, und wie sollte sie den Widerspruch zwischen ihnen auflösen? Wollen wir etwa annehmen, Gott sei im Alten Testament missverstanden worden und zeige erst im Neuen Testament sein wahres Gesicht? Sollte der zornige Gott des Alten Testaments eine Wandlung durchgemacht haben, so dass er mit zunehmendem Alter sanfter, toleranter und milder wurde? Oder, wenn da wirklich Gegensätzliches von Gott gesagt würde, müsste dann nicht das eine wahr, und das andere gelogen sein? Als Bibelleser käme man da in große Schwierigkeiten! Und man müsste sich sehr wundern, dass das Neue Testament am Alten so gar keine Kritik übt, sondern das Alte Testament im Neuen immer wieder zustimmend zitiert wird. Auch für Jesus selbst sind die Schriften des Alten Testamentes die maßgebliche Autorität, auf die er sich immer wieder beruft. Wenn er das aber tut – ist es dann wahrscheinlich, dass er einen „anderen“ Gott verkünden wollte, als den des Alten Testaments? Das wollte er ganz und gar nicht! Und um diesem Irrtum vorzubeugen sagt er ausdrücklich: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.“ (Mt 5,17-18) Jesus selbst bekennt sich damit zum Alten Testament! Und trotzdem trifft man immer wieder Menschen, die eine alttestamentliche „Gesetzesreligion“ der „Gnadenreligion“ Jesu gegenüberstellen wollen und sich unter Berufung auf das Neue Testament vom Alten distanzieren. Man kann dem nicht anders begegnen, als dass man in die Bibel selbst hineinschaut und prüft, ob es die großen Unterschiede gibt, von denen da immer die Rede ist. Und ich bin sicher, dass man dabei erst einmal ganz viele Übereinstimmungen findet, und durchaus denselben Gott mit denselben Eigenheiten in seinem Wesens und Tun: Beide Testamente sehen die Welt als Gottes Schöpfung, und beide setzen voraus, dass der Mensch in dieser Schöpfung eine hervorgehobene Rolle hat, weil allein er dazu berufen ist, Gottes Ebenbild zu sein. Beide Testamente wissen, dass der Mensch im Sündenfall seine Aufgabe und seine Bestimmung zum Guten verfehlt hat. Und beide Testamente bezeugen, dass dem Menschen als Sünder Gericht und Verwerfung drohen. Denn wer sich von Gott als der Quelle des Lebens abwendet, zieht sich damit den Tod zu. Und wer sich von Gott als dem Inbegriff des Guten entfernt, der verdient ein böses Ende. Beide Testamente wissen das, bezeugen aber zugleich, dass Gott am Richten keine Freude hat, sondern seinen missratenen Kindern viel lieber nachgeht, um sie zur Umkehr zu bewegen. So wie Gott im Alten Testament bei Abraham ansetzt, bei Isaak und Jakob, aus deren Nachfahren das Volk Israel erwächst, so setzt er im Neue Testament bei Jesus Christus an, aus dessen Jüngern und Nachfolgern das neue Gottesvolk der Kirche entsteht. Hier wie dort erwählt Gott Menschen zur Gemeinschaft mit ihm und überführt sie aus einer unstimmigen und verhängnisvollen Gottesbeziehung in eine stimmige und heilvolle. Doch weder im Alten noch im Neuen Testament umfasst diese Heilsgemeinde die gesamte Menschheit. Hier wie dort gibt es Spötter, Ungläubige und Heiden, die draußen bleiben, die nicht erreicht werden und im Widerspruch gegen Gott verharren. Die Heilsgüter aber (Land und Leben, Schutz und Führung, Segen, Vergebung, ewiges Leben und Seligkeit) verheißt Gott nicht denen, die draußen bleiben, sondern natürlich nur den Seinen, die mit ihm im Bunde stehen. In beiden Testamenten beruht die heilvolle Gemeinschaft mit Gott auf Gottes freier Gnade – nicht etwa auf irgendwelchen Vorzügen der dazu erwählten Menschen! Und das muss im Blick auf das Alte Testament dick unterstrichen und betont werden. Denn auch Israel hat seine Erwählung nicht durch irgendetwas „verdient“, sondern hat sie ganz „unverdient“ als gnädiges Geschenk empfangen. Grundlegend war dafür Gottes Verheißung an Abraham, bei der vom Gesetz noch gar keine Rede war. Und grundlegend war die Herausführung aus Ägypten, bei der das Gesetz ebenfalls keine Rolle spielte. Lange bevor am Sinai die Gebote verkündet wurden, ließ Gott schon über den Seinen Gnade walten, und diese Gnade wurde nie anders empfangen als allein durch den Glauben. Dass Gott mit Israel einen Bund schloss, war also ein reines Gnadengeschenk, wie auch der neue Bund in Christus reine Gnade ist! Und erst im zweiten Schritt spielt menschliches Tun eine Rolle, weil die Gemeinschaft mit Gott nicht durch falsche Lebensführung gestört und gefährdet werden soll. Die Gebote vom Sinai verdeutlichen das nicht anders als Jesu Weisungen in der Bergpredigt: Wer es geschenkt bekommt, dass er Gott nahe sein darf, der kann Gottes gutem Willen nicht länger fern sein oder ihm widerstreben! Wer unter Gottes Schutz steht, wird schon aus Dankbarkeit Gottes Gebot achten! Aber dieser Gehorsam ist weder im Alten noch im Neuen Testament eine Voraussetzung des Bundes, sondern ist in beiden Testamenten eine Folge des Bundes. So drängen zwar beide Testamente auf die Heiligung des Gottesvolkes durch gottgefälliges Leben. Aber beide Testamente drängen noch viel mehr auf den Glauben, nämlich auf die vertrauensvolle Hingabe des Herzens, durch die wir im Denken und Fühlen dem Gott entsprechen, der sich an uns als so vertrauenswürdig, mächtig und gütig erweist. Beide Testamente kennen Sakramente, die dem Einzelnen die Zugehörigkeit zum Gottesvolk verbürgen. Im Alten Testament sind das die Beschneidung und das Passahmahl. Und im Neuen Testament sind es die Taufe und das Abendmahl. Und beide Testamente wissen, dass die Gläubigen, wenn sie immer wieder der Macht der Sünde erliegen, nur durch Opfer wieder mit Gott versöhnt und von ihrer Schuld gereinigt werden können. Im Alten Testament sind das die regelmäßigen Sühnopfer, die im Tempel dargebracht werden, und im Neuen Testament ist es das einmalige Selbstopfer Jesu Christi auf Golgatha. In beiden Testamenten ist völlig klar, dass die Zugehörigkeit zum Gottesvolk über Heil und Unheil des Einzelnen entscheidet, und dass es jenseits des von Gott gewiesenen Weges keine Rettung gibt. Wer nicht mit Gott seinen Frieden macht, bleibt unter dem Fluch, der mit Adams Sünde begann, und wird über kurz oder lang untergehen. Das gilt für beide Testamente – nicht etwa nur für das Alte! Wer in Gottes Bund hineingerettet wird, findet Erlösung. Wer ihm aber dauerhaft widerstehen will, wird keine Zukunft haben. Wer Gottes Gnade annimmt, wird seines Segens teilhaftig. Und wer sie ablehnt, spricht sich selbst das Urteil. Derselbe Gott, der den Seinen so überaus gnädig ist, bleibt für die Anderen ein verzehrendes Feuer. Und ich betone, dass hier zwischen Altem und Neuem Testament gar kein Unterschied besteht – und dass kein Teil der Bibel darin auch nur von Ferne einen Widerspruch sieht! Denn auch im Neuen Testament gilt, dass Gott seinen Feinden zwar weit entgegenkommt und freundlich auf sie zugeht, um ihnen die Umkehr zu ermöglichen, dass er aber jene, die das Angebot der Versöhnung ausschlagen, weil sie Feinde bleiben wollen, an-schließend auch wie Feinde behandelt. Das ist in beiden Testamenten so! Die Bibel hat kein Problem damit! Und ich kann darum nicht finden, dass der Gott des Alten Testaments anders wäre als der des Neuen. Gott war schon im Alten Testament barmherzig und zur Vergebung bereit – und zugleich hat er im Neuen Testament nicht aufgehört, den Bösen Böses anzudrohen. Wie im Alten Testament, so gibt es auch im Neuen einen von Gott gewährten Bund und ein Volk, das auf der Grundlage dieses Bundes lebt. Und genau wie im Alten Testament gilt, dass wer dazugehört, gerettet wird, und wer nicht dazu gehört, verloren geht. Dass ein Bund zustande kommt, ist im Alten Testament wie im Neuen eine Gnade Gottes. Die Treue zum Bund schließt in beiden Testamenten den Glauben und das Bekennen ein, den Gottesdienst und das Gebet. In beiden Testamenten gibt es Sakramente, die die Zugehörigkeit zum Gottesvolk verbürgen. Und in beiden das Streben nach gottgefälligen Werken. Wo aber liegen dann echte Differenzen? Nach so vielen Übereinstimmungen müssen wir natürlich auch nach den Unterschieden fragen. Denn es hätte keines Neuen Testamentes bedurft, wenn es dem Alten gegenüber gar nichts „Neues“ brächte. Das Kommen Jesu Christi wäre überflüssig, wenn sich durch ihn nichts änderte. Und darum müssen wir nun auch den Unterschied der Testamente benennen, der darin liegt, dass das Kommen Jesu die Zugangsbedingungen zur Gemein-schaft mit Gott radikal verändert, und diese Gemeinschaft auch für jene öffnet, die bis dahin ausgeschlossen blieben. Im Alten Testament ist das Volk Gottes ja zunächst eine ethnische Größe, und die Erwählung beschränkt sich auf die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs, so dass das Gottesvolk mit dem jüdischen Volk praktisch identisch ist. Der Neue Bund hingegen, der in Christus geschlossen wird, greift über alle Völker und Nationen hinaus, so dass die Herkunft des Menschen keine Rolle mehr spielt, und auch Griechen, Römer, Asiaten, Germanen, Slawen und Afrikaner Zugang haben. Was bei Abraham mit einer einzigen Familie begann, erreicht in Christus universale Bedeutung! Was aber noch wichtiger ist: Jesus Christus ändert die Zugangsbedingungen zur Gemeinschaft mit Gott auch insofern, als er sie für alle öffnet, die wegen ihres moralischen und religiösen Versagens nicht vor Gott bestehen können. Christus holt auch die ins Boot, die schuldig und gescheitert sind. Die keine Gerechtigkeit haben, lässt er teilhaben an seiner eigenen Gerechtigkeit. Und für die, die Strafe verdienen, hält er seinen Kopf hin. Zöllner, Prostituierte und Schwerverbrecher, die Gott gegenüber alles Recht verwirkt haben, lässt Christus auf seinen Fahrschein ins Reich Gottes reisen. Er bezahlt am Kreuz den Preis ihrer Rettung. Und das ist insofern wirklich neu, als Gottes Barmherzigkeit im Alten Testament jedenfalls solche Formen noch nicht angenommen hatte. So wie das Judentum das Alte Testament las, konnte man meinen, der Zugang zum Bund und zur Gemeinschaft mit Gott sei nur über das Gesetz und einen entsprechenden Gehorsam möglich. Manch ein Stolzer dachte, seine Abstammung und die Einhaltung der vielen Gebote garantiere ihm den Bund mit Gott. Mancher meinte, es käme allein auf die Beschneidung an, auf die Beachtung der Speisegebote und der Sabbatruhe. Und demgegenüber bedeutet das Neue Testament wirklich einen radikalen Schnitt, weil der neue Bund sich in gar keiner Weise auf menschliches Tun gründet, sondern ausschließlich auf Gottes Tun in Christus. Als Christus starb und auferstand durchkreuzte Gott damit alles, was Menschen an eigener Gerechtigkeit aufzubringen versuchen. Und er ließ wissen, dass ihm künftig nur noch „recht“ ist, wer sich seine Gerechtigkeit von Christus leiht und statt auf eigene, auf Christi Verdienste setzt. Der Neue Bund in Christus ist damit weit, weit geöffnet für jeden noch so krummen Hund. Er ist für jene gemacht, die Gott nichts zu bieten haben und mit leeren Händen vor ihm stehen. Denn im Neuen Bund zählt keine Abstammung mehr, und keine Beschneidung, es kommt nicht auf Speisegebote an, nicht auf verdienstvolle Werke oder fromme Übungen, sondern nur noch auf den Glauben, der sich entschlossen an Christus hängt, sich bei ihm birgt, hinter ihm in Deckung geht, alles eigene Rühmen preisgibt und sich allein auf Christus verlässt, weil der ihn verteidigen und für ihn geradestehen will. Eine andere Zugangsbedingung, als diese Hingabe an Christus, gibt es im Neuen Bund nicht. Entscheidend ist darum nicht mehr die Zugehörigkeit zu Israel, sondern die Zugehörigkeit zu Christus. Und diese Zugehörigkeit manifestiert sich nicht in Beschneidung und Passahmahl, sondern in Taufe und Abendmahl. Das sühnende Opfer des Neuen Bundes ist nicht das endlos wiederholte Tieropfer im Tempel, sondern das einmalige Opfer Christi auf Golgatha. Zugang zum Heil haben nicht die Heiligen, sondern gerade die Unheiligen, die Liebe nicht verdienen, sondern sie nur schrecklich nötig haben. Und Zugang hat nicht nur das alte Gottesvolk, sondern die gesamte Welt der Heidenvölker. Der Segen Abrahams erreicht damit alle Geschlechter auf Erden. Und gerettet wird der Einzelne nicht, weil er selbst gerecht und treu wäre, sondern allein aufgrund der Gerechtigkeit und Treue, die Christus stellvertretend für ihn bewiesen hat. Das ist in dieser Radikalität neu! Das Neue Testament rechnet nicht damit, dass irgendein Mensch vor Gott bestehen könnte. Und Erlösung findet einer darum nicht, weil er sich am Gesetz bewährte, sondern weil er sich schuldig bekennt, zu Christus flieht und Gott bittet, statt auf sein mensch-liches Versagen nur noch auf Christi Gehorsam zu schauen. Dem Menschen des Neuen Testamentes ist Gottes Gesetz zum Verhängnis geworden, weil es zwar an sich richtig und gut ist, weil der Sünder es aber nicht erfüllen kann. Und der Mensch des Neuen Testamentes wirft sich darum um so entschlossener auf die Gnade Gottes, damit sie allein ihn trage. Das aber ist kein Gegensatz zum Alten Testament, sondern im Grunde eine Schlussfolgerung und eine logische Konsequenz der dort erzählten Geschichte. Denn was berichtet uns das Alte Testament denn anderes, als dass Gottes Volk, obwohl es erwählt, geführt und beschenkt wurde, die Gabe des gelobten Landes nicht bewahren konnte? Das Alte Testament bezeugt selbst, dass der Verlust des Landes durch das babylonische Exil nicht etwa auf eine Schwäche oder Untreue Gottes zurückzuführen ist, sondern auf den Abfall des Gottesvolkes vom Glauben. Israel klagt sich selbst an, das kostbare Gut verspielt zu haben, und hofft in den späten Schriften des Alten Testamentes um so entschlossener auf Gottes Tun in seinem Messias und auf den damit verbundenen Neubeginn. Als Kinder Adams und Evas versagen wir Menschen so vollständig, dass Gott nicht nur das Meiste tun muss, sondern alles. Und der neue Bund in Christus ist die Konsequenz, die Gott daraus zieht, indem er für seine Geschöpfe einspringt, selbst Mensch wird und in Christus für uns leistet, was wir nicht schaffen. Der Allmächtige stellt damit das Verhältnis von Gott und Mensch auf eine neue Grundlage. Aber ist er deswegen ein „anderer“ Gott? Nein! Im Übergang vom Alten zum Neuen Bund ändert sich viel für uns Menschen, aber es ändert sich nichts an Gott – außer vielleicht, dass die Wesensmerkmale Gottes, die wir aus dem Alten Testament kennen, im Neuen noch stärker hervortreten und noch deutlicher zu erkennen sind. Gottes Barmherzigkeit, die man aus dem Alten Testament kennt, nimmt im Neuen ungeahnte Formen an – das gebe ich gerne zu! Aber dasselbe gilt auch von Gottes strengem Zorn, denn wer im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes liest, findet dort ein Gericht beschrieben, das jedes alttestamentliche Blutvergießen in den Schatten stellt. Wenn sich das aber für alle Wesenszüge Gottes so zeigen ließe, dass sie sich im Neuen Testament gar nicht wandeln, sondern nur noch stärker hervortreten – wer dürfte dann das eine Testament gegen das andere ausspielen, so als würde im Neuen irgendetwas wiederrufen, was im Alten stand? Nichts davon ist zu finden! Denn der Vater Jesu Christi ist immer-noch der Gott Abrahams. Er hat immernoch ein auserwähltes Volk, dem seine Verheißungen gelten. Und er hat immernoch Feinde, denen seine Drohungen gelten. Nur das ist nun anders: Dass niemand deswegen verzweifeln muss. Denn unabhängig von unserer Herkunft und unserer vielleicht peinlichen Vergangenheit, ungeachtet aller Schwäche und Verkehrtheit sind wir eingeladen, unser Leben, unseren Stolz und unsere Schuld Christus vor die Füße zu legen und glaubend in den neuen Bund einzutreten. Die Güte Gottes, die wir schon aus dem Alten Testament kannten, nimmt damit wirklich ungeahnte Formen an. Aber das heißt nicht, dass Gott seine Strenge abgelegt hätte sondern – umgekehrt! – lässt es erwarten, dass von seiner Strenge dasselbe gilt. Denn Gott bleibt sich in jeder Hinsicht treu. Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht unwandelbar und ewig immer derselbe bliebe! Und die Vorstellung, er habe irgendwo zwischen Altem und Neuem Testament seine Ansichten geändert, ist schon deshalb ein Ungedanke, weil alles was reift und fortschreitet, vorher unreif und defizitär gewesen sein muss – der ewige Gott aber in seiner Vollkommenheit keine Defizite kennt. Er ist allezeit derselbe dreieinige Gott gewesen! Und was sich zwischen Altem und Neuem Testament verändert, ist darum nicht Gott, sondern allein das Maß unserer menschlichen Kenntnis von Gott. Durch seine Offenbarung in Jesus Christus ist Gott kein anderer geworden, aber wir sind ihm sehr viel näher gekommen und dürfen seither viel mehr und noch Größeres sagen, als es den Gläubigen im Alten Bund möglich war. So hat uns der Neue Bund tiefere Ein-blicke gewährt, und der Zugang zur Gemeinschaft mit Gott wurde ungemein erleichtert. Aber die verbreitete These, der Gott des Neuen Testamentes sei ganz „anders“ als der des Alten, wird davon nicht richtiger. Und wenn Ihnen das mal wieder jemand erzählt, dann gehen sie getrost davon aus, dass er weder das Alte noch das Neue Testament richtig kennt…  
 
Sulzbacher 19.09.2022 14:06
Das Gesetz stellt fest und macht bekannt, dass der Mensch in seinem Denken, Reden und Tun dem guten Willen Gottes zu entsprechen hat, dass er diesen Gehorsam seinem Schöpfer schuldig ist und mit Strafe rechnen muss, wenn er die berechtigte Erwartung nicht erfüllt. Mit anderen Worten: Das Gesetz ist „die von Gott gegebene Lehre, welche vorschreibt, wie wir beschaffen sein, was wir tun und unterlassen sollen, und einen vollkommenen Gehorsam gegen Gott verlangt, und verkündigt, dass Gott denen, welche den vollkommenen Gehorsam nicht leisten, zürne und sie mit dem ewigen Tode bestrafe.“ (L. Hutter).
 
Sulzbacher 19.09.2022 14:06
Das Evangelium hingegen lädt jeden Sünder ein, vor dem verdienten Gericht zu Jesus Christus zu fliehen, der mit offenen Armen bereit steht, um ihm seine Schuld abzunehmen und ihm im Austausch dafür Gerechtigkeit zuzusprechen, wenn er sich nur im Glauben solche Gnade gefallen lässt. Das Evangelium ist also „eine solche Lehre, die da lehret, was der Mensch glauben soll, der das Gesetz nicht gehalten und durch dasselbige verdammt, nämlich, dass Christus alle Sünde gebüßt und bezahlet, und ihm ohne allen seinen Verdienst erlanget und erworben habe Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit, die für Gott gilt, und das ewige Leben.“ (Ph. Melanchthon).
 
Sulzbacher 19.09.2022 14:09
Offenkundig sind Gesetz und Evangelium sehr verschiedene Botschaften. Die eine ist bestürzend schlecht, die andere überaus gut. Doch gerade dadurch sind sie sinnvoll aufeinander bezogen. Denn man kann das Gesetz nicht hören, ohne sofort nach einer Lösung zu fragen, die aus solcher Not hilft. Und man kann das Evangelium nicht hören, ohne sofort nach der Not zu fragen, aus der das Evangelium rettet. C. F. W. Walther sagt sehr treffend: „Ohne das Gesetz verstehen wir das Evangelium nicht und ohne das Evangelium hilft uns das Gesetz nichts.“ Das scheint völlig klar zu sein. Und doch halten sich hartnäckige Missverständnisse, von denen ich zwei benennen will.



ALTES UND NEUES TESTAMENT?

Zunächst einmal ist es falsch, das Gesetz mit dem Alten Testament und das Evangelium mit dem Neuen Testament gleichzusetzen. Denn in beiden Teilen der Bibel tritt uns ganz derselbe Gott gegenüber, der in beiden Teilen sowohl streng als auch barmherzig verfährt. Da gibt es nicht einerseits die „Gesetzesreligion“ des Alten Testamentes und andererseits die „Gnadenreligion“ des Neuen Testamentes, sondern in beiden Testamenten gilt beides mit gleichem Ernst. Der alte Bund zeugt schon ausführlich von Gottes großer Liebe und Gnade. Und der neue Bund wird nicht geschlossen, um Gottes Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen. Gesetz und Evangelium gehören also nicht verschiedenen „Epochen“ an, von denen eine die andere „ablöst“, sondern wie Gott selbst unwandelbar und ewig ist, ist es auch sein strenger Wille im Gesetz und sein barmherziger Wille im Evangelium. Das Kommen Jesus Christi ersetzt nicht etwa das eine durch das andere, sondern offenbart beides in bis dahin ungeahnter Klarheit!



„FRÜHER“ UND „JETZT“?

Entsprechendes ist aber auch von der Biographie des einzelnen Menschen zu sagen. Denn Gesetz und Evangelium lassen sich nicht auf zwei Lebensphasen verteilen, von denen der Christ die erste schon hinter sich hätte. Wer diesem Irrtum anhängt meint, er sei zwar als Sünder unter dem Gesetz geboren, sei aber nun als Christ von aller Sünde und allem Gesetz frei geworden, so dass ihn heute nur noch das Evangelium anginge – und das Gesetz gar nicht mehr. Dieser Irrtum liegt nahe, da sich zwischen der vorgläubigen und der gläubigen Existenz ein großer Wandel vollzieht. Doch muss man genau hinsehen, worin der besteht. Das Evangelium befreit den Gläubigen vom Fluch des Gesetzes, es hebt aber die Geltung desselben keineswegs auf. Die Sünde kann den nicht mehr verdammen, der in Christus ist, er hört deswegen aber nicht auf Sünder zu sein. Vielmehr ist ein Christ ein „Gerechter“ und ein „Sünder“ zugleich. Er ist das erste im Blick auf die „fremde“ Gerechtigkeit Christi, die ihm von Gott zugesprochen und zugerechnet wird. Er ist aber das zweite in Blick auf seine „eigene“, alltäglich gelebte Gerechtigkeit, die zeitlebens ein Fragment bleibt. Durch seinen Glauben ist der Christ eine neue Kreatur. Doch bis ins Grab trägt er noch Reste des „alten Adams“ mit sich herum. Und deshalb muss er den Weg der Buße nicht bloß einmal im Leben gehen, sondern immer wieder. Der Christ ist durch seinen Glauben erlöst, erläge aber einer gefährlichen Illusion, wenn er sich deswegen schon für „vollendet“ hielte und meinte, er habe die Sünde und den Konflikt mit Gottes Gesetz restlos hinter sich gelassen! Gesetz und Evangelium sind darum weder (heilsgeschichtlich) auf Altes und Neues Testament zu verteilen noch (biografisch) auf „einst“ und „jetzt“. Sie lösen einander nicht ab, wie eine Epoche die andere. Wodurch unterscheiden sie sich aber dann?



DIE FORM DER KUNDGABE

Der erste gravierende Unterschied besteht in der Form der Mitteilung. Denn da alle Menschen ein Gewissen haben, ist ihnen eine Kenntnis des Gesetzes „ins Herz geschrieben“ (Röm 2,14-15). Und wenn sie die Schöpfung mit offenen Augen betrachten, zeugt auch die vom Schöpfer und seinen guten Ordnungen (Röm 1,18-21). Selbst wenn einer von den Zehn Geboten nie gehört hätte, könnte ihm die Vernunft erschließen, dass er nicht töten, lügen und stehlen soll, weil das die menschliche Gemeinschaft zerstört, auf die er angewiesen ist. Und so ist es nicht verwunderlich, dass – ganz unabhängig von biblischer Offenbarung – alle Kulturen Gut und Böse unterscheiden, darin etwas von Gottes Gesetz „ahnen“ und auch den Zusammenhang von Schuld und Strafe kennen.

Das Evangelium ist demgegenüber völlig anderer Art, weil es menschlicher Vernunft unerschwinglich bleibt und weder aus der Natur noch aus der Geschichte abgeleitet werden kann. Niemand würde davon wissen, wenn das Evangelium nicht in Christi Leben, Sterben und Auferstehen offenbart und durch seine Jünger weitergesagt worden wäre. Denn dass Gott in Menschengestalt selbst den Kopf hinhält, um sich den Fluch aufzuladen, der auf seinen Geschöpfen liegt – wer hätte dergleichen erdenken können, wer wäre auf diese Idee gekommen oder hätte sie aus Vernunftgründen erschlossen? Bis heute ist das Wort vom Kreuz den Weisen der Welt eine Torheit. Es bleibt allezeit „unglaublich“! Denn für die Notwendigkeit des Gesetzes fallen uns viele plausible Gründe ein, während das Evangelium in nichts weiter gründet als in dem grundlosen Erbarmen Gottes!



DER FOKUS DER KUNDGABE

Gesetz und Evangelium sind auch darin verschieden, dass sie die Aufmerksamkeit des Hörers auf ganz verschiedene Gegenstände lenken. Das Gesetz schärft ein, wie der Mensch sein, was er denken, sagen und tun soll. Es leitet den Hörer damit zur kritischen Selbstbetrachtung an und behaftet ihn bei seinem So-Sein. Das Evangelium dagegen lenkt den Blick ganz auf Jesus Christus und sein Tun für uns. Es durchbricht damit das sorgenvolle Kreisen um uns selbst, öffnet die Gedanken und zieht alle Aufmerksamkeit zu Christus hin. Das Gesetz erwartet vom Menschen jene „eigene“, selbst vollbrachte Gerechtigkeit, die er seinem Schöpfer notorisch schuldig bleibt. Das Evangelium hingegen schenkt ihm die „fremde“ Gerechtigkeit, die ganz von außen kommt, weil sie eigentlich Christi Gerechtigkeit ist. Das Gesetz fördert eine entweder stolze oder betrübte Selbstbeobachtung – es behaftet den Menschen bei dem, was sich in seinem Denken und Tun manifestiert. Das Evangelium hingegen reißt den Menschen von sich selbst weg und gründet ihn „extern“ in Jesus Christus auf ein neues und viel besseres Fundament. Das Gesetz ist Forderung und Anklage, das Evangelium aber Einladung und Verheißung. Das Gesetz verlangt tausend Dinge, das Evangelium hingegen verlangt gar nichts als nur die leeren Hände, die sich von Gott beschenken lassen. Dem Gesetz wird man durch angestrengte Aktivität gerecht, dem Evangelium aber gerade durch die Passivität, die Christus in alldem gewähren lässt, was er für uns und an uns tun will. Während das Gesetz auf-deckt, welchen Gehorsam der Mensch schuldig bleibt, verweist das Evangelium auf den stellvertretenden Gehorsam, den Christus übt. Hier zählt mein eigenes Tun – dort aber allein Gottes Tun für mich…



DIE WIRKUNG DER KUNDGABE

Natürlich ergeben sich aus der unterschiedlichen Fokussierung auch gegensätzliche Wirkungen. Das Gesetz ist zwar nicht von vornherein tödlich – als guter Wille Gottes verheißt es „guten“ Menschen durchaus den Lohn der Seligkeit. Doch klingt das in den Ohren des Sünders wie Spott und Hohn, weil der nun mal kein „guter Menschen“ ist, und sich selbst auch nicht dazu machen kann. Das Gesetz würde ihn nicht bedrohen, wenn er es „tun“ und ihm dadurch genügen könnte. Da er’s aber nicht kann, lässt ihm das Gesetz keinen Ausweg und gibt ihm auch keinerlei Kraft, sondern wird ihm als Rechtsgrundlage seiner Anklage und Verurteilung zum Verhängnis und zum Stolperstein. Für Sünder hat das Gesetz keine Verheißung, außer dass sie bekommen, was sie verdienen. Und mit diesem Wissen kann man nicht leben, sondern daran kann man nur zugrunde gehen. Denn je klarer das Gesetz einen Sünder überführt, desto mehr wird er das Gesetz hassen. Und je mehr er den guten Willen Gottes hasst, umso schuldiger wird er. Das Gesetz schafft ihm genau darüber völlige Klarheit! Einen Ausweg zeigt es aber nicht. Und so könnten die Wirkungen von Gesetz und Evangelium kaum gegensätzlicher sein.

Denn das Evangelium durchbricht die (vom Menschen her) unauflösliche Misere, es führt den Sünder zu Christus, nimmt den Fluch von ihm, zieht seinen Hals aus der Schlinge und verlangt dafür rein gar nichts als nur, dass er sich diese Wohltat gefallen lässt. Das Evangelium fordert nichts, als dass der Schuldige seine Schuld einsieht und seine Begnadigung annimmt – und selbst der Heilige Geist, der diese Bereitschaft im Menschen wirkt, ist ein Geschenk! Selbst der Glaube, der das Evangelium glaubt, ist kein Werk des Menschen, sondern Gottes Werk im Menschen! Der Sünder steuert also zu seiner geistlichen Erweckung ebensowenig bei wie ein Toter zu seiner Auferstehung! Gottes unwiderstehliche Gnade tut dabei alles, der Sünder gar nichts. Wird ihm das aber bewusst – wie sollte er darüber nicht jubeln? Das Evangelium macht aus verzagten Sündern fröhliche Kandidaten des Himmelreiches, schenkt ihnen christliche Freiheit und unverwüstliche Zuversicht. Denn jene Last, die sie selbst weder tragen noch abwerfen konnten, hat Christus ihnen ein für allemal von den Schultern genommen. So hat das Gesetz die Aufgabe, die Unbußfertigen mit Gottes Zorn und Ungnade zu schrecken, indem es auf die Werke dringt. Das Evangelium hingegen will den betrübten Gewissen Vergebung der Sünden schenken und gebietet ihnen dazu nichts als nur, die dargebotene Gnade anzunehmen. Das Gesetz richtet nur Zorn an (Röm 4,15), das Evangelium hingegen ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben (Röm 1,16).



DIE ADRESSATEN DER KUNDGABE

Wer aber ist gemeint? Wen betrifft es? Grundsätzlich ist Gottes Wort als Drohbotschaft und Frohbotschaft allen Menschen zu predigen, weil es keinen gibt, den das eine oder das andere nichts anginge. Alle Menschen stehen unter der Forderung des Gesetzes und allen wird durch das Evangelium das Heil angeboten. Aber nicht allen Menschen sind beide Botschaften gleichermaßen bewusst. Und dadurch wird die Aufgabe der Verkündigung kompliziert. Denn manch einer kennt nur das strenge Gesetz, quält sich dementsprechend mit Selbstvorwürfen und ist aus Angst vor dem Gericht am Boden zerstört. Ein anderer aber kennt nur das Evangelium von jenem Gott, der so gerne vergibt – und weil er sonst nichts weiß, wiegt es ihn in falscher Sicherheit, so dass er seinen falschen Weg sorglos immer weiter geht. Dem ersten würde es gar nichts helfen, wenn man ihm noch mehr Gesetz vorhielte, denn das kennt er ja zur Genüge und ist längst daran verzweifelt. Dem zweiten aber würde man mit noch mehr Evangelium eher schaden als nützen, weil er sich sowieso schon „o.k.“ findet und meint, keiner Gnade zu bedürfen. Ein guter Seelsorger sagt darum nicht allen das Gleiche, sondern jedem das, was er in seiner aktuellen Lage nötig hat, um im Glauben voranzukommen.

Wer des Gesetzes wegen am Boden liegt und verzweifelt ist, muss umgehend durch das Evangelium aufgerichtet werden, denn ein Sünder in seiner Not ist genau der richtige Adressat für den Trost des Evangeliums. Wer aber die Nase hoch trägt und in falscher Sicherheit mit Gottes Geboten Scherze treibt, dem ist nicht anders zu helfen als mit einer kräftigen Dosis des Gesetzes. Solang sich einer in seiner Sünde noch relativ wohl und behaglich fühlt, ist ihm keinesfalls Evangelium zu predigen, sondern Gesetz. Ist er aber ehrlich erschrocken auf der Suche nach Trost, ist ihm kein bisschen Gesetz, sondern reines Evangelium zu predigen. Das Ziel muss sein, dass ein Christ beide biblischen Botschaften gleichermaßen kennt und ernst nimmt – und durch das Zusammenspiel beider im Glauben erhalten und gefördert wird. Denn Gesetz und Evangelium sind wie der Plus- und der Minus-Pol, zwischen denen der Strom des Glaubens fließt.

In der Seelsorge ist es weniger schwer, dem gerecht zu werden, weil man jeweils nur einen Menschen vor sich hat und sich auf ihn einstellen kann. Wenn im Gottesdienst aber viele zusammenkommen, von denen einige gerade nur Gesetz, und andere nur Evangelium bräuchten, kann der Prediger dem nur entsprechen, indem er dem Rat C. F. W. Walthers folgend beides sagt und klar ins Verhältnis setzt: „In jeder Predigt müssen beide Lehren vorkommen. Wenn eine von beiden fehlt, so ist die andre falsch. Denn das ist eine falsche Predigt, die nicht alles gibt, was zur Seligkeit gehört.“



UND DIE VERKÜNDIGUNG HEUTE?

Was oben beschrieben wurde, ist jedem evangelischen Theologen geläufig, denn die Reformatoren haben es völlig klar erkannt und dargelegt. Aber – folgt man ihren Einsichten? Leider ist festzustellen, dass die öffentliche Predigt der evangelischen Kirche momentan weit davon entfernt ist, Gesetz und Evangelium in der beschriebenen Weise zu verkündigen. Wohl erinnert man sich der schrecklichen Einseitigkeit des mittelalterlichen Katholizismus, der unter vielen Drohbotschaften die Frohbotschaft fast ganz begraben hatte. Doch ist man inzwischen in den gegenteiligen Fehler verfallen und verschweigt das Gesetz, um damit umso „evangelischer“ zu erscheinen. Es wird auf den Kanzeln zwar zur Genüge moralisiert. Doch Sünde, Gericht und Verdammnis kommen kaum vor. Und es kann nicht verwundern, dass die verbleibende, einseitige und falsche Botschaft (dass Gott vor lauter grenzenloser Liebe allen unbedingt alles vergeben wolle) auf gähnendes Desinteresse stößt. Denn wenn der Arzt die Diagnose verschweigt – warum soll sich der Patient dann für die Behandlung interessieren? Wer sich für gesund hält, wird die bitteren Pillen dankend ablehnen. Und er wird auch nicht verstehen, warum der Arzt ihm Kuren verordnen will, die ein Gesunder gar nicht nötig hat. Solch ein Arzt ist natürlich lächerlich und überflüssig. Doch was schlimmer ist: er wird an seinem Patienten schuldig. Denn der ist ja wirklich todkrank – und ahnt es nicht. Der Arzt, der ihm den Ernst seiner Lage verschweigt, bringt ihn damit um die Chance der Behandlung und Heilung! Und das heißt: wenn Kirche den Menschen nicht ganz klar sagt, dass sie Erlösung nötig haben, ist Kirche schuld, wenn sie verloren gehen. Sie unterschlägt dann die erste Hälfte von Gottes Wort, ohne die die zweite Hälfte nicht verstanden werden kann. Obwohl es ihr aufgetragen ist, warnt sie nicht vor dem Gericht – und verfällt damit selbst dem Gericht. Denn Gott spricht:



„Wenn ich dem Gottlosen sage: Du musst des Todes sterben!, und du warnst ihn nicht und sagst es ihm nicht, um den Gottlosen vor seinem gottlosen Wege zu warnen, damit er am Leben bleibe, – so wird der Gottlose um seiner Sünde willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern. Wenn du aber den Gottlosen warnst und er sich nicht bekehrt von seinem gottlosen Wesen und Wege, so wird er um seiner Sünde willen sterben, aber du hast dein Leben errettet.“ (Hes 3,18-19)
 
Sulzbacher 19.09.2022 14:27
Gesetz und Evangelium - oder umgekehrt?
Luther war der Meinung, in der Theologie sei die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von allergrößter Wichtigkeit. Dass diese Unterscheidung aber auch schwer fällt, zeigt der Streit um die Reihenfolge: Viele evangelische Theologen (vorwiegend der lutherischen Tradition) halten „Gesetz und Evangelium“ für die richtige Abfolge. Für sie besteht zwischen diesen beiden Worten Gottes ein Gegensatz. Und eine andere Gruppe evangelischer Theologen (vorwiegend der calvinistischen Tradition) hält die Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“ für sachgemäßer. Sie sehen auch gar keinen Gegensatz, sondern nur zwei Aspekte ein und desselben göttlichen Wortes. Das klingt zunächst als wäre es ein nebensächlicher Streit. Doch wenn man sich die Argumente beider Seiten anhört, wird klar, dass es um mehr geht.



Jene, die an der Reihenfolge „Gesetz und Evangelium“ festhalten, verweisen auf die innere Logik des Heilsgeschehens. Denn niemand kann den Zuspruch der Vergebung im Evangelium schätzen, wenn er von seiner Schuld nichts weiß. Und niemand kann sich über die Tiefe seiner Schuld klar werden, wenn ihm nicht das Gesetz als der Maßstab vor Augen steht, an dem er scheitert. Niemand sucht Rettung, wenn er sich in Sicherheit wähnt. Niemand ersehnt die Lösung, wenn er das Problem nicht kennt. Niemand kann ermessen, was Christus für ihn tut, wenn er nicht ahnt, was ihm ohne seine Hilfe blühen würde. Darum gehen die Erkenntnis des Gesetzes und des Zornes Gottes der Erkenntnis Christi und des Evangeliums voraus, wie auch Buße und Reue der Vergebung vorausgehen. Das Evangelium ist die befreiende Antwort auf die Not eines Sünders. Wer aber nach Gnade gar nicht fragt, weil er sich „unschuldig“ fühlt – was kann dem eine gnädige Antwort bedeuten? Wie soll er die Liebe Gottes ermessen, wenn er den Abgrund seiner Schuld nicht kennt? Darum muss das Gesetz dem Evangelium vorausgehen. Und diese Reihenfolge kann nicht umgekehrt werden, weil Christus schließlich „des Gesetzes Ende ist“. Wollte man einem Menschen, der im Evangelium sein Heil ergriffen hat, hinterher wieder mit dem Gesetz drohen, würde man die zugesprochene Gnade nur verdunkeln und dem befreiten Gewissen neue Fesseln anlegen. Wer die Rechtfertigung „allein aus Gnade“ verkündet, und anschließend wieder das Gesetz einschärft, weckt nur Zweifel, ob zum Heil nachträglich doch noch verdienstvolle Werke nötig sind. Die Umkehrung der Reihenfolge stiftet also gerade da Verwirrung, wo es auf größte Klarheit ankommt!



Was antwortet die (nicht weniger evangelische) Gegenpartei? Sie verweist darauf, dass die Orientierung am Willen Gottes mit dem Zuspruch der Gnade nicht endet, sondern an diesem Punkt erst richtig beginnt. Denn nur wer die Liebe Gottes empfangen hat, kann anfangen, sie an seine Mitmenschen weiterzugeben. Und ist er durch Gottes Vergebung der Sorge um sich selbst enthoben, kann er umso besser für den Nächsten da sein. Gerade aus dem Zuspruch erwächst der Anspruch, aus dem Indikativ der Imperativ, und aus der Versöhnung mit dem Heiligen der Wunsch nach persönlicher Heiligung. Leben wir im Geist, sollen wir auch im Geiste wandeln! Sind wir aus Gnade angenommen als Kinder des himmlischen Vaters, sollen wir uns nicht etwa weniger, sondern nur umso mehr an seinem Willen und Gebot ausrichten. Darum erwächst aus dem Evangelium (und nur aus ihm!) der neue Gehorsam, der vor der Wiedergeburt aus Gottes heiligem Geist gar nicht möglich war. Mit der Gabe der Gnade empfangen Christen die Aufgabe, fortan ein gottgefälliges Leben zu führen und die erfahrene Barmherzigkeit an andere weiterzugeben. Und wie könnte man dem besser Ausdruck verleihen als durch die Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“? Ein Gegensatz zwischen den beiden Aspekten des einen Wortes Gottes besteht aber so wenig, dass man nur von zwei Seiten derselben Sache reden kann!



Auch das klingt überzeugend. Und wer hat nun Recht? Welche Reihenfolge ist richtig? „Gesetz und Evangelium“ oder „Evangelium und Gesetz“? Steht das Gesetz zum Evangelium in schneidendem Gegensatz, weil das Gesetz uns verdammt, während das Evangelium uns freispricht? Oder bilden beide eine harmonische Einheit, weil das Evangelium uns mit der Liebe beschenkt, die des Gesetzes Erfüllung ist? Es ist kein Wunder, wenn man hier in Verwirrung gerät. Die Lage klärt sich aber, wenn man bemerkt, dass die Einen und die Anderen mit dem Begriff des „Gesetzes“ jeweils unterschiedliche Dinge bezeichnen – oder anders gesagt: Dass das Gesetz ganz verschiedenen Charakter bekommt, je nachdem, ob ich ihm (als Sünder) wütend widerspreche, oder ihm (als Begnadigter) aus freien Stücken zu folgen versuche. Um das zu verdeutlichen, ist es besser, im ersten Fall vom „Gesetz“ und im zweiten von „Gebot“ zu sprechen. Gemeint ist aber nie etwas anderes als ein und derselbe unwandelbare Wille Gottes! Er bleibt sich völlig gleich. Doch in welcher Geisteshaltung ich ihm begegne – das macht einen Unterschied wie Tag und Nacht:



Gebot

( vor dem Sündenfall )

Gottes Gebot ist sein heiliger und guter Wille, der in Ewigkeit unveränderlich gilt und den guten Weg zum Leben weist. Solange zwischen Gott und Mensch alles in Ordnung ist, hat dieses Gebot gar nichts Bedrohliches an sich, sondern es beinhaltet nur den gnädigen Anruf des Schöpfers an sein Geschöpf – nämlich die liebevolle Berufung zu Gottes Ebenbild, die vertrauensvoll empfangen und angenommen werden soll. Ohne den Sündenfall wäre es dabei auch geblieben!



Gesetz

( nach dem Sündenfall )

Sobald sich der Mensch zu seiner Berufung in Widerspruch setzt und sündigt, wird ihm Gottes Wille zum verdammenden „Gesetz“, an dem er scheitert, weil er diesem Maßstab weder genügen will, noch ihn ändern kann. Wo er Gottes Gebote übertritt oder sie zu seiner Selbstrechtfertigung missbraucht, bekommen sie den Charakter einer unerbittlichen Vergeltungsordnung, der er nicht entkommt. Das Gesetz wird dem Sünder zum Stolperstein, zum Ankläger und zur Verderbensmacht, denn es zementiert das verdammende Urteil des Richters, der sagt: „Zahle, was du schuldig bist, sonst ist der Tod dein gerechter Lohn!“



Evangelium

( nach der Erlösung )

Der Sünder befindet sich unter dem Gesetz in einer verzweifelten Lage, bis ihn das Evangelium als die denkbar beste Nachricht erreicht: Jesus Christus ist des Gesetzes Ende! Er durchbricht den Fluch und erfüllt gehorsam Gottes Forderungen, er entnimmt den Sünder dem Verhängnis seiner Schuld und bringt die Drohung des Gerichtes zum Schweigen. Christus befriedet den Konflikt, in dem der Sünder niemals hätte siegen können, und heilt das zerbrochene Vertrauensverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Gottes Wille ist dadurch kein anderer geworden. Nicht das kleinste Gebot wurde aufgelöst! Und doch ist der Weg nun frei für einen neuen, dem ursprünglichen Sinn des Gebotes entsprechenden Gehorsam.



Gebot

( im Stand des Glaubens )

Durch das Evangelium wird das Gesetz als verdammende Macht „abgetan“. Es hört auf eine Last und Drohung zu sein. Doch zugleich wird das Gebot in seiner ursprünglichen, positiven Intention neu in Kraft gesetzt als Gottes gute und lebensdienliche Weisung. Aus dem Zuspruch der Rechtfertigung ergibt sich der Anspruch der Heiligung, der nun in aller Freiheit als Einladung zu einem Leben in der Gotteskindschaft angenommen werden kann. Der Angst und Selbstsorge enthoben wendet sich der Christ fürsorgend seinem Nächsten zu, gibt die empfangene Barmherzigkeit an ihn weiter und erfüllt damit das Gebot Christi auf ungezwungene Weise – nämlich nicht, um von Gott gnädig angenommen zu werden, sondern weil er sich bereits angenommen weiß und gar nicht anders kann, als dem dankbar in gottgefälligem Denken, Reden und Tun Ausdruck zu verleihen.



Hat sich bei alledem der Wille Gottes in seinem Sachgehalt verändert? Nein! Er kann jederzeit an den Zehn Geboten, am Doppelgebot der Liebe oder an der Bergpredigt erläutert werden. Und trotzdem zeigt das Gesetz ganz verschiedene Gesichter, weil es dem Sünder als Todesordnung begegnet und dem Gerecht-fertigten als Lebensregel. Je nachdem steht das Gesetz aber auch zum Evangelium in unterschiedlichem Verhältnis. Und das ist erhellend im Blick auf den oben erwähnten theologischen Streit. Denn in gewissem Sinne haben beide Seiten Recht:




Die lutherische Tradition hat Recht, wenn sie auf der Reihenfolge „Gesetz und Evangelium“ beharrt und zwischen beiden einen harten Gegensatz behauptet, denn genau das entspricht der Situation am Punkt – A –. Die Reihenfolge ist richtig, weil man das tiefe Verhängnis menschlicher Schuld nur durch das Gesetz begreift, und ohne diese Einsicht nicht ermessen kann, was Christus für uns tat. Ein harter Widerspruch ist aber gegeben, weil Gottes Gesetz uns dem Tod überliefert, und Gottes Evangelium uns das Leben schenkt. Obwohl beides Worte Gottes sind, kann Gegensätzlicheres kaum gedacht werden! Die calvinistische Tradition hat aber auch Recht. Denn wenn man die Situation am Punkt – B – zugrunde legt, folgen ja Gebot und neuer Gehorsam aus dem vorausgesetzten Evangelium, so dass hier tatsächlich in umgekehrter Reihenfolge von „Evangelium und Gesetz“ zu reden ist. Hier handelt es sich um das Gesetz Christi, das dem Evangelium in keiner Weise widerspricht, sondern ihm sichtbare Gestalt verleiht. Und insofern ist es sehr verständlich, dass man an Punkt – B – Evangelium und Gebot als Einheit wahrnimmt oder als zwei Seiten derselben Sache.



Freilich: Aus alledem ist mehr Gewinn zu ziehen als nur, dass in jenem Streit vermittelt werden kann. Es erklärt sich auch, warum man in Gesprächen über das Gesetz so leicht aneinander vorbei redet – und warum solche Missverständnisse in Predigt und Seelsorge gefährlich sind. Denn es hängt vom Glaubensstand des Adressaten ab, welcher Teil der christlichen Botschaft ihn jetzt gerade voranbringt. Wer sich in naiver Zufriedenheit und Selbstgerechtigkeit für einen guten Menschen hält, wird mit dem Trost des Evangeliums nur bedingt etwas anfangen können. Er ahnt nicht, wie sehr er Gnade nötig hat. Und ohne Konfrontation mit dem Gesetz kommt er nicht weiter! Doch was würde diese Konfrontation dem Mühseligen und Beladenen nützen, der seines eigenen Abgrunds gewahr ge-worden ist und an sich selbst verzweifelt? Ihm muss man nicht von Gebot und Heiligung reden, denn er weiß, dass er diesen Forderungen nicht genügen kann. Einem geplagten Gewissen ist nichts als Evangelium zu predigen! Steht einer in der Glaubensgewissheit aber derart fest, dass sie in falsche Sicherheit umzuschlagen droht, wird es Zeit, von der guten Rebe auch gute Früchte zu fordern, damit die Gnade nicht folgenlos bleibt.

Seelsorge hat in alledem den Vorteil, dass sie sich stark an der Situation des Gesprächspartners orientieren kann! Doch in der öffentlichen Verkündigung sind natürlich (mit wechselndem Schwerpunkt) alle Aspekte des Wortes Gottes zur Geltung zu bringen. Und da ist gegenwärtig eine erhebliche Schieflage entstanden, weil das Evangelium oft aus dem Zusammenhang mit Gesetz und Gebot herausgelöst wird – und ohne diesen notwendigen Kontext nicht mehr besagen kann, was es im Neuen Testament besagt. Im Neuen Testament gibt es nämlich keine Gnade ohne Gericht, sondern nur Gnade im Gericht. Und es kommen auch nirgends Zweifel auf, dass erfahrene Gnade das Leben komplett verändert. Natürlich muss das dementsprechend gepredigt werden, wenn die Predigt schriftgemäß sein soll. Was aber hört man als Kernsatz so mancher Verkündigung? „Gott findet dich o.k., so wie du bist!“

Das ist nicht etwa eine Kurzfassung des Evangeliums, sondern es ist schlicht falsch. Denn das Evangelium kommt von Gottes verdammendem Urteil her, dessen Berechtigung der Glaube ausdrücklich anerkennt (Gesetz). Und es zielt darauf ab, das Leben des Sünders zu wandeln, das bisher eben gar nicht „o.k.“ ist (Gebot). Ein Evangelium, das nicht von diesem Gesetz herkäme und nicht auf jenes Gebot zuliefe, wäre einerseits die Antwort auf eine Frage, die niemanden bewegt, und andererseits ein Zuspruch, dem kein Anspruch folgt. So oder so wäre es nicht das volle, in sich spannungsreiche Wort Gottes! Und darum genügt es nicht, dem Menschen zuzurufen: „Jesus liebt dich!“. Wenn nichts davor kommt, und nichts dahinter – wenn der Kontext des Gesetzes fehlt –, wird das gut gemeinte Wort schnell zur Banalität, die Gähnen auslöst und trotzdem unverstanden bleibt.

Ich bitte das schlichte Bild zu entschuldigen, aber: Gesetz und Evangelium sind wie die Ruder eines Ruderbootes. Wer immer nur auf einer Seite rudern wollte, würde sich sinnlos im Kreise drehen. Entweder würde ihn die Strenge des Gesetzes verzweifeln lassen, oder die Milde des Evangeliums würde ihn in falscher Sicherheit wiegen. Wer aber beide Ruder benutzt – der kommt voran.
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